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Herr Kümmerlich
Es war ein Freitagmorgen, als der Wecker bei den Kümmerlichs pünktlich um sechs Uhr klingelte. Herr Kümmerlich schlug wie jeden Morgen sogleich die Augen auf und stellte rasch den Wecker aus. Er wollte Frau Kümmerlich nicht wecken, die neben ihm nur kurz gegrummelt und dann weitergeschnarcht hatte.
Er richtete sich im Bett auf, drehte sich zur Seite und ließ seine Beine vom Bett herabbaumeln. Er war ein sehr kleiner Mann, daher berührten seine Füße nicht den Boden. Er wäre gerne ein ordentliches Stück größer gewesen, denn man hatte ihn oft seiner Größe wegen gehänselt.
Er rutschte nach vorne und fand sofort seine Pantoffeln. Herr Kümmerlich hielt sehr viel von Ordnung, und so standen seine Hausschuhe morgens stets an der gleichen Stelle vor seinem Bett, weil er sie jeden Abend genau an dieser Stelle hinterließ.
Seine Pantoffeln waren von der Sorte, die den ganzen Fuß umschlossen, keine dieser lächerlichen Schlappen, die hinten an der Ferse offen waren. Herr Kümmerlich war der Meinung, Schlappen hinderten einen erwachsenen Mann daran, in Würde zur Toilette zu gehen. Dafür waren seine Hausschuhe hellblau und hatten je einen kleinen weißen Bommel vorne.
Heute jedoch hatte Herr Kümmerlich Schwierigkeiten, seine Füße in die Pantoffeln zu stopfen. Er zog und zerrte am hinteren Teil der Hausschuhe, doch vergeblich. Er zog sie wieder aus, um nachzusehen, ob etwas drinsteckte, versuchte es noch einmal und schaffte es schließlich mit Mühe und Not und Keuchen und Knurren, sie über die Füße zu streifen.
Es verdutzte ihn, dass seine Pantoffeln anscheinend über Nacht geschrumpft waren. Vielleicht hat Elfriede sie zu heiß gewaschen, dachte er, als er auf dem Klo saß. Doch nein, das war nicht möglich. Als er sie am Abend zuvor angezogen hatte, hatten sie gepaßt. Er hatte sie erst ausgezogen, als seine Frau schon schlief. Bestimmt war sie nicht nachts aufgestanden, um seine Pantoffeln zu waschen.
Habe ich denn unruhig geschlafen, mich hin- und wieder hergewälzt im Bett und mir beide Füße an der Bettkante gestoßen? Waren sie des Nachts angeschwollen und heute morgen zu dick für meine Hausschuhe? fragte sich Herr Kümmerlich am Waschbecken.
Er zog einen Schuh wieder aus und untersuchte seinen Fuß. Er drückte und knuffte ihn, ob es irgendwo schmerzte, doch er verspürte nichts Ungewöhnliches. Auch sah sein Fuß so aus wie jeden Tag.
Er sah seinen Doppelgänger im Spiegel nachdenklich an. Etwas an ihm kam Herrn Kümmerlich seltsam vor, aber er konnte nicht sagen, was es war. Er sah aus wie immer, mit seiner kleinen, spitzen Nase, dem leicht lächelnden, schmalen Mund, den braunen Augen mit den Lachfältchen - denn Herr Kümmerlich lachte gern - und mit seinem kurzem, grauschwarzem Haar.
Herr Kümmerlich seufzte. Sein Haar befand sich seit einigen Jahren im Kriegszustand. Der Gegner nannte sich "Glatze". Tapfer kämpften seine Haarsoldaten um jeden Millimeter Gelände auf seiner Kopfhaut, doch es sah schlecht aus. Seine Streitkräfte hatten sich schon weit ins Hinterland zurückziehen müssen, seine Stirn gehörte bereits "Glatze". Und nun drohte auch noch Gefahr aus den eigenen Reihen. Einige Haarwurzelverräter desertierten mitten im eigenen Gebiet.
Kämen Herrn Kümmerlichs Haare jemals auf die Idee, sich von seinem Kopf zu lösen und nach oben zu schweben, dann liefe er mit einem silberschwarzen Heiligenschein umher.
Er zog sich im Schlafzimmer leise für den Tag im Büro an. Sein Anzug fühlte sich merkwürdig an, so, als wäre es nicht seiner. In seinen schwarzen, spiegelblank geputzten Schuhen scheuerten die Fersen am Leder, wie es bei neuen Schuhen oft der Fall ist. Herrn Kümmerlichs Schuhe waren jedoch nicht neu.
Herr Kümmerlich frühstückte wie immer ausgiebig, mit drei gebackenen Brötchen, jedes dick mit Butter beschmiert, darauf jeweils mindestens zwei Scheiben Wurst oder Käse; dazu gab es heute Gurken, zwei gekochte Eier, zwei gebratene Eier, eine halbe Paprika und einen Becher Joghurt. Ein großes Glas Orangensaft und eine Tasse Milchkaffee zum Abschluß, und Herr Kümmerlich war satt und zufrieden und bereit für die Arbeit.
Nicht nur Herr Kümmerlich fragte sich manchmal, wie ein so kleiner Mensch so viel verdrücken konnte.
Er verließ leise die Wohnung und war wie jeden Morgen rechtzeitig an der Haltestelle für den Bus zur Arbeit.
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Herrn Kümmerlichs Arbeit bestand darin, Sachen zu finden. Sein Arbeitsplatz befand sich in den Kellerräumen der Stadtverwaltung. Dort lagen all die Akten und Papiere, die weiter oben in den Büros nur noch selten gebraucht wurden, weil sie schon so alt waren.
Manchmal jedoch wurden sie eben doch noch mal benötigt, und dann ging man zu Herrn Kümmerlich und bat ihn, sie zu finden.
Das war kein großes Problem für ihn, denn er war sehr sorgfältig. Lange Reihen von Regalen erstreckten sich in den Räumen hinter seinem Büro. Kleine Aufkleber mit Zahlen klebten daran. In einem Buch schrieb Herr Kümmerlich genau auf, welche Akten sich bei welcher Zahl befanden.
Herr Kümmerlich hatte auch einen Computer. Eigentlich könnte er die Sachen, die er in sein Buch eintrug, auch eintippen. Doch er mochte diesen neumodischen Krimskrams nicht besonders, denn er war nicht mehr jung, und so benutzte er das Gerät nur für seine E-Mail. Seit einiger Zeit schickte man ihm nämlich nur eine Nachricht, wenn eine Akte benötigt wurde. Er suchte sie dann heraus und antwortete per E-Mail, dass er sie gefunden hatte.
Herr Kümmerlich war darüber nicht glücklich, denn die Menschen schienen immer weniger Zeit zu haben. Früher kamen sie zu ihm und warteten, bis er die Akte gefunden hatte, um danach noch ein kleines Schwätzchen zu halten. Heute schickten sie oft nur einen Boten, der sie abholte und gleich wieder verschwand. Herr Kümmerlich war recht einsam geworden an seinem Arbeitsplatz.
Pünktlich um halb vier verließ er sein Büro und fuhr nach Hause. Frau Kümmerlich hatte bereits das Essen fertig und deckte gerade den Tisch.
Heute gab es saftigen Rinderbraten, dazu gekochte Kartoffeln und Leipziger Allerlei. Herr Kümmerlich aß mit großem Genuß und bat anschließend um Nachschlag. Er vertilgte seine zweite Portion und blickte nachdenklich auf seinen traurig leeren Teller, denn er war noch nicht satt.
Frau Kümmerlich war eine stattliche Person, größer und, man muss es zugeben, sehr viel dicker als Herr Kümmerlich. Auch sie hatte sich ein zweitesmal aufgetan. Doch hatte sie nur die Hälfte geschafft und stocherte nun langsam mit der Gabel im Gemüse herum. Traf sie zufällig eine Erbse, führte Frau Kümmerlich sie zum Mund und kaute lange drauf rum.
„Elfriede“, sagte Herr Kümmerlich, „ist noch etwas da?“
Frau Kümmerlich schaute überrascht auf, denn ein solcher Appetit war auch für ihren Gatten außergewöhnlich. Sie tat ihm den Rest auf; er füllte noch einmal Herrn Kümmerlichs Teller.
„Isst du das noch?“, fragte Herr Kümmerlich, nachdem auch seine dritte Portion in seinem Bauch verschwunden war. Sprachlos vor Erstaunen schob Elfriede ihren eigenen, noch halbvollen Teller herüber.
Als auch der letzte Rest gegessen war, lehnte sich Herr Kümmerlich zurück und seufzte zufrieden.
„Anton“, sagte Frau Kümmerlich, denn das war sein Vorname, „hast du ein Loch im Bauch? Ich habe dich noch nie soviel auf einmal essen sehen!“
Herr Kümmerlich wußte darauf keine rechte Antwort, denn natürlich hatte sie Recht.
„Hab heute mittag nichts auf der Arbeit gegessen“, brummelte er, auch wenn das nicht ganz richtig war. Er hatte immerhin seine drei Butterbrote verspeist, die Frau Kümmerlich ihm bereits am Abend zuvor zubereitet und im Kühlschrank bereitgelegt hatte.
Frau Kümmerlich sah ihn nachdenklich an, sagte aber nichts mehr dazu.
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Der nächste Morgen war ein Samstag, und das bedeutete, dass Herr Kümmerlich nicht zur Arbeit musste. Er schlief am Wochenende gerne aus, also bis um sieben Uhr.
Anton richtete sich auf, drehte sich zum Bettrand, seine Beine baumelten herab und berührten den Boden.
Er runzelte die Stirn und schaute eine ganze Weile auf seine Füße. Schließlich zuckte er mit den Schultern, schlüpfte in seine Hausschuhe und stand auf.
Nun, um genau zu sein: er versuchte, in seine Hausschuhe zu schlüpfen, denn so sehr er auch zerrte und zog und knurrte und keuchte, so gelang es ihm doch nicht, sie ganz anzuziehen. Er verzichtete daher darauf, sie ganz über seine Ferse zu ziehen, knickte sie hinten einfach nach unten und trug seine Hausschuhe also wie ein paar Schlappen.
Würdelos schritt er ins Badezimmer.
Im Badezimmerspiegel sah er einen fremden Mann. Es schien sich um Herrn Kümmerlich zu handeln. Doch als er sich früher im Spiegel betrachtet hatte, war stets nur der Kopf , sein Hals und seine Brust bis zu dem obersten Knopf seines Schlafanzugs zu sehen gewesen.
Heute sah er den zweiten Knopf von oben ganz und den dritten zur Hälfte, und er stand nicht auf Zehenspitzen.
Herr Kümmerlich stürmte aus dem Badezimmer ins Wohnzimmer. Er schnappte sich irgendein Buch aus dem Regal und einen Bleistift aus der Schublade. Aufrecht stellte er sich an einen Türrahmen und knallte das Buch auf seinen Kopf. Dort, wo das Buch den Türrahmen berührte, malte er einen kleinen Strich.
Er warf Buch und Stift auf den Wohnzimmertisch. Im Wandschrank in der Diele suchte er hektisch, schob dieses beiseite, tat jenes woanders hin. Er tastete in den hinteren Bereichen blind mit den Händen umher und sorgte so für ein Durcheinander, das Frau Kümmerlich garnicht gefallen würde.
Schließlich wurde er fündig, zog triumphierend das Maßband hervor und eilte zum Türrahmen zurück. Mit zittrigen Händen legte er das Band unten an. Er hielt das Ende mit dem Fuß fest an seiner Stelle und zog das Band hoch bis zum Strich.
Herr Kümmerlich mußte sich setzen. Da kein Stuhl in der Nähe war, ließ er sich einfach auf den Boden sinken.
Kurz darauf sprang er aber wieder auf wie ein Kastenteufel und stürmte ins Schlafzimmer. Frau Kümmerlich schnarchte immer noch leise, denn sie schlief meist bis um neun Uhr.
„Elfriede!“, rief Anton aufgeregt.
„Hmm..“, antwortete Frau Kümmerlich.
„Elfriede, wach auf!“. Herr Kümmerlich schüttelte seine Gattin.
„Hmm.. wasnlos..“, murmelte Elfriede verschlafen.
„Elfriede, wie groß bin ich?“
„Was... warumweckstnmich..“
„Verflixt noch eins, Elfriede, wach doch mal auf!“.
Aber Frau Kümmerlich war schon wieder eingenickt. Herr Kümmerlich schnappte sich seinen Wecker, stellte ihn ein und hielt ihn an Frau Kümmerlichs Ohr.
„HAAH! Was ist?“, rief Frau Kümmerlich, als der Wecker lospiepte.
„Elfriede, hör zu, es ist unglaublich! Wie groß bin ich?“
Frau Kümmerlich richtete sich auf und schaute müde auf ihren Mann, der vor ihr auf dem Bett saß.
„So groß wie immer, warum fragst du? Warum weckst du mich?“ Sie rieb sich die Augen und gähnte herzhaft.
„Sag mir genau, wie groß ich bin, bitte!“
„1,65 m, soviel ich weiß. Anton, was ist denn los?“
„Ha!“, rief Anton triumphierend, und noch einmal: „Ha!“
Elfriede war jetzt wach und schaute ihren Mann beunruhigt an. „Anton, ist alles in Ordnung mit dir?“
„Elfriede, seit heute morgen bin ich 1,75 m groß!“
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Elfriede war natürlich der Meinung, Anton mache sich über sie lustig. Doch er kicherte nicht plötzlich los oder so was. Stattdessen bestand er weiter darauf, gewachsen zu sein, also änderte Elfriede schließlich ihre Meinung.
"Anton, du hast einen Knall", erklärte Elfriede bestimmt. "In deinem Alter wächst man nicht mehr."
"Ich schon!", kreischte Anton aufgeregt. "Komm mal mit und sieh es dir selber an"
Elfriede kam mal mit und schaute sich das selber an.
Anton hatte recht. Kein Zweifel, er war zehn Zentimeter gewachsen.
"Hmm", machte Elfriede. Das machte sie noch öfters an diesem Tag. Sie schaute Anton dabei jedesmal ganz komisch an, so, als wäre er irgendwas Grünes von einem anderen Planeten.
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Elfriede hatte in ihrem Leben immer gerne gekocht. Sie liebte die Gerüche von gedünsteten Zwiebeln, Braten oder Hähnchen, von frischem Gemüse und Salaten. Natürlich aß sie selber sehr gern und viel, aber schmeckte es Anton oder auch Gästen, war sie glücklich.
An diesem Wochenende schmeckte es Anton sehr. So sehr, dass Elfriede sich Sorgen um die Vorräte machte. Anton aß Berge von Broten und Eiern zum Frühstück. Zum Mittagessen bat er vier mal um Nachschlag, jedes Mal ein voller Teller. Bis zum Abendessen dauerte es ihm zu lange, also führte er kurzerhand das Nachmittagsessen ein. Und das Nachtmahl kannte Elfriede bis dahin auch noch nicht.
Am Sonntag morgen war Anton wieder um fünfzehn Zentimeter gewachsen.
Sein Appetit war ungeheuerlich an diesem Tag. Er aß jetzt ununterbrochen irgendetwas. Äpfel, Bananen, Brote, Gurken, Tomaten, nichts war vor ihm sicher.
Sonntag Nacht, als Anton endlich schlief, lag Elfriede im Bett neben ihm und beobachtete ihn genau. Wenn man lange genug den Minutenzeiger einer Uhr anstarrt, dann sieht man, wie er sich bewegt, ganz langsam. Elfriede meinte, Anton wachsen zu sehen.
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"Autsch!", rief Anton am Montagmorgen. Beim Aufstehen war er mit dem Kopf an die Decke geknallt. Er rieb sich den Hinterkopf und schlich gebeugt ins Badezimmer, um sich für die Arbeit zurecht zu machen.
Als er mit krummen Rücken vor dem Spiegel stand, begann er zu ahnen, dass heute ein schwieriger Tag auf ihn wartete. Und er sollte recht behalten.
Es ging los mit seinen Kleidern. Nichts passte mehr, die Hose reichte ihm nur noch bis knapp unter die Knie, das Hemd hatte sich in eine Art T-Shirt verwandelt. Er schaffte es, seine Füße in die Schuhe zu quetschen, aber er musste dabei die Zehen zusammenziehen. Er ging, als ob er ständig ganz dringend aufs Klo müsste.
Anton wäre lieber zu Hause geblieben, aber er war ein sehr pflichtbewusster Mensch. Was wäre, wenn grade heute jemand dringend eine Akte benötigte, und er wäre nicht da? Also schrieb er Elfriede noch schnell einen Zettel, sie möge ihm doch neue Kleider und Schuhe kaufen, mindestens fünf Nummern größer als sonst. Dann schnappte er sich seine Tasche und verließ die Wohnung.
Auf der Treppe nach unten begegnete ihm Frau Bruselkamp. Sie hatte ihre Post in der Hand und befand sich auf dem Weg zurück in ihre Wohnung im dritten Stock. Sie öffnete den Mund, um zu grüßen. Dann sah sie ihn, sagte doch nichts und schloss den Mund wieder.
"Guten Morgen", grüßte Herr Kümmerlich freundlich.
Frau Bruselkamp öffnete wieder den Mund, hatte aber anscheinend vergessen, was man genau tun musste, um zu sprechen. So ging das eine ganze Weile, Mund auf, was nun, Mund zu, achja, so geht’s, Mund auf, wieder vergessen, Mund zu. Sie sah aus wie ein Fisch an Land, der nach Luft schnappt.
Anton nahm ihr das nicht übel. Er verließ das Haus und war froh, endlich genügend Platz nach oben hin zu haben. Er konnte wieder aufrecht gehen. Trotzdem bewegte er sich weiterhin, als mache er sich gleich in die Hose.
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"Elfriede", seufzte Herr Kümmerlich beim Abendessen. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie furchtbar der Tag heute war."
"Ich kann's mir vorstellen, Anton", rief Elfriede aus der Küche. Sie briet grade drei weitere Schnitzel, während im Ofen zwei Hähnchen brutzelten.
"Der Bus war nicht mal das Schlimmste, obwohl ich mich nicht hinsetzen konnte auf die engen Sitze. Die lange Fahrt gebückt im Gang zu stehen mit zu engen Schuhen, das war nicht angenehm. Aber wie die Leute mich anstarrten, im Bus und auch auf der Arbeit - als wäre ich der Yeti oder so was." Anton schnappte sich ein weiteres Stück Rollbraten und verschlang es mit zwei Bissen.
Frau Kümmerlich setzte sich an den Tisch, sagte nichts und sah ihn nur sorgenvoll an.
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Als Anton eine Größe von 2,8 m erreicht hatte, war er schon eine Berühmtheit geworden. Zuerst war es nur ein Reporter einer kleinen Stadtzeitung gewesen, der ihn interviewt hatte. Doch mittlerweile kamen sie von nah und fern, mit Notizbüchern, Mikrophonen und Kameras. Er war auf den Titelseiten großer Zeitungen und Magazine. Im Fernsehen sah man ihn fast jeden Tag. Man nannte ihn nur noch den "Riesen von Unterbergheim".
Irgendwann passte Anton nicht mehr ins Haus hinein. Die Stadtverwaltung stellte ihm eine alte und verlassene Fabrikhalle zur Verfügung. Er betrat die Halle durch ein Tor, das früher einmal für Laster vorgesehen war, die Sachen abholten oder brachten. Er bekam Decken und viele Matratzen zum schlafen. Für sein Essen sorgte die Stadt schon seit Wochen, denn Anton verlangte es nach Mengen, die Elfriede nicht mehr schnell genug kochen konnte.
Anton wuchs weiter, vier Meter, fünf Meter, sechs Meter. Sein Hunger war ungeheuerlich. Täglich fuhren mehrere Laster vor, voller gebratener Hähnchen, ganzer Schweine am Spieß, Kisten voller Gemüse, gekochter Eier und Brote.
Als die Halle zu klein wurde für Anton, zog er nach draußen. Er saß oder lag meistens auf dem Boden, denn man hatte ihn gebeten, möglichst wenig umherzulaufen. Jeder Schritt, den er tat, brachte in den Häusern die Gläser zum Klirren.
Anton war sehr einsam und traurig. Elfriede besuchte ihn täglich hier draußen, aber er konnte nur mit Schwierigkeiten verstehen, was sie sagte, wenn sie kein Megaphon benutzte. Sie wirkte so klein da unten, sogar, wenn er selbst auf dem Boden saß.
Anton wuchs und wuchs und wuchs. Er überragte die höchsten Bäume im Sitzen und wurde immer noch größer. Als sein Kopf die Wolken erreichte, wurde die Luft ziemlich dünn. Das Atmen fiel ihm da oben schwer, also legte er sich die meiste Zeit über hin.
Wie soll das nur enden, jammerte Anton. Erst darf ich nicht mehr laufen, jetzt kann ich nicht mal mehr sitzen. Was ist, wenn ich so groß werde, dass mein Kopf bis in den Weltraum reicht? Wenn ich mit der Hand den Mond ergreifen kann, und Fußball spielen mit dem Mars? Werde ich endlos wachsen und wachsen und wachsen und...
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"HAAAARG!" rief Anton und sprang auf. Es war stockdunkel, er hatte geschlafen und wusste nicht, wo er sich befand. Er sah keine Sterne am Himmel wie sonst.
"Was ist denn, Anton? Was ist los?" Elfriede tastete nach rechts zur Nachttischlampe und schaltete sie ein.
Staunend sah Anton, dass er in seinem Bett lag. Er war kein Riese mehr, im Gegenteil. Er war so groß wie früher, oder besser: So klein wie früher. Elfriede lag neben ihm und sah ihn besorgt an.
"Ich habe geträumt, nur geträumt..", murmelte Anton glücklich.
"Das muss aber ein schlimmer Alptraum gewesen sein", sagte Elfriede.
Anton erzählte ihr die Geschichte, von dem Moment, als ihm seine Pantoffeln das erste Mal nicht mehr passten, bis zum Ende, als er die Wolken von oben sehen konnte.
Elfriede lächelte und zog ihn an sich. "Dummer kleiner Anton, brauchst nicht so hoch hinaus wollen, ich mag dich doch genau so, wie du bist."
Anton lächelte und freute sich, ein kleiner Mann zu sein.