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"Hier können Familien Broccoli essen"

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20.08.2006
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"Hier können Familien Broccoli essen"

„Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleineren Übels oder „Hier können Familien Kaffee kochen“ oder so etwas, vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahin gegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.“
- Kurt Tucholsky -

Ohne zu mäkeln wird die fürsorgliche Ehefrau die Bitte ihres Mannes umsetzen und ihm einen Broccoliauflauf servieren. Broccoli, welches er einst als billiges, fast erbärmliches Gemüse des kleinen Mannes ansah, als Unterschichten-Grünzeug! Nun soll es Einzug in die heimische Küche finden. Ein köstliches Gericht, das proletarische Kreuzblütengewächs mit einem braungebackenen, gutbürgerlichen Käse überzogen. Obwohl es mundete und man sich schnell zum baldigen Wiederzubereiten entschloß, war man sich im familiären Kreise schnell darüber einig geworden, dass mit Broccoli und Käse alleine, es nicht getan sein könne. Kartoffeln! Ja, die bewährte Knolle sollte untergemengt werden.

Steingut neigt nicht zum Wachsen: Nur weil man sich eines zweiten Gemüses unter dem Gratinierten entschied, führte dies, erstens: Nicht zum Kauf einer neuen, geräumigeren Auflaufform und zweitens: Ebenso wenig zu einem Wunder des Anwachsens derselbigen, schon im Haushalt befindlichen.
So nahmen also die Kartoffeln - die man reichlich dazugab - einen Großteil von Broccolis Platz ein, trotz des Umstandes, dass dies grüne Gewächs der Namensgeber war und auch blieb. Kartoffel-Mehrheit hin oder her, im Familienkreise sprach man fortan vom Broccoliauflauf.

Sellerie und Karotten waren die nächsten beiden Zutaten, die dem Broccoli Gesellschaft leisten sollten. Freilich reduzierte sich das Grün im Gesamtbild erneut. Kam die Familie aber überein, man wolle gratiniertes Gemüse, so schrie sie weiterhin: Broccoliauflauf!
Erneut Grünverlust: Paprika, Zucchini und Aubergine fanden Zugang unter die Käsekruste. Andere Zutaten - vornehmlich Hülsenfrüchte - wurden nach einmaliger Verwendung sofort wieder ausgeladen, doch dies Zurücknehmen mehrte den Zuspruch des Broccolis nicht. Und schon bevor man sich entschloß, dem Vegetarischen zu entkommen, indem man Speckscheiben vor dem Käsestreuen auflegte, war der Namensgeber zur Minderheit geworden und an den Rand gedrängt. Der bewährte Name aber blieb, ja, viel schlimmer noch: Kam das Gericht als „Gemüsegratin“ auf den Tisch, so rätselte man, was dies sein möge. Niemand wußte mit dieser Bezeichnung etwas anzufangen, bis das erlösende „Broccoliauflauf“ fiel.

Es kam, wie es kommen mußte: Erneut stand der familiäre Kollektivwunsch nach dem proletarischen, wenn nun auch verfeinerten Gericht. Dumm nur, daß ausgerechnet heute der Broccoli nicht zur Hand war. So also geschah das unglaubliche: Ganz ohne grüne Kreuzblüten wurde geschmaust. Die Abwesenheit wurde nicht einmal bemerkt. Warum aber etwas Bewährtes, etwas daß jeder versteht, anders benennen?

Nun könnte man vom Lauf der Zeit sinnieren, der einstige Helden stürzt oder vergangene Werte und Genüsse verteufelt. Tut man dies, so muß aber auch das Neue – den Platzhalter, das Surrogat - mit in seine Überlegungen einschließen, welches sich anstatt des Vergangenen positioniert: Ein blasser Blumenkohl soll diese Rolle spielen: Broccoli war aus dem Haushalt verbannt. Keiner wußte so recht, warum dies so war, aber der Lauf der Zeit kann nicht immer erklärt werden. Er waltet seines Amtes, ohne Fragen zu beantworten und viel zu oft erkennt man Veränderungen gar nicht aus dem Alltagsblick heraus. So nahm der farblose Doppelgänger fortan die Rolle ein, die anfangs dem einstigen Namensgeber zuteil wurde.

Das jüngste Familienmitglied, um dies trostlose Stück zu einem baldigen Ende zu führen, kannte dies Mahl nur als „Broccoliauflauf“, so wie Eltern es lehrten und Geschwister dies nachäfften. Während sich aber letztere zumindest an etwas Grünes erinnern und mit viel Geistesanstrengung dem Grünen sogar den passenden Namen zuteilen können, bleibt dem Jüngsten dieses Wissen versperrt: Sein Broccoli ist Blumenkohl und sieht er ihn am Verkaufstische, so meint er zu wissen: Dies ist Broccoli, das tragende Ingredienz und Fundament der Gerichts.

Der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands darf man eine vergangene Broccolinatur nachsagen. Das proletarische Grüngewächs, der politische Auswuchs des Arbeiters: All das wurde Stück für Stück entfernt und durch andere Werte und Ideale ersetzt. Diese neuen Zutaten verfälschten den Geschmack der Sozialdemokratie, raubten des Broccolis Eigenheit. Ganz verschwand das einstige Wesen des Sozialen nicht, und mit einiger – wenngleich weniger – Berechtigung, durfte man weiter von einer sozialen und demokratischen Partei sprechen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Broccoli ausging, bis das geschmackstragende, aber schon lange „sterbende“ Gemüse weggelassen wurde.

Aber selbst als die Sozialdemokratie ihr Wesen vollends verlor, konnte man sie als Alternative ansehen, die zwar nicht ernstzunehmen war, aber immerhin keiner politischen Klamaukshow gleichkam. Dann aber entdeckten die führenden Köpfe den Blumenkohl, experimentierten damit und befanden ihn würdig der neuen Ideologie der Partei. Um niemanden zu verwirren, um die jüngeren Genossen scheinbar in eine Ahnengalerie zu hieven, der schon den Urgroßvater angehört, blieb man dabei, weiterhin alles „Broccoli“ zu nennen, so wie es überliefert wurde. Keiner merkt, daß man nun Blumenkohl als Broccoli getarnt untermengt, daß man konservatives Christdemokratentum unter dem Namen der Sozialdemokratie vertritt. Und vertritt einer der Köche nicht bis ins kleinste Detail die Ansichten des Blumenkohl-Konservatismus, so fliegt er glatt aus der Broccoli-Fraktion.

 

Freundschaft Joaquín R. Argote,

um in der Tradition der Spezialdemokraten zu bleiben und herzlich Willkommen in diesem Forum.

Gefällt mir gut Dein Werk, es ist sprachlich wohlfeil, den Wechsel aus der Egoperspektive der Familie auf die Bühne der Politik vollziehst Du mit Konsequenz und ohne Übergang, doch das sehe ich nach, weil die Metapher der Familie und des Broccoli-Auflaufes die eigentliche Botschaft sehr gut verdeutlicht.
Wenngleich es mir in der Wortwahl und Sprache eher satirisch denn philosophisch erscheint, doch in Satire wäre es vielleicht zu unbissig, eigentlich müsste es in die - nicht vorhandene - Rubrik Politik integriert werden. Jedenfalls ist es rund, gut dargestellt, mit Katharsis, so gefäll mir moralische Literatur.

Eine schöne Variante vom alten Kurt, die auch verdeutlicht, wie erschreckend wenig sich verändert, gar verbessert hat. Auf einer Parteiversammlung könnte es eine Brandrede sein, sofern man zu Zeiten der Großen Koalition und des Machtbewusstseins überhaupt noch Aufmerksamkeit oder gar Redezeit dafür erhielte. Und es dadurch den Versuch nur lohnte.

Gelungen !

Grüße,

C. Seltsem, parteibuchlos

 

Hallo Herr Agote

dass mit Broccoli und Käse alleine, es nicht getan sein könne. Kartoffeln! Ja, die bewährte Knolle sollte untergemengt werden.
dass es mit B und K alleine nicht getan sein könne.
Unnötig umständlich.

Steingut neigt nicht zum Wachsen: Nur weil man sich eines zweiten Gemüses unter dem Gratinierten entschied, führte dies, erstens: Nicht zum Kauf einer neuen, geräumigeren Auflaufform und zweitens: Ebenso wenig zu einem Wunder des Anwachsens derselbigen, schon im Haushalt befindlichen.
Ich würde hier nach den : klein weiterschreiben, da es sich ja mehr um einen ganzen Satz haldelt.

Sellerie und Karotten waren die nächsten beiden Zutaten,
ich finde, das beiden kannst du streichen, stört nur.

So also geschah das unglaubliche
Bei so was bin ich mir immer so unsicher, aber meinst du nicht, dass es groß geschrieben wird?

Auch ich begrüße dich in unserem bescheidenen Forum.

Und auch mir sagt deine Geschichte durchaus zu. Du hast eine schöne Metaebene geschaffen, die wohldurchdacht ist. Respekt. Mit Humor garniert, dass es auch eine Satire sein könnte.
Das ausgewählte Zitat, das ich noch nicht einmal kannte, hast du schön in eine Geschichte umgewandelt.
Handlungsmäßig mag man die Protagonisten vermissen, die jedoch durch Gemüse ersetzt sind.
Auch deine Art zu schreiben, hier, gefällt mir sehr gut.

besten Gruß

 

Hallo Joaquin,

könnte man natürlich genau so gut auf die Grünen anwenden. Da würde es mit dem Broccoli auch passen.
Im Grunde ist es diese Wahl, die mich an deiner Geschichte irritiert. Als ehemaliger Gemüsehändler empfinde ich eher den Blumenkohl als das proletarische Gemüsen, den Broccoli als eines, das man eher auf den Tisch brachte, wenn man etwas vorzeigen wollte. Später noch, als der Broccoli auch bei Hinz und Kunz Einzug gehalten hatte, erhielt der Blumenkohl geschraubte blassgrüne Rosetten und wurde zum Romanesko, schon weil es edler klang.
Mir fiel es daher schwer, die bei der Klassenzuordnung des Gemüses zu folgen.
Aber das ist nur ein kleines Manko dieser lesenswerten Geschichte.

Noch zwei Details:

Tut man dies, so muß aber auch das Neue – den Platzhalter, das Surrogat - mit in seine Überlegungen einschließen, welches sich anstatt des Vergangenen positioniert
Leider muss "man" zwischen "muß" und "aber" noch einmal wiederholt werden, es sei denn, du gestaltest den Satz ganz um: Tut man dies, so muß aber auch das Neue – der Platzhalter, das Surrogat - mit in die Überlegungen eingeschlossen werden, welches sich anstatt des Vergangenen positioniert.
Dies ist Broccoli, das tragende Ingredienz und Fundament der Gerichts
Hier vermischt du sprachlich so einiges. ;) Mit "z" am Ende ist Ingredienz weiblich, kann also nicht in einem Pronomen mit dem sächlichen Fundament kombiniert werden. Möglich wäre dies, wenn du Indegriens mit "s" am Ende schreibst. Dann ist das Wort so sächlich wie das Wort Funament.
Das habe ich mir natürlich nicht aus den Fingern gesogen. ;)
In|gre|di|ens das; -, ...ienzien (meist Plural) u. In|gre|di|enz die; -, -en (meist Plural) <lat.; »Hineinkommendes«>: 1. (Pharm., Gastr.) Zutat. 2. Bestandteil (z. B. einer Arznei)
© Duden 5, Das Fremdwörterbuch. 7. Aufl. Mannheim 2001. [CD-ROM].

Lieben Gruß, sim

 

Stilistisch ist die Geschichte sehr gut, die Metaphorik der Sozialdemokratie zum Broccolie erscheint sehr fließend. Das Zitat dazu ist ebenfalls gut gewählt, bzw. die Geschichte gut zum Zitat geschrieben.
Vielleicht solltest du dein Werk mal Herrn Oskar Lafontaine vorlegen? ;)


Gruß,
Abdul

 

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