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Himmel und Äd
"Passt! Natürlich passt er! Kann ja auch nicht anders sein. Also los!"
Eckart drehte den Schlüssel im Schloss, die Tür öffnete sich und er betrat das dunkle Büro.
Wie oft schon hatte er sich gewünscht, der Schlüssel würde eines Morgens nicht mehr passen; sein Namensschild hätten sie abmontiert, nach dem Wochenende oder nach einem längeren Erholungsurlaub. Ohne groß nachzudenken würde er sich umdrehen, um das Bürogebäude zu verlassen. Schnellen Schrittes runter an den Rhein eilen, zu Jupps Büdchen.
"Dunn mer ma ne Kölsch, Jupp" würde er bereits von Weitem rufen, lachend. "Un ne Schabau! Dubbelt!"
Was für eine Befreiung! Ein geschenkter Tag! Später noch einen Teller Himmel un Äd, gegen den aufkommenden Hunger. Dann, auf den Rheinstufen sitzend den Dom betrachten. Paare und Touristen mit Fotoapparaten an den Liebesschlössern der Hohenzollernbrücke. Wärmende Sonne. Gesprengte Ketten. Freiheit! Endlich!
Eckart seufzte, blickte sich um. Die Lichter der Stadt malten ihre Konturen auf die weißen Wände und lichtgrauen Möbel des Büros. Sein Blick glitt über den Schreibtisch. Alles war so an seinem Platz, wie er ihn Freitag verlassen hatte. Im Eingangskörbchen befanden sich einige Papiere. Ungeöffnete Briefe, Unterlagen in Klarsichtfolie. Hauspostumschläge. Freitag hatte er keine Lust mehr gehabt, die Post in seinem Körbchen durchzusehen.
"Mann, mir wird schlecht. Wenn ich diesen ganzen Mist schon sehe! Papiere, Papiere, Papiere! Ich habe heute echt keinen Bock auf den Scheiß!" schrie er.
Er ließ auf den Bürostuhl fallen, der ein wenig nachfederte. Still blieb er einige Sekunden sitzen, starrte vor sich hin. Der Gedanke an die unerledigten Vorgänge lähmte ihn. Er stellte sich vor, er stünde vor einem großen Sandhaufen und versuchte, diesen mit einer breiten Schaufel wegzuschaufeln. Aber je mehr er schaufelte, desto mehr Sand rutschte nach. Aussichtslos! Was würde in diesem Haufen unerledigter Vorgänge auf ihn warten? Nein, lauern! Telefonnotizen über dringend zu erledigende Rückrufe. Angebotsanfragen, die er für Kunden kalkulieren müsste. Wahrscheinlich ohne Aussicht, den Auftrag zu erhalten.
Er hasste dieses Büro. Hasste diese rechteckige Form, die Nüchternheit des Raumes. Nannte es Legebatterie, Arbeitssilo. Angestelltenkäfig.
Je höher er in den vergangenen Jahren gestiegen war, desto mehr war es abwärts gegangen. Die Jahre gingen vorüber und mit ihnen der Elan und das Engagement früherer Zeit. Büro im fünften, zwölften, jetzt siebzehnten Stock! Himmel und Äd! Der morgendliche Blick aus dem Fenster: Warte Dom, bald bin ich größer als du!
Er hatte wieder so einen Arbeitstag vor sich, von dem er sicher war, dass er ihm wahrscheinlich mehr Verdruss als Freude bereiten würde.
"Wird wohl heute wieder wie immer sein. Ich werde hier wieder wie ein Galerensklave arbeiten, merken wird das aber keiner."
Ha! Er lachte höhnisch. Schüttelte den Kopf. Dann überkam ihn wieder eine der Visionen, die ihn in letzter Zeit immer wieder auch tagsüber überfielen.
Er stellte sich vor, er würde in einem leeren, fenster- und türlosen Raum sitzen, auf dem oben ein Trichter angebracht wäre, durch den unentwegt Papiere verschiedenster Größe und Farben fielen. Zuerst langsam, dann immer mehr. Wie Schneeflocken würden sie um ihn herumfliegen. Er müsste die Papiere in einen Schlitz in einem Stehpult werfen, an dem er stehen und arbeiten müsste. Doch je schneller er dies täte, desto mehr Blätter würden auf ihn fallen, die Flut der Blätter drohte ihn unter sich zu begraben. Aussichtslos! Bald schon würden sie seine Hüfte umspülen, dann die Bewegungen seiner Arme einengen, um ihm schlussendlich gänzlich den Atem zu nehmen.
Eckart spürte, wie es in seinen Adern pulsierte. Bewusst atmete er ein paar Mal ruhig ein und aus, versuchte so, sich zu beruhigen.
Er bleib unbeweglich auf seinem Stuhl sitzen. Horchte in den Raum hinein ...
Nichts! Nur das monotone Rauschen der Klimaanlage drang an sein Ohr. Er hatte den Eindruck, als wäre dieses Rauschen zum Grundgeräusch seines Körpers geworden, das auch nicht verschwand, wenn er im Sommer in seinem Garten saß. Nichts außer dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel hören müsste, dieses jedoch vom Rauschen der Klimaanlage überlagert schien.
Kein Schlagen von Bürotüren, keine Schritte auf den langen Gängen der Büroetage, die sich sternförmig um die Aufzüge gruppierten. Heute schien er der Erste zu sein, würde den Kaffee kochen, den Kopierer anschalten müssen.
Oftmals hatte er sich ein neues Leben vorgestellt. Er würde mit einem Hähnchen-Grillwagen über die Dörfer fahren. Halbe Hähnchen und Spießbratenbrötchen verkaufen um am Abend das Gefühl zu geniessen, etwas Produktives geschafft zu haben. Ja, er würde abends seinen Erfolg riechen können! Dann wieder stellte er sich vor, mit Freunden zusammen die alte Dorf-Disco "Capri-Grotte" wieder flott zu machen, um der Landjugend einen Aufenthaltsort wie in den 60er - Jahren bieten zu können. Wände streichen , Bierkästen schleppen, Platten auflegen, den jungen Leuten beim Tanzen zuschauen. Einfach nur Spaß haben!
Eckart schaltete seinen Computer an und begann, den ersten Brief eines langen Arbeitstages zu schreiben. Wie oft war er in letzter Zeit von seinem Vorgesetzten kritisiert worden.
"Sie können virtuos schreiben, das wissen Sie!" hatte sein Chef aufgeregt zu Eckart gesagt, "das ist alte Schule. Aber viel zu viel Literatur."
Gestikulierend hatte er vor Eckarts Schreibtisch gestanden. "Mensch, was wir hier brauchen sind Geschäftsbriefe, Literatur brauchen wir hier nicht! Das hier ist wieder nur Prosa, literarisches Gesülze. Furchtbar!" Dann hatte er die Unterschriftenmappe auf den Tisch geworfen und die Tür hinter sich zugeknallt.
Vielleicht, so hatte Eckart daraufhin aufgewühlt gedacht, könne er aus dieser Not eine Tugend machen und gutgläubigen, alten Menschen in Seniorenheimen von ihm geschriebene, überteuerte Biografien andrehen, die sie mit feuchten Augen ihren Kindern und Enkeln schenken würden, die sie gleichgültig entgegennehmen und zuhause in der Schublade verschwinden ließen.
Langsam schärften sich die Konturen des Zimmers. Er wachte aus seinem Tagtraum auf. Er stand auf, ging auf den Flur.
Der Teppich schluckte das Geräusch seiner schlurfenden Schritte. Rechts und links gingen Stichflure ab, ganz links an der Wand leuchtete das grüne Schild, auf dem ein laufendes Männchen abgebildet war. Notausgang. Wie gerne hätte er seinem Impuls nachgegeben und wäre der Beschilderung gefolgt, immer weiter, bis er das Haus verlassen hätte.
Er blieb stehen. Kurz blinzelte er mit den Augen. Atmete tief ein. "Mir reichts! Die können mich alle mal." Dann lief er los ...
"Jupp, dunn mer ma ne Kölsch!"