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Himmel
Ich erwache. Mein Verstand klärt sich langsam, ich spüre die völlige
Gelassenheit und die ungezwungene Ruhe, die über einem liegt, wenn man
aus seinen Träumen zurück in das reale Leben gleitet. Ich lasse meine Augen
noch geschlossen und meine Sinne unterdrückt, um das Gefühl der
meditationsähnlichen, inneren Isolation auszukosten. Sanft streife ich in
meinen Gedanken, denke an Dieses und Jenes, lasse meine Fantasie
ungezügelt im Rhythmus meines Herzens umher wandern.
Irgendwann komme ich ungezwungen und zufällig auf die Idee, die Lider zu
heben und die Welt um mich herum wahrzunehmen. Das Licht überflutet kurz
meine Augen, lässt mich nichts erkennen. Doch schon einige Sekunden
später hebt sich der helle Schleier und ich sehe den, von einzelnen Wolken
verhangenen Himmel, umrandet von den Blattkronen einiger Bäume. Leichte
Kräuterwürze dringt in meine Nase, geschwächt von der tauverhangenen,
frischen Waldluft, mit der ich langsam meine Lunge fülle. Ich höre leises
Rascheln von Blättern, fühle feuchte Erde an meinem Rücken. Scheinbar
liege ich in einem Wald. Ich richte meinen Oberkörper auf, lasse meinen Blick
über die dicken Baumstämme und die kleinen Büsche wandern, die sich mir
in goldigem Dämmerlicht darbieten. Ich betrachte die Büsche genauer und
sehe kleine unterschiedlich farbigen Beeren, die an den meisten von ihnen
hängen. Die Bäume erstrecken sich so weit in die Höhe, dass man meinen
könnte, sie stehen schon seit Anbeginn der Zeit hier und wachsen jeden Tag
kontinuierlich weiter, dem Himmel entgegen.
Ich stehe auf und sehe mich weiter satt, an dem idyllischen Bild, dass sich
mir darbietet. Einige Spatzen fliegen an mir vorbei, ein Eichhörnchen springt
über mir von einem Ast auf den Nächsten. Ich laufe einige Schritte zu einem
der nahen Büsche, der bräunliche Beeren trägt. Dabei fällt mir auf, dass ich
nur eine weiche, beige Seidenhose trage, die leicht um meinen Unterleib
gebunden ist. Sie fühlt sich völlig schwerelos an und so beachte ich sie nicht
länger. Am Busch angekommen, zupfe ich entschlossen eine von den braunen
Beeren vom Strauch und schiebe sie in meinen Mund. Nachdem ich sie ein paar
Mal durch meine Mundhöhle wandern liess, zerbeisse ich sie. Sie schmeckt leicht
säuerlich, entwickelt einen, mir völlig unbekannten Geschmack in meinem Mund.
Ich weiss nicht wie diese Beeren heissen, doch sie schmecken hervorragend.
Also nehme ich mir noch zwei davon und zerkaue sie genüsslich. Dabei streiche
ich mit meinenFingerkuppen über den Stamm eines nahe stehenden Baumes,
einfach nur,um das Gefühl der Rinde zu spüren. Rau, unregelmässig. Natürlich.
Es istaufregend, darüber zu fahren und die Rillen und Erhebungen zu spüren. Ich
schliesse meine Augen und lasse die Empfindungen auf mich einwirken.
Als ich sie wieder öffne, sehe ich einen kleinen Pfad, der in den Wald hinein
führt. Ohne zu wissen warum, beschreite ich ihn, folge ihm in den Wald
hinein. Meine Zehen graben sich bei jedem Schritt leicht in die feuchte Erde,
meine Finger lasse ich sanft an den Büschen vorbei gleiten. Mit jedem Schritt
fühle ich mich lebendiger, gesünder. Mein Zeitgefühl scheint wie auf Eis
gelegt zu sein, aufgesogen von der Natur, die nur die Sonne als Zeitgeber
akzeptiert. So weiss ich nicht, wie lange ich dem Pfad nun schon folge. Eine
Viertelstunde? Eine Stunde? Zwei Stunden? Ich spürte auf dem ganzen Weg
weder Erschöpfung noch Langeweile, der Wald entzückte mich immer wieder
mit neuen Büschen, anderen Bäumen und kleinen Tieren, die an mir vorbei
huschten, sodass die Zeit verschwamm und völlig bedeutungslos erschien,
angesichts der ruhigen Eleganz, in der das Leben hier von statten ging.
Plötzlich wird der Pfad breiter und mündet wenig später in einer riesigen
Lichtung. In der Mitte dieser liegt ein grosser See, auf dem eine kleine Insel zu
sehen ist. Eine steinerne, leicht gebogene Brücke führt zu ihr. Wiederum
ohne Gedanken, betrete ich die Brücke. Die mittlerweile höher stehende
Sonne scheint mit milder Wärme auf das Wasser, spiegelt sich in den kleinen
Wellen und lässt wunderschöne Schattenspiele auf den Stämmen der nahen
Bäume erscheinen. Durch die Sonneneinstrahlung ist auch der Stein der
Brücke nicht kühl. So schreite ich über sie und erfreue mich der leichten
Wärme, die meine Fusssohlen umgibt. Nach einigen Schritten erreiche ich
auch schon die Insel. Sie wird bedeckt von einer grünen Wiese, die mir bis zu
den Knöchel reicht und leicht kitzelt. Inmitten dieser erstreckt sich eine kleine
Erhebung aus geschliffenem grauen Stein, auf der ich mich nun nieder lasse.
Ich atme einige Male tief durch, blicke um mich und geniesse das Farbenspiel
zwischen dem blauen des Sees und dem grün-bräunlichen des Waldes.
Plötzlich spüre ich die Anwesenheit von jemand anderem. Ich kann das
Gefühl nicht in Worte fassen, doch es scheint plötzlich etwas hier zu sein.
Etwas grosses. Ohne Hast schaue ich um mich und erblicke ein Reh, das
etwa drei Schritte entfernt von mir in der Wiese liegt und mich mit seinen
nussbraunen Augen still mustert. Sein hellbraunes Fell liegt ruhig an seinem
eleganten Körper, seine Ohren stehen leicht von seinem Kopf ab. Langsam
erhebt es sich und schreitet auf mich zu. Als es nur noch einen halben Schritt
entfernt ist, legt es sich vor mir hin.
„Was suchst du hier, Daniel?“, fragt mich eine ruhige, tiefe Stimme, während
mich das Reh weiterhin mustert. „Ich weiss nicht, was ich hier suche. Bin ich
den hier um etwas zu suchen?“, antworte ich dem Reh und streichle ihm
sanft über den Kopf. „Viele Menschen kommen hier her, Daniel. Und jedem
der noch nicht bereit zu sein scheint, erscheine ich anders, und jeden Frage
ich, was er hier sucht, was er sich hier zu finden erhofft.“
„Ich weiß aber nicht was ich hier suche!“
„Dann würde ich vorschlagen, du öffnest das Buch, das du in den Händen
hältst.“
Ich schaue hinunter und tatsächlich liegt ein Buch in meinen Händen. Der
Einband fühlt sich rau an, der braune Farbton, der das dicke Buch umgibt,
sieht frisch aus. Unbenutzt. Ich schaue dem Reh in die Augen, während ich
es öffne. Es mustert mich weiter, als suche es ebenfalls etwas in mir. Auf der
ersten Seite ist ein Mann abgebildet, der ein Baby im Arm hält und in die
Kamera lächelt. Das Funkeln in seinen Augen ist unübersehbar. Er scheint
glücklich zu sein. Auf dem zweiten ist wieder das Baby abgebildet, allerdings
sieht man es fast nicht, hinter der riesigen Geburtstagstorte auf dem eine
einzelne Kerze ragt. Trotzdem erkenne ich die Augen des Kindes. Der gleiche
Farbton wie die Augen des Mannes. Der gleiche Farbton wie der, der meinen
Augen innewohnt.
Während ich langsam durch die nächsten Seiten blättere, wird mir allmählich
klar, wer der Junge ist, dessen Leben vor mir liegt. Erschrocken blättere ich
weiter. Der Junge wird älter und älter, ich blättere immer schneller im Buch,
bis ich plötzlich ein seltsames Foto sehe. Ein Grabstein ist darauf abgebildet.
„Jack Nilson, geliebter Ehemann und Vater“.
Das nächste Bild zeigt den Jungen weinend. Das nächste zeigt ihn
schreiend. Verzweifelnd. Aufgebend. Und darauf folgen viele weitere
schmerzliche Bilder. Dann eine Brücke. Schwarz hängt sie im Bild, düster
und kalt. Danach eine Frau, die an einem Krankenbett kauert, in dem der
Junge liegt. Die restlichen Seiten sind weiss.
„Nun, Daniel, was suchst du hier. Frieden? Erlösung? Das Paradies?“
„All dies denke ich.“
„Doch, willst du wirklich hier bleiben, obwohl du weisst, dass du zurückkehren
könntest, um weiter für die Menschen da zu sein, die dich Lieben?“
„Die Welt ist grau da draussen. Hass und Schmerz prägen sie. Hier ist alles so
schön und friedlich. Ich will hier bleiben!“, entgegne ich dem Reh
entschlossen. Die Stimme seufzt leicht. Das Reh mustert mich immer noch
ruhig, doch erkenne ich nun einen Schimmer von Strenge in seinen Augen.
„Die Welt ist das, was du aus ihr machst, Daniel. Auch hier wäre nichts, wenn
du nichts erschaffen und formen könntest. Denn alles hier, dieser Wald,
dieser See und auch meine Erscheinung, entsprangen gänzlich deiner
Fantasie und nichts hier drin, ausser mir, hast nicht du erschaffen. Tief in dir
weisst du, das es so ist. Und trotz aller Schönheit dieser Welt spürst du, das
sie nichts ist, gegen die Liebe derer, die nun um dich Trauern. Ich gab dir vor
langer Zeit den freien Willen und werde ihn dir auch jetzt nicht rauben.
Entscheide also selbst, was richtig ist.“
Und so richtet sich das Reh auf und läuft langsam über die Brücke in den
Wald hinein. Ich sitze immer noch auf dem Stein, spüre die überwältigende
Schönheit dieses Ortes genau wie vor dem Gespräch mit dem Reh. Und
doch höre ich nun ganz leise ein regelmässiges Piepen und das Schluchzen
einer Frau. Ich weiss nicht, ob diese Geräusche schon vorher existent waren
und ich sie in meinem Rausch einfach nicht gehört habe, oder ob sie erst seit
kurzem begonnen hatten. Es spielt nun sowieso keine Rolle mehr. Ich habe
mich entschieden. Ich atme ein letztes Mal die wunderbar reine Luft in mich
hinein, geniesse noch einmal die Sonnenstrahlen und die sanft kitzelnden
Gräser zu meinen Füssen, danach schliesse ich langsam die Augen und atme
aus.
Als ich sie wieder öffne, wird mir sofort klar, dass ich wieder zurück bin. Nicht
die sterile Luft oder das, nach Medikamenten duftende Bett zeigt mir das,
sondern die feingliedrigen Arme, die sich stürmend um meinen Hals legen.
„Daniel, du lebst!“
„Ja, Mama, ich lebe“, flüstere ich leise, „ich habe den Himmel gesehen
Mama, er ist schöner als du es dir je vorstellen könntest!“