- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Hinter der Stadt
Stalingrad, 22.Dez.1942
Geliebter Alexej,
hinter der Stadt, gar nicht so fern, liege ich wach und denke an dich, wie versprochen. Wahrscheinlich trinkst du gerade heiße Schokolade, wie ich mir vorstellen kann, vielleicht auch mit einem Schuss Rum, weil du so rumzappelst, dass Großvater und Mutter fast wahnsinnig werden. Frag Großvater doch mal, wie es war, als er fort war und ich zu Hause blieb. Sei aber unbesorgt, es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Setz dich vor den brennenden Kamin, auf der roten Eckbank und sieh den dicken Schneeflocken draußen zu. Wie sie sinken und dabei tanzen. Bau einen Schneemann für mich, draußen im Hof. Erzähl Opa und Mutter von deinem Lager im Wald und reib ihnen kräftig Schnee in die Gesichter, bis sie glühen, damit sie wissen, was sie an dir haben. Du kannst ja schon mal ein Schneeballlager anlegen und wenn ich dann wieder komme, feuerst du Salut.
Ich denke viel an dich, hier, hinter der Stadt. Du wirst wohl auch an mich denken, nehme ich an und jede Nacht werden wir von einander träumen. Wenn wir uns im Traum begegnen, ist das, als wären wir gar nicht getrennt. Wir laufen durch den Wald und stapfen durch hohe Schneewehen zu deinem Lager hin. Ich habe mein Gewehr und du deines. Deines ist aus Holz, aber das macht nichts. Ich gebe dir Patronen und wir schießen dicke Schneehühner. Die braten wir am Lagerfeuer. Wir erzählen uns gegenseitig Geschichten. Vielleicht kommen ein paar Feinde vom Nachbarhof, aber die kriegen dann was zu spüren.
Ich bin woanders, aber nur einen Katzensprung von dir entfernt. Hier bist du und ich bin da, dort wo du manchmal einen Blitz siehst. Das sind die lustigen Feuerwerke, von denen ich dir erzählt habe. Natürlich wärst du jetzt auch gerne hier, hinter der Stadt, aber einer muss daheim bleiben und Großvater und Mutter beruhigen. Und das bist du mit deinem Gewehr. Denn wenn einer kommt, durch den Wald vom Berg herab, oder aus dem Tal die Straße hinauf, dann bin es zwar wahrscheinlich ich, aber wenn ich es nicht bin, der da kommt, dann braucht es einen wie dich, einen, der weiß, was man machen muss und wie man schießt.
Jetzt kam gerade jemand ins Lager und hat mich aufgescheucht. Morgen soll ich rausziehen und das Feld säubern. Mit ein paar anderen. Das wird was. Das Feld säubern heißt, dass wir uns dick anziehen müssen. Es ist kalt draußen. Und dir rat ich, schau nicht nach den Blitzen über der Stadt. Jedenfalls nicht, wenn dein Großvater und deine Mutter davon mitbekommen. Sie sorgen sich nur immerzu.
Und wenn dann das Feld gesäubert und alles wieder im Lot ist, komm ich heim. Wir treffen uns auf der großen Schneewiese hinter dem Haus. Wenn wir Großvaters Schlitten kriegen, sausen wir damit den Hang hinunter. Wenn wir ihn nicht haben können, weil er Holz holen ist, dann nehmen wir eben heimlich Mutters Bratpfannen. Die kann ja auch gut einmal darauf verzichten. Wir laufen weit den Berg hinauf, wir zwei, und sehen auf das Tal runter. Unser Haus in der Mitte der Rodelbahn wird ganz klein sein, zwischen den Waldsäumen, mit dünnem Rauch der aufsteigt, weil der Kamin vom Großvater mit Holz gespeist wird. Unten siehst du den gefrorenen Fluss neben der Straße. Vielleicht kehren darauf ja ein paar andere heim, so wie ich, und wir sehen ihnen dabei zu, wie sie auf ihre Höfe ziehen. Vielleicht kriegen wir sogar mit, wie sie heißen, wenn wir mit dem Schlitten ganz runter bis zur Straße fahren und fragen.
Aber erst einmal muss ich gehen. Jemand hat gesagt, ich muss morgen raus, aufräumen. Da kann ich nicht gut mit dir Rodeln gehen. Aber danach. Du kannst ja schon mal die Bahn festfahren und das Loch im Heustober prüfen. Damit wir weich landen, wenn wir zu schnell sind. Und denk dran, ich bin gar nicht so weit fort, nur dort drüben, hinter der Stadt, da wo der Himmel so rot ist.
Dein dich liebender Vater,
Nikolaj