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Honigkuchen

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29.03.2017
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Honigkuchen

Laut ist das Leben,
süss schmeckt es,
rein ist es.

Susi

Am Arsch der Welt, in einem kleinen Dorf namens Hinterrhein, am Fusse des grossen San-Bernardino-Pass, dort wo der Rhein ihren Ursprung hat, wird Susi von ihren Eltern, Huldi und Peter Caveng, in einem Bauernhaus grossgezogen.
Susi könnte man beinahe für ein Schreckgespenst halten, das durch die Bündner Täler wandert. Durchsichtige Haut, Zahnspange und grosse runde Augen, wie die einer Eule. Hinzu kommen noch ihre altmodischen Kleider sowie ihre zurückhaltende Art. Susi ist siebzehn.
Huldi und Peter (Susi nennt sie ‚Vati‘ und ‚Mutti‘) sind Bauern von altem Schlag. Obschon auch sie sich dem Zeitgeist fügen. Etwa indem sie für das Melken der Kühe ein mit Strom betriebenes Gerät verwenden.
Sie kümmern sich gut um Susi. Huldi und Peter ermuntern sie immer wieder dazu auf, Freundinnen mit nach Hause zu bringen, etwa zum Abendbrot oder zu Kaffee & Kuchen. Was sie jedoch nicht dulden, sind Burschen:
„Keine Burschen. Du schleppst keine Burschen in unser Haus Susi, hast du das verstanden?!“
„Ja ich habe verstanden Mutti.“
Beides wundert Susi.
Freundinnen hat Susi keine. Nur einmal, da war ein Mädchen von der Schule bei ihr zu Hause. Sie verbrachten den ganzen Nachmittag im Garten, und lachten was das Zeug hielt. Anschliessend hatten sie gemeinsam zu Abend gegessen. Susi und ihre Freundin waren damals elf.
„Möchtest du noch mehr vom Auflauf, Vreni“, fragte Huldi.
„Nein Danke Frau Caveng. Ich bin satt.“
„Aber Nachtisch magst du noch, ja? Es gibt frische Johannisbeeren und ein wenig Schlagrahm.“
„Oh ja, ich liebe Johannisbeeren.“
„Super. Dann geh doch mit Peter in den Garten, du kannst ihm helfen die Johannisbeeren zu pflücken. Susi hilft mir in der Zwischenzeit beim Abwasch.“
Von diesem Tag an hatten sie jedoch kein Wort mehr miteinander gewechselt. An der Schule war Susi noch einsamer geworden, als sie es ohnehin bereits war. Den Grund dafür kannte sie nicht. Nicht mal eine Vermutung hatte sie, an die sie sich hätte klammern können. Es gab Tage, an denen weinte sie sich in den Schlaf. Sie vermisste ihre Freundin.
Und Burschen interessieren Susi nicht im geringsten. Peter, dessen Nase einer Kartoffel ähnlich sieht, machte schon früh deutlich, wer einmal an der Seite von Susi schlafen wird:
„Eines Tages wirst Du Christoph heiraten, er ist gut für dich, glaub mir mein Kind. Gross und stark ist er, geeignet für allerhand Stallarbeiten.“
Sie fügte sich ihren Eltern, und gehorchte, wie ihr gesagt wurde.
Susi wächst ohne den elektronischen Krimskrams auf. Sie besitzt kein Smartphone und somit kein Netflix, Instagram oder Snapchat. Susi kennt es bloss vom Hören und Sagen. Der Familiencomputer, der im Arbeitszimmer ihrer Eltern steht, ist die einzige Ausnahme. Wenn Susi ihre Mutter dann und wann um Erlaubnis für die Benützung des Computers fragt, weil ja in der Schule alle davon erzählen, beschwichtigt Huldi sie jedoch immer wieder mit dergleichen Aussagen: „Dieses Internet Zeugs ist gefährlich Susi. Das ist nichts für dich.“ Oder „Susi, das Internet Zeugs verdirbt dir den Kopf, lass das.“
Susi liest nicht, schreibt nicht, zeichnet nicht, singt nicht und macht auch keinen Sport. Susi strebt nach nichts, weder in der Schule, noch sonst.
Dafür putzt sie viel, melkt viel, füttert viel, räumt viel auf, sammelt Früchte und bestellt das Ackerland.
Eine der wenigen Dinge, die Susi tun darf, die sie tatsächlich auch gerne tut, ist das Backen. Und sie bäckt oft und viel. Allerdings scheint Huldi nicht sonderlich viel Freude an ihren Backkünsten zu haben:
„Dieser Gebäck-Wahnsinn bringt uns eines Tages noch um Susi!“ Obschon Susi weiss, dass Huldi die Kuchen insgeheim liebt. Peter hingegen mag überhaupt keine Kuchen.
Ihr liebstes Gebäck ist der Honigkuchen. Ein eigen kreiertes Rezept, auf das sie mächtig stolz ist. Peter ist im Besitz eines Bienenhäuschens, von dort stammt auch der Honig im Kuchen.
Die Rezepte bewahrt sie in einem roten Buch auf. Dieses versteckt sie im Regal in ihrem Zimmer, zwischen ‚Die Kuh als Hobbie‘ und ‚Mein geliebter Stall‘ (die Bücher hat sie jeweils zum Geburtstag von ihren Eltern geschenkt bekommen). Verstecken tut sie das rote Buch deshalb, weil dessen Inhalt niemand zu Gesicht bekommen darf. Eigentlich nur eine ganz bestimmte Seite davon. Seite 22.
Über die Jahre hat Susi eine grosse Leidenschaft für das Backen entwickelt. Und schon früh war klar, sie möchte Konditorin werden. „Die Beste Konditorin im ganzen Tal“ wiederholt sie ihren Eltern gegenüber immer wieder. Huldi und Peter jedoch quittierten die Ambitionen ihrer Tochter stets mit einem süffisanten Lachen. Vor allem Peter war gut darin: „HAHAHA! Dass ich nicht lache. Das ist ja, wie wenn ich den Bock zum Gärtner machen möchte. HAHAHAHA!“
Huldi meinte dazu bloss:
„Nichts da, du bleibst Zuhause und hilfst im Stall.“

————

Eines Abends, Susi kann einmal mehr nicht einschlafen, beschliesst sie, nach unten in die Küche zu gehen, um ein Glas Milch zu trinken. Im Gang vor der Küche angekommen, hört sie ihre Eltern streiten. Sie lauscht und erhascht gerade noch, wie sich ihre Eltern über Kredite, das Bauernhaus und Schulden unterhalten:
„Das ist alles Scheisse“ flucht Peter.
„Peter, hör zu, ich weiss, wir haben Mist gebaut, aber hör mir zu. Peter, hörst du mir zu?“
„Jaja, ich höre zu.“
„Wir schicken Susi einfach zum Arbeiten. Soll sie doch Konditorin lernen, dort verdient sie dann etwas Geld. Damit bezahlt sie unsere Schulden, verstehst du? Und als Konditorin arbeitet sie dann sowieso meistens in der Nacht. So kann sie dir am Tag noch ein paar Stunden im Stall helfen. Was meinst du?“
„Gute Idee. Das machen wir so.“
Susi vergisst das Glas Milch, stattdessen kehrt sie in ihr Zimmer zurück, kriecht unter die Decke, lächelt und schläft ein.

Aufbruch

Susi beginnt die Lehre zur Konditorin. Die ersten Monate sind intensiver als all die Jahre davor zusammen. Es sind Tage voller besonderer Momente. Etwa der Moment, als sie erstmals alleine ihren Wohnort verlässt, oder denjenigen, als sie im Lehrbetrieb eine Art Freundin findet. Sie lernt sogar wichtige Entscheidungen treffen, selbstständig, unabhängig, frei von ihren Eltern.
Die aufregendste Gefühlsregung der ersten Monate ist jedoch der Wunsch nach einem Freund. Sie spürt etwas, das sie nicht einmal zu Denken im Stande ist, geschweige denn in Worte fassen kann. Bis anhin hat sie das noch nie gefühlt. Ihr plötzliches Interesse an Burschen kann sie schlicht nicht erklären. Ihr Leben scheint sich allmählich zu verdichten. Und alles geht so schnell. Angestossen wurde dieser Wandel durch die Schulden ihrer Eltern, wobei ihre neue Freundin Lucía den entscheidenderen Anteil an den Veränderungen hat, findet Susi.
Mit Lucía absolviert sie gemeinsam die Lehre als Konditorin. Lucía war erst vor kurzem ins Bündnertal gezogen. Mit ihrer Mutter hatte sie vorher in Zürich gelebt. Nach dem Grund für den Wohnortwechsel traut sich Susi jedoch nicht zu fragen. Sie möchte ihrer neuen Freundin nicht gleich zu Nahe treten. Susi und Lucía verbringen fast jede Pause gemeinsam. In den Pausen schwatzen sie oft über dieses und jenes. Eines Tages erwähnt Susi zum ersten Mal die Sache mit Christoph:
„Ist das dein Ernst? Deine Eltern haben einen Mann für dich ausgesucht? Sind wir im Scheiss Bollywood oder was? Gibt es sowas überhaupt in der Schweiz? Das ist ja krass! Ich hätte längst die Sause gemacht!“
Die Spielchen mit Christoph, damals im Stall, noch immer beschämt darüber, behält Susi allerdings für sich. Davor hat sie noch geglaubt, Christoph könnte wirklich ein guter sein, und das, ohne dass sie je wirklich interessiert an ihm gewesen wäre. Inzwischen ist ihr die Sache mit Christoph aber ohnehin egal. Susi hat jetzt andere Pläne.
In einer weiteren Mittagspause lässt sich Susi mal wieder von Lucías Burschengeschichten berieseln. Unsicher frägt Susi nach dem Foto. Für Susi ist es gefühlt die bereits zwanzigste Frage dieser Art:
„Er sieht so süss aus, ist er das auch wirklich?“
„Ja Susi, wenn ich es sage, das ist er wirklich, glaub mir doch.“
„Kennst du Leute, die sich getroffen haben?“
„Langsam kauf ich dir das wirklich ab, du bist tatsächlich ohne Facebook, Tinder und all dem Zeugs aufgewachsen. Hey! Wir sprechen hier vom Heiligen Internet. Natürlich haben sich schon Leute getroffen, was glaubst denn du, man schreibt nur aus Spass?!“
„Du weisst ja. Ich kenne das alles nicht.“
„Oje.“
„Ja, total oje.“
Ein paar Sekunden schauen sich die beiden wortlos an, dann sagt Lucía:
„Morgen. Morgen nach der Arbeit gehen wir zum Kaffee Kurt, das ist gleich um die Ecke. Ich bereite etwas für dich vor. In Ordnung?“
„Und was sag ich meinen Eltern?“ fragt Susi, ganz so, als müsste sie ihnen etwas schlimmes beichten.
„Sag ihnen einfach, du arbeitest morgen etwas länger.“

————

Am darauf folgenden Tag gehen die beiden jungen Frauen nach der Arbeit zum Kaffee Kurt. Dort erhält Susi zunächst einen Einführungskurs in Sachen elektronische Hilfsmittel. Susi verhält sich dabei ziemlich unglücklich. Zu ihrem Glück jedoch hat Lucía etwas Geduld.
„Halt halt. Nicht so fest. Du machst meinen Bildschirm noch kaputt. Das ist kein Dingsdums… ah wie heisst dieses Ding schon wieder…“
„Mähdrescher?“
„Nein.“
„Ballenpresse?“
„Nein, auch nicht.“
„Heugabel?“
„Nein. Ach, vergiss es. Jedenfalls darfst du nicht so grob sein mit dem Bildschirm. Ok?“
„Ok.“
Susi kommt es dabei vor, als sässen zwei beste Freundinnen, die sich seit eh und je kennen, gemeinsam in einem Kaffee und Schwatzen über gute alte Zeiten. Aussprechen würde sie es Gegenüber Lucía aber nie, sie schweigt und geniesst. Mindestens Schweigen hat sie ja gelernt, das kann sie gut. Nach knapp einer Stunde sagt Lucía:
„So, jetzt haben wir genug gelernt. Hier, das ist für dich.“
„Was ist das?“ fragt Susi.
„Deine Überraschung.“
„Ich verstehe nicht.“
„Na, das ist dein Profil.“
„Du meinst also, ich soll…“ stottert Susi vor sich hin.
„Ganz richtig, wir suchen dir einen Burschen. Und zwar ein besonders süsser“ sagt Lucía mit einem zwinkern, wobei Susi leicht errötet.
Beim Profil hat Lucía ein wenig geschummelt, sie meint, dies müsse so sein: „Das machen alle, vertrau mir.“
„Glaubst du, jemand schreibt mir?“
„Aber klar doch! Du wirst schon sehen.“

————

Ein paar Tage sind inzwischen vergangen und auf dem Profil von Susi steht noch immer dasselbe: „Keine neue Nachricht.“ Selbst auf Anfragen von Susi reagiert kein Bursche. Lucía schlägt deshalb vor, den Suchradius auszuweiten, so dass auch Burschen aus dem Ausland in Frage kommen.
„Meine Freundin Louise hatte mal mit einem Burschen aus Italien gechattet, der war ziemlich cool, hat sie gemeint. Ein richtiger Mann!“
„Aber ich kann doch kein Italienisch!?“
„Ach, stimmt, ganz vergessen, darf ich vorstellen: Tante Google.“
„Ach so. Ok. Und wer ist Google?“
Lucía atmet langsam und tief ein und aus, dann sagt sie mit einem schmunzeln im Gesicht:
„Das erkläre ich dir morgen, jetzt muss ich los.“

————

Die Jahre waren prägend. Glauben und Hoffen fällt Susi immer wie schwerer. Dennoch betet Susi am Abend zu Gott.
Ein Spruch, den Susi in einer Tageszeitung einmal gelesen hatte, fand sie so gut, dass sie den Spruch auf ein Stück Papier schrieb. Seitdem holt sie dieses Stück Papier jeden Abend, meistens nach dem Gebet, aus ihrem roten Buch hervor und liest ihn mehrmals durch:
Etwas, das passiert ist, kann nicht Rückgängig gemacht werden, die Wurzel des Geschehenen steckt tief. Im besten Fall besteht die Möglichkeit, inmitten von Unkraut, eine Blume gedeihen zu lassen.
Vor allem das mit der Blume gefällt ihr sehr. Einundzwanzig Gebete später, im Kaffee Kurt, spriesst der erste Knospen.
Lucía hält ihr Smartphone so, dass Susi einen perfekten Blick auf den Bildschirm hat:
„Eine neue Nachricht von Pablo“
Lucía schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und lacht sich halb krumm, während Susi mit halb offenem Mund dasitzt und es kaum glauben kann.
„Ha! Was hab ich dir gesagt.“ sagt Lucía.
Susi, immernoch um Fassung ringend, meint bloss: „Er hat sich bestimmt vertippt…“
„Nein nein nein, ganz bestimmt hat sich Pablo nicht vertippt! Warte ab, das ist erst der Anfang.“ Lucía drückt Susi das Smartphone in die Hände und sagt: „Na los, hopp, lies die Nachricht vor.“
Ein eigenes Smartphone kann sich Susi noch nicht leisten, muss sie doch den grössten Teil ihres Lohnes an ihre Eltern abgeben. Das ist Susi jedoch egal. Ohnehin ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie auszieht. Sobald sie einen Mann findet, beichtet sie es ihren Eltern. Wird es etwa Pablo sein, überlegt sie. Plötzlich beginnt Susi an zu träumen. Eine bisschen schnell und überhastig, wie sie am Ende des Gedankenganges feststellen muss.
Susi liest die Nachricht von Lucías Smartphone ab:
„Linda, como estas? Muy linda Fotos. Möchtest Du sich treffen eines Tages?“
Beide kichern. Die übrigen Gäste im Kaffee Kurt schauen schon komisch. Doch Susi und Lucía kümmert dies wenig, beide haben Freude, insbesondere Susi, sie kann ihr Glück kaum fassen. Als Lucía sie spontan umarmt, kommen Susi sogar Freudetränen.

————

2 Monate später.

Zu sehr frühen Stunde und bei absoluter Dunkelheit fährt Susi, wie jedesmal, mit ihrem Occasion Moped zur Arbeit. Das Moped hatten ihre Eltern für sie gekauft. Das mussten sie, denn Busse fahren nicht um diese Uhrzeit. Auch besitzen Huldi und Peter kein Auto. Und mit dem Traktor geht das zu lange, obschon man ein vernünftiges Tempo erreichen kann.
Beim einstempeln um 02:57 Uhr begegnen sich Susi und Lucía, wobei Susi über beide Ohren hinweg, wie ein Honigkuchenpferd strahlt und sagt:
„Kaffe Kurt, heute, nach der Arbeit?“
„Gibt es was neues? Und weshalb strahlst du so?“
„Und ob.“
„Ich höre?“
„Erzähl ich dir nach der Arbeit.“

Mit Susi und Pablo geschieht alles sehr schnell.

Als Lucía die Neuigkeit von Susi erfährt, glaubt sie zunächst, es handle sich um einen April-Scherz im Februar. Doch sie weiss, Susi ist nicht der Typ von solchem Schlag. Lucía reagiert entsprechend:
„Uouu uouu uoooouuu. Das ist jetzt echt kein Spass?“
„Nein.“
Es herrscht Stille im Kaffee Kurt, obschon es gut gefüllt ist. Die Atmosphäre könnte, entsprechend des gerade erzählten, passender kaum sein. Erdrückend ist es. Als ob sich alle Gäste im Lauschmodus befinden und deren eigene Alltagssorgen kurz auf Standby gestellt hätten. Anderen zuschauen, nicht auf sich selbst zeigen, das ist nicht nur bequemer, sondern macht auch noch Spass, und nur deshalb möchten sie für einen Moment Innehalten. Gerade setzt sogar noch Schneeregen ein, eine besonders eklige Sache…
Oder, als sehe man, dass sich ein weisses Kleidungsstück unter den vielen schwarzen befindet und die Waschmaschine auf 90° gestellt ist, auf Start drückt und sogleich wegschaut. Das Übel ist vorprogrammiert. Lediglich der Zeitpunkt ist noch Unklar.
„Wir wollen doch zusammen sein und…“ versucht Susi sich zu erklären, wobei ihr Lucía direkt ins Wort fällt:
„…und dann lernt er Deutsch, sucht Arbeit und sozialisiert sich mit Kuh und Ross, ja? Glücklich und alt, bis ans Ende eurer Tage?“
In ihrer Tonlage schwingt Sorge und Verzweiflung gleichermassen mit.
„Und überhaupt, wer bezahlt das eigentlich? Was soll das Susi?“
„Warum? Wir lieben uns doch.“
„Jajajaja. Und was ist mit deinen Eltern? Wissen die das?“
„Nein.“
Susi legt inzwischen grossen Wert auf die Meinung von Lucía. In der Angelegenheit mit Pablo jedoch hört sie einzig und allein auf ihr Herz. Sie ist überglücklich. Zuhause bäckt sie einen grossen Honigkuchen für ihre Eltern. Obschon nur ihre Mutter davon kostet, ihr Vater mag kein Gebäck.

Es geschieht, sie versprechen sich miteinander, auf ewig.
Susi und Pablo.

————

In einer Turbulenten Zeit ändert sich die Beziehung zu ihren Eltern. Obschon mehr oder weniger alles beim Alten bleibt, hat Susi nun mehr Mut, eine eigene Meinung zu formulieren. Anfangs tut sie sich noch schwer, da sie die Häme ihrer Eltern ertragen muss. Doch mit Lucías Unterstützung kann Susi sich mehr und mehr zur Wehr setzen. Mit der Zeit reagieren ihre Eltern immer wie verblüffter, selbst Susi ist ganz erstaunt ob ihrer eigenen neuen Haltung. Schon bald, nachdem die Heirat beschlossene Sache ist, spitzt sich die Situation während dem Abendbrot zu. Knapp und wohlbesonnen verkündet Susi ihren Abschied:
„Ich heirate einen Ausländer, in 4 Wochen kommt er in die Schweiz. Wir werden dann gemeinsam bei Lucía wohnen. ‚Ufwidergüggsi mitenand‘.“
Huldi und Peter haben nicht den Hauch einer Chance, um auf diesen Hammer zu reagieren. Nicht mal 100 Sekunden vergehen zwischen ‚ufwidergüggsi‘ und dem Betreten der Strasse. Dabei vergisst Susi beinahe ihr rotes Buch. Das hätte womöglich - wahrscheinlich sogar - fatale Konsequenzen nach sich gezogen. Ja, ihr rotes Buch, Seite 22, das gehört einzig und alleine ihr.
Das Lohnkonto hat Lucía für Susi kurzerhand angepasst. Der Lohn geht fortan auf ein Konto, worauf Susis Eltern keinen Zugriff mehr haben. Somit kann Susi über den gesamten Lohn verfügen und entsprechend die Miete bei Lucía bezahlen.
Auf der Busfahrt schaut Susi nochmals auf jenes Dorf zurück, wo sie aufgewachsen ist, oft hart geschufftet hat, und die meiste Zeit unglücklich war. Dabei fragt sie sich, weshalb ihre Eltern so locker mit dem gerade Gesagten umgegangen sind. Heirat. Auszug. Ihr einziges Kind zieht aus und heiratet einen Ausländer. Und was ist mit Christoph? Und was geschieht mit dem Bauernhaus und den Schulden? Ihr scheint, die Reaktion war unpassend. Als hätten sie damit gerechnet. Vielleicht ist es aber auch die neue Susi, die jetzt einfach stärker geworden ist und sich durchzusetzen weiss. Ja das könnte es sein. Nein, das muss es sogar sein, denkt sie sich. Mit gefaltenen Händen und geschlossenen Augen sagt Susi:
„Danke Lucía, danke lieber Gott.“
Susi bemerkt im selben Moment, wie der Busfahrer via Rückspiegel, seinen Blick auf die Strasse und in ihre Augen mehrmals wechselt, dann das Kreuzzeichen macht und ein leises ‚Vater Unser‘ ausspricht.
Mit zwei lachenden Augen kehrt sie ihrem alten Leben endgültig den Rücken.

————

Die Kommunikation, damals via Tante Google, war merklich bequemer. Dies wird Susi bereits am ersten Tag, während der Fahrt vom Flughafen Zürich zurück zu Lucías Wohnung, bewusst. Mehr als ein paar wenige Worte in Deutsch tauschen Susi und Pablo nicht. Dafür unterhalten sich Lucía, Consuela und Pablo umso intensiver, was Susi sehr freut. Wie eine grosse und glückliche Familie denkt sich Susi. Welch ein wunderbarer Start. Sie und ihr Geliebter, auf ewig.
Susi und Pablo ziehen nicht etwa bei Lucía ein, sondern bei der alleinerziehenden Mutter von Lucía. Sie heisst Consuela und arbeitet nachts hinter der Theke. Dort schenkt sie ihren Gästen Bier und andere Spirituosen aus. Susi findet das aufregend. Sie würde lieber die Gäste, anstatt die Kühe melken, denkt sie sich. Susi und Consuela haben also zweierlei gemein. Nachtarbeit und Melken.
Im Gästezimmer können Susi und Pablo es sich bequem machen, hat Consuela gemeint. Eine Flagge mit rot-blau-weisser Farbe überstrahlt das gesamte Gästezimmer, so dass es niemand übersehen kann. Auch die vielen Kruzifixe fielen Susi sofort auf, als sie zum ersten Mal die Wohnung betreten hatte. Im Esszimmer zeigt sich das selbe Bild, ebenso im Wohnzimmer. Überall diese Flaggen und Kruzifixe. Wie bessesene, denkt sich Susi jedesmal. Pablo hat bestimmt Freude, scheint die Wohnung doch recht auf seine Herkunft abgestimmt zu sein. Gleiches gilt für das Essen. Es gibt viel Reis. Sehr viel Reis. Dabei denkt Susi manchmal an ihre Mutter, als sie damals über ihre vielen Kuchen und Torten genörgelt hat: „Dieser Gebäck-Wahnsinn bringt uns eines Tages noch um Susi!“ Susi schmunzelt und ist froh, dass diese Zeiten nun vorbei sind.

Durchbruch

Die Vorbereitung für die Hochzeit bringt viel Arbeit mit sich. Hätte Consuela diesbezüglich nicht ein so gutes Händchen, Susi wäre vermutlich auf verlorenem Posten, so aber ist sichergestellt, dass alles reibungslos verläuft.
Ein Tag vor der offiziellen Trauung sitzen Susi, Pablo, Lucía und Consuela abends gemeinsam auf dem Sofa und schauen TV. Es läuft eine Tele Novela. Da Susi nichts vom Gesagten versteht, blättert sie in einem Prospekt für Migration, das auf dem Tisch vor ihr liegt. Im Schneidersitz auf dem Sofa liest sie etwa eine halbe Stunde darin. Zwei Sätze hallen besonders laut in ihrem Kopf nach:
„…Bei einem Gespräch im Zivilstandsamt wird geschaut, ob eine Scheinehe vorliegt. Die Ehe kann bei einem klaren Missbrauch verweigert werden.“
Sie legt das Prospekt auf die Seite und schaut zu Pablo rüber, der sich gerade mit seinem Smartphone unterhält. Susi hat inzwischen auch eines, es interessiert sie jedoch wenig, da Pablo ja jetzt bei ihr ist, und das reicht ihr. Obschon in den ersten Wochen, nach seiner Ankunft, nicht alles so lief, wie Susi sich das gewünscht hat. Lucía, Consuela und Pablo verstehen sich zwar immernoch ausgezeichnet, doch Susis Wunsch nach etwas mehr Zweisamkeit wird nicht erhöht. Weder in ihren gebeten, noch von Pablo.
Dann kommt ihr eine Idee. Sie flüstert Pablo, der neben ihr auf dem Sofa sitzt, etwas ins Ohr:
„Si, claro mi amor“ antwortet Pablo, ebenfalls flüsternd.
Mit Hühnerhaut überzogen gibt Susi ihm einen Kuss auf die Wange und begibt sich in ihr gemeinsames Zimmer. Dort legt sie sich auf das Bett und träumt von einer glücklichen Zukunft mit Pablo, der am darauf folgenden Tag ihr Ehemann werden sollte.
Noch immer nackt, wartet sie geduldig auf ihren Geliebten, doch auch nach 20 Minuten taucht Pablo nicht auf. Enttäuscht zieht sie ihr Pijama an, nimmt ihr rotes Buch zur Hand und setzt sich aufs Bett. Dann blättert sie ein wenig darin rum, bis sie bei Seite 22 angelangt. In Gedanken hofft sie, dass das, was auf dieser Seite geschrieben steht, nie geschehen muss, dann schläft sie ein.

————

Susi beobachtet den Standesbeamten ganz genau. Sie fragt sich, warum er die Ringe so zaghaft überreicht, die Frage aller Fragen mit einem gewissen Argwohn stellt, oder weshalb er bloss sie die ganze Zeit ansieht. Vielleicht will er ihr etwas sagen, überlegt sie.
Die Trauung wird vollzogen, und Susi ist überglücklich. Nachdem der Vorabend unglücklich für sie verlief, ist es ein unglaublich gutes Gefühl, das sie verspührt, als sie schliesslich die Ringe austauschen und Ja sagen.
Wie geplant deckt Consuela ein Festmahl auf. Eigentlich ist es wie immer, denkt sich Susi, bloss dass von allem etwas mehr als sonst aufgedeckt wird.
An diesem besonderen Tag wird sogar Alkohol ausgeschenkt. Bier und Whiskey. Normalerweise jedoch, gibt es kein Alkohol bei Lucía Zuhause. „Schlechte Erinnerungen“ aus der Kindheit, meinte Lucía einmal. Wegen dem Trinken ist es ein wenig lauter als gewöhnlich, wobei auch sonst nie wirklich Ruhe am Tisch einkehrt. Ihre neue Familie ist sehr redselig. Consuela hat einmal gemeint: „So lange du redest, kann man dir keine dummen Fragen stellen.“ Susi konnte dem nicht widersprechen.
Nach dem Essen möchte Susi kurz alleine sein. Am Tisch sitzend verkündet sie, dass sie kurz spazieren geht. Sie sagt es etwas lauter, so dass sie sich Gehör verschafft. Ein flüchtiger Blick sowie ein knappes nicken von Lucía reichen, und Susi weiss, dass man sie wahrgenommen hat.
Beim hinausgehen blickt Susi noch kurz in die Küche, wo auf dem Tisch ihr Honigkuchen steht. Bis auf ein Stück, ist er weg. Nicht nur ihre Eltern scheinen den Honigkuchen zu mögen, freut sie sich in Gedanken.
Ein Spaziergang tat noch immer gut, denkt sich Susi. Nachdem sie den nahegelegenen Waldrand erreicht, kreisen ihre Gedanken bereits etwas entspannter. Und das ist gerade das, was sie im Moment braucht. Denn es gibt so einiges, das ihr durch den Kopf geht.
Da ist die Zeit mit Lucía, bevor Pablo in die Schweiz kam. Damals war es besser, findet Susi. Sie hatten viel geschwatzt und stets eine lustige Zeit. Ausserdem hat Lucía ihr die Hand gereicht, als sie im Begriff war, eine neue Welt zu betreten. Sie denkt an das ein mal eins der digitalen Welt, das Lucía ihr beigebracht hat. Ohne das sie Pablo nie kennengelernt hätte. Unvergesslich sind auch die nie endenden Stunden im Kaffee Kurt. Ebenso ist sie Lucía für die Hilfe bezüglich ihrer Eltern Dankbar. Und natürlich, zu guter letzt, dass sie und Pablo bei Lucía und ihrer Mutti Unterschlupf erhielten.
Doch jetzt ist alles anders. Susi merkt es, die Zeichen sind deutlich genug. Selbst ein Esel würde es merken, denkt sie sich, und das lässt sie gleich noch etwas trauriger werden. Dennoch will sie es nicht wahrhaben. Lucía hat selten noch Zeit. Und kaum einmal verbringen sie noch gemeinsam die Mittagspause. Susi fragt sich, was sie falsch gemacht hat. Dieses Ohnmachtsgefühl kommt ihr vertraut vor. Von irgendwoher muss sie es kennen. Letztendlich erinnert sie sich auch, woher es kommt. Vor ein paar Jahren, als sie zwölf war, hatte sie ein ähnliches Gefühl. Heute jedoch, ist das Gefühl um ein vielfaches stärker.
Als es einzudunkeln beginnt, kehrt Susi von ihrem Spaziergang zurück, geht dann ohne Umwege und ohne sich zu verabschieden ins Bett. Das Gelächter von ausserhalb ihres Zimmers lässt ihr allerdings keine Ruhe. Obschon der Tag viel Kraft gekostet hat, kann sie nicht einschlafen.
Seit geraumer Zeit verzichtet Susi auf das abendliche Gebet.

————

Susi wacht auf, der Wecker zeigt kurz nach Mitternacht.
Susi wacht auf, der Wecker zeigt fünfundrdreissig nach Mitternacht.
Susi wacht auf, der Wecker zeigt kurz vor eins.
Susi wacht auf, der Wecker zeigt zwanzig nach eins.
Susi wacht auf, der Wecker zeigt zwei.
Susi wacht auf, der Wecker zeigt kurz vor halb drei.
Susi wacht auf, der Wecker zeigt kurz vor drei.
Als Susi zum wiederholten Mal aufwacht, bemerkt sie, dass die zweite Hälfte des Bettes leer ist. Sie steht auf, um nach ihrem Ehemann zu schauen. Die Wohnung ist stockdunkel. Sie traut sich jedoch nicht, das Licht anzuschalten. Stattdessen holt sie ihr Smartphone und betätigt die Taschenlampe Funktion, was sie einige Sekunden kostet. Schritt für Schritt tastet sie sich zum Wohnzimmer, sie leuchtet aufs Sofa, doch dieses ist lediglich von ein paar Kissen besetzt. Susi schwenkt ihr Smartphone weiter zum Esstisch, wo sich haufenweise leere Bierdosen auf dem Tisch verteilen. Ihr Ehemann könnte auf der Toilette sein, vermutet Susi. Doch auch dort befindet er sich nicht.
Susi macht sich Sorgen, beschliesst dennoch, nichts zu unternehmen. Was soll sie auch machen, fragt sie sich, als sie wieder in ihrem Bett liegt. Bestimmt gibt es einen guten Grund dafür. Für alles gibt es einen guten Grund, denkt sie sich, und versucht sich somit zu beruhigen.

————
Der Wecker zeigt inzwischen kurz nach sieben, da kommt Pablo ins Zimmer und legt sich sogleich aufs Bett. Geschlafen hat Susi seit ihrem nächtlichen Rundgang in der Wohnung nicht mehr. Die restliche Nacht hat sie gemutmasst, wo Pablo sich herumtreiben könnte.
„Wo bist du so lange gewesen“ fragt Susi, ihm den Rücken zugewandt.
Nach ein paar Sekunden sagt er: „Ich bin gewesen Schlafen auf die Sofa mi amor.“

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Wilde Gedanken rauben Susi weitere Nächte. Sie schläft kaum noch. Ihr Gemütszustand verschlechtert sich von Tag zu Tag. Auf der Arbeit erscheint sie zwar, doch erbringt sie nicht das, was von ihr gefordert wird. Selbst ihr Lehrlingsbetreuer bekundet Unzufriedenheit:
„Susi, du bist ein liebes Mädchen, aber seit ein paar Wochen wirkst du abwesend. Du bringst zurzeit einfach nicht die Leistung, die wir von dir erwarten. Das muss sich bessern. Der Chef hat bereits Konsequenzen angedroht.“
Nicht auch die Arbeit, denkt sich Susi in der Umkleidekabine. Mit beiden Händen im Gesicht sitzt sie dort und ist kurz davor, zu kollabieren. Susi scheint noch nicht genug Demütigung in ihrem Leben erfahren zu haben. Negatives zieht negatives an, heisst es. Dieser Regel folgend schlägt exakt 5 Wochen nach der Trauung, ein weiterer Hammer auf ihren Kopf ein. Der Hammer wiegt schwerer als alles bisherige zusammen. Der Hammer schlägt nur deshalb auf sie ein, weil ihr Lehrmeister sie heute ein wenig früher nach Hause gehen lässt.
Als sie zu Hause ankommt, geht sie in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken. Im Augenwinkel sieht sie etwas aufleuchten. Es ist das Smartphone von Consuela. Kurzerhand schnappt sich Susi das Gerät und kann nicht fassen, was auf dem Bildschirm geschrieben steht:

Peter C. ruft an

Susi versucht den Wunsch, das Telefon abzunehmen, zu unterdrücken. Doch es gelingt ihr nicht. Nach ein paar Sekunden schliesslich nimmt sie den Anruf entgegen, doch dann ist es bereits zu spät. Ihr Vater hat aufgehängt. Noch bevor Susi irgendwelche Gedanken formen kann, erscheint eine Nachricht auf dem Bildschirm. Es ist eine Sprachnachricht. Gebannt hört sie die Nachricht ab:
„Consuela, ich wiederhole mich nicht nochmals. Wenn du uns weiterhin ignorierst und wir das Geld bis nächste Woche nicht erhalten, dann werde ich… ich werde dann durchgreifen…und…Susi…“
Susi kann nicht weiter zuhören, das Gesagte ist zu intensiv. Wie kann es sein, dass ihr Vater Kontakt zu Consuela hat, fragt sie sich. Was hat er mit durchgreifen gemeint? Ist sie etwa in Gefahr? Bevor Consuela verdacht schöpfen kann, stürmt Susi aus der Küche, direkt in ihr Zimmer.
Wieder einmal liegt Susi auf dem Bett. Und abermals kehren ihre Gedanken zurück zum roten Buch. Seite 22 lässt ihr fortan keine Ruhe mehr. Susi ist in einem Strudel gefangen, aus dem es kein Entkommen gibt. Ein Satz kommt ihr in den Sinn, den sie einmal aufgeschnappt haben muss. Sie findet, dass dieser Satz ganz gut zur jetzigen Situation passt.
„Das Leiden ertragen und weiter Leben, oder das Leiden und somit auch das Leben beenden.“
Das Leiden hat bald ein Ende. In ein paar Tagen wird Susi ihren Geburtstag feiern.

Endspiel

Susi bereitet, wie geplant, alles Notwendige für ihren Geburtstag vor.
Sowohl ihre neue als auch ihre alte Familie lädt Susi zum Fest ein. Es ist ein Leichtes, die neue Familie einzuladen, schlafen sie ja unter demselben Dach. Umso beschwerlicher ist die Sache mit ihren Eltern.
Im nahegelegenen Wald hört sie bei einem Spaziergang nichts als den Wind, ferner das Geräusch des Flusses, und überlegt, wie sie ihre Eltern dazu bringen könnte, an ihrem Geburtstag zu erscheinen. Krampfhaft versucht sie, einen Weg zu finden. Schliesslich kommt Susi auf eine Idee.
Vor dem zu Bett gehen ging Susi oft in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken. Wenn sie vom Gang aus die Stimmen ihrer Eltern hörte, blieb sie oft vor der Tür stehen, und lauschte. Die Gespräche handelten oft vom Gleichen. Sie handelten von der Kirche, dem Stall, dem Bienenhaus, oder den Schulden. Von solchen Gesprächen weiss sie aussedem, dass ihre Eltern nur zu gerne einmal im Lotto gewonnen hätten. Denn sie hatten eben Schulden. Immer schon gehabt. Und mit einem Lottogewinn wären diese auf einen Schlag weg gewesen. Susi ist sich nicht ganz sicher, doch wenn sie sich recht entsinnt, spielten sie jede Woche zwei Mal Lotto. Die Schweiz ist ein Lottoverrücktes Land, das weiss auch Susi. Warum sollte auch sie nicht auf sechs Zahlen wetten. Die Eltern würden es ihr abkaufen, da ist sie sich sicher. Jetzt muss sie die Worte am Telefon nur noch ruhig rüber bringen, denkt sie sich. Keine Sekunde später beschliesst sie jedoch, ihnen einen Brief zu schreiben. Schliesslich kann man sich in einem Brief differenzierter ausdrücken. Ausserdem musste man keine Angst vor der Nervosität haben.
Susi gefällt die Idee. Die Idee gefällt ihr derart gut, dass sich sogar ein schmunzeln über ihr Gesicht legt.
Just in diesem Moment sieht Susi einen Bären am Wegrand stehen. Ihr bevorstehender Geburtstag nimmt ihre Gedanken so stark ein, dass sie beinahe vergisst, wo sie sich befindet. Nämlich im Kanton Graubünden, und zwar im Wald, und nicht etwa Zuhause auf dem Bett. Der Bär scheint Susi jedoch nicht zu bemerken. Doch dann gibt Susi vor Schreck ein seltsames Geräusch von sich. Sofort schaut der Bär zu ihr herüber. Zwischen Susi und dem Bären befindet sich nur Luft. Etwa acht, neun Meter Luft. Susi und der Bär schauen sich reglos an, und verharren für einige Sekunden in derselben Position. Das Sonnenlicht, welches durch die Bäume auf den Waldboden scheint, trifft auch den Bären. Susi erkennt daher gut, wie eine dickflüssige Masse das halbe Gesicht des Bären überdeckt. Erst denkt sie, es könnte sich um Harz von einem der Bäume handeln. Erst auf den zweiten Blick erkennt Susi, was es wirklich ist.
Nachdem sie dies realisert, schwirren bereits schon die ersten Bienen um ihren Kopf. Susi beginnt zu rennen. Einige Bienen pieksen sie dabei, worauf sie jedes mal kurz und laut aufschreit. Susi ist keine besonders schnelle Läuferin, dennoch sprintet sie um ihr Leben. Die Stiche bereiten ihr derartige Schmerzen, dass sie noch während dem Rennen los heulen möchte. Schliesslich lassen die Bienen von ihr ab. Vermutlich ist ihnen in den Sinn gekommen, dass sie gerade etwas besseres zu tun hätten: etwa ihren Bienenstock zu beschützen, das der Bär im Begriff war, zu zerstören. Das hat der Bär ohnehin bereits vollbracht, vermutet Susi beim Rennen.
Völlig erschöpft gelangt sie nach ein paar Minuten zu einer Sitzbank, worauf sie sich setzt und erst mal tief nach Luft schnappt. Hat sie das gerade eben wirklich erlebt, fragt sie sich, und schaut ungläubig in jene Richtung zurück, woher sie gerade gekommen war. Dass es Bären gibt in der Gegend, ist Susi bekannt. Trotzdem hätte sie es als unwahrscheinlich abgetan (hätte man sie denn tatsächlich gefragt), eines Tages einem Bären zu begegnen. Sogar der Zeitpunkt war äusserst spektakulär. Ein Mädchen spaziert durch den Bündner Wald, studiert den Tod, und Schwupps, da steht ein Bär und speisst lecker Honig. Wie verrückt, denkt sich Susi.
Nach einer Weile erscheint ihr eine weitere Idee. Ein wahrer Geistesblitz von Susi. Sozusagen das i-pünktchen für den kommenden Geburtstag. Ein Geschenk des Waldes. Erst scheint ihr die Idee zu makaber, letztlich hält sie aber am Entschluss fest.
Es war ein von Erfolg gekrönter Spaziergang für Susi. Jetzt hat sie nicht nur ihre Eltern im Sack, sondern (Dank dem Bären und den Bienen) auch den Extra Bonus eingeheimst. Das Fest kann beginnen.

————

Die Zutaten für den Honigkuchen kennt Susi aus dem Effeff. Dennoch kommt sie nicht um ihr rotes Buch herum. Weshalb, steht auf Seite 22 geschrieben. Denn diese Rezeptur ist eine spezielle Rezeptur.
Sie besorgt sich die Notwendigen Zutaten.

————

Der Tag der Wahrheit bricht an und Susi fühlt, es wird ein guter Tag. Ein wunderbarer Frühlingsmorgen, stellt sie fest. Die Sonnenstrahlen brechen die löchrigen Gardinen und die Vögel zwitschern was das Zeug hält.
Der Tisch ist angerichtet und der Honigkuchen gerade aus dem Ofen genommen worden. Jetzt fehlen nur noch ihre Eltern. Pablo, Lucía und Consuela hingegen sitzen bereits auf der Couch. Bereit, jederzeit zum Esstisch rüber zu gehen. Susi bemerkt, dass die Innenseite ihrer Hände leicht feucht sind, ebenso bemerkt sie, dass sie seit ein paar Minuten in der Küche herumtigert.
Die Türglocke klingelt. Das müssen ihre Eltern sein.
„Hallo Vati. Hallo Mutti.“
„Hallo Kleines“ gibt Peter zurück. Huldi sagt nichts.
„Kommt rein, das Essen ist bereit.“
Ihre Eltern begrüssen den Rest der Truppe, danach setzen sich alle umgehend an den Tisch. Davor überreicht Peter ihr noch ein Geschenk. „Nur etwas Kleines“ meint er zum Geschenk. Susi bedankt sich.
Abgesehen von Consuela, die gerade das Essen aus der Küche holt, sitzen nun alle am Tisch. Irgendwie ist hier am Tisch nicht so Sonnenschein wie draussen, denkt sich Susi und merkt, wie ihre Anspannung weiter zunimmt. Um die Runde ein wenig zu lockern, fängt Susi an small-talk zu machen.
„Danke, dass ihr gekommen seid, Vati und Mutti.“
„Schon in Ordnung“ sagt Peter. Huldi schweigt nach wie vor.
„Habt ihr den Weg gut gefunden?“ fragt Susi, den Blick Richtung ihres Vaters gerichtet.
„War nicht schwer, der Bus hält ja gleich um die Ecke.“
Der small-talk geht noch ein, zwei Minuten weiter so.
Es liegt eine seltsame Stimmung in der Luft. Lucía und Pablo sind ungewöhnlich ruhig. Consuela ebenso. Und Huldi ist noch immer still wie ein Mäuschen.
Susi lässt sich aber nicht von ihrer Mission abbringen. Ohnehin ist schon alles vorbereitet. Jetzt gilt es lediglich noch, die Ziellinie zu überqueren. Die letzten hundert Meter zu überstehen. Der letzte Sprint. Der Sprung ins Glück.
Susi wird ganz mulmig von der Vorstellung, dass es bald soweit sein würde. Die Krampfhafte Stimmung am Tisch macht es ihr nicht leichter. Ihr ist es im Grunde genommen jedoch egal. Ohnehin ist bald Schluss mit diesem Zirkus.
Das Essen ist serviert. Consuela hat Reis, Bohnen und irgend eine Art Fleisch, das Susi nicht ausmachen kann, zubereitet. Es scheint allen zu Schmecken. Susi schaut in die Runde. Links neben ihr sitzt Pablo. Was für eine Schande, denkt sie sich bloss. Es ist das einzige, was sie nunmehr über ihren Ehemann denkt. Weiter sitzt Lucía, ebenfalls nicht mehr Wert wie Kuhfladen. Dann Consuela, die ÜberMutti. Die, die für alles sorgt und für alle da ist. Wie tief doch seichtes Gewässer sein kann. Neben ihr gleich die nächste ÜberMutti. Mit dem Unterschied, dass sie sich einen feuchten um das stille Wasser gescheert hat. Huldi hat alles gewusst, und alles gedultet. Eine richtige Sau. Und schliesslich der heuchlerischste Mensch im ganzen Bündner Tal. Was für eine tolle Familie, denkt sich Susi.
Susi weiss, bald ist es soweit. Doch vorher gibt es noch ordentlich Nachspeise. Schliesslich feiert die Familie nicht nur den neunzehnten Geburtstag von Susi, sondern auch ihren Lottogewinn. Ausserdem sitzen zwei Personen am Tisch, die mit Nachspeisen bestens vertraut sind.
„Ich hole rasch den Kuchen in der Küche. Möchte jemand von euch noch Kaffee?“ Alle verneinen. Susi vermutet, dass ihre Familie den Geburtstagsplausch nicht unnötig in die Länge ziehen möchten, und deswegen auf den Kaffee verzichtet. Als Susi dabei ist, aufzustehen, meldet sich Lucía zu Wort:
„Kannst du meinen Kuchen auch gleich bringen? Danke.“
Was soll denn das, fragt sich Susi, bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr muss sofort etwas einfallen, sonst misslingt ihr Plan.
„Ja, klar“ antwortet Susi.
Als sie aus der Küche zurück kommt, stolpert sie und der Kuchen von Lucía fällt ihr aus der Hand. Der Kuchen landet, vor den Augen der Familie, auf dem Fussboden und hinterlässt eine grosse Sauerei. Susi möchte ganz sicher gehen, dass der Kuchen nicht gegessen wird, und landet dann ganz ungewollt, mit dem rechten Bein mitten im Kuchen, was die Sauerei noch vergrössert.
Lucía ist völlig entsetzt. Susi entschuldigt sich daraufhin bei Lucía und ihrer Familie. Dabei wundert sie sich, dass ihre Eltern, vor allem ihr Vater, das Geschehen nicht kommentieren. Früher hatte er stets geflucht, wenn ihr ein solches Missgeschick passiert ist.
Susi ist ganz froh darüber, dass ihr das Stolpern spontan in den Sinn kam. Erleichtert verkündet sie danach, dass es ja noch einen zweiten Kuchen gibt. Susi glaubt, ein Säufzen ihres Vaters vernommen zu haben, als sie den zweiten Kuchen erwähnt.
Susi schneidet den zweiten Kuchen an und verteilt auf jedem Teller ein mittelgrosses Stück. Hoffentlich haben sie noch etwas Platz im Magen frei gelassen, hofft Susi. Denn Consuela kann wirklich gut kochen, das muss sie ihr lassen.
Gespannt wartet Susi darauf, vier leere Teller vor sich liegen zu sehen. Als es dann soweit ist, dabei fällt ihr ein Stein vom Herzen, steht sie auf und sagt, „Ich komme gleich wieder. Gebt mir zehn Minuten. Ich habe eine Überraschung.“
Bevor Susi sich nach Draussen begibt, möchte sie noch nach dem Geschenk ihres Vaters nachsehen, das sie in ihrem Zimmer auf ihr Bett gelegt hat. Als sie es auspackt, schaut sie direkt in das Gesicht einer Kuh. Es ist ein Buch. Ein weiteres Buch über irgendwelche Schweine und Kühe. Traurig schüttelt sie ihren Kopf und legt es zur Seite.
Als Susi am Versteck ankommt, zwängt sie sich in den weissen und übergrossen Anzug. Es gelingt ihr zwar nicht auf Anhieb, doch am Ende schafft sie es. Der Anzug wirkt sehr luftig, so ist es auch vorgesehen. Vorsichtig greift sie dann nach dem Bienenstock.
Ihr kommt die Situation surreal vor. Als ob sie auf einer Weltallmission unterwegs wäre, überlegt sie sich und denkt an den Film, den sie einmal mit Lucía geschaut hat. Irgendetwas mit dem Mars, erinnert sie sich bloss noch.
Es hätte auch anders kommen können. Doch jetzt gilt es, stark zu bleiben. Konzentrier dich Susi, tönt es in ihrem Kopf.
Mit dem Ganzkörperanzug und dem Bienenstock in der Hand, sehr wohl wissend, dass wenn sie es fallen lässt, die Hölle ausbricht, betritt Susi wieder die Wohnung.
„Die Wirkung tritt unmittelbar nach der Einnahme ein“, hat Tante Google gemeint, als Susi Recherche betrieb.
Ihr Vater bleibt als einziger der alten und neuen Familie von ihrem Honigkuchen verschohnt. Das hatte sie bereits vermutet. ‚Diese Extrawurst. Selber Schuld, wenn du meinen Honigkuchen nicht magst. Stattdessen gehst du halt qualvoll vor die Hunde. Du hast es ohnehin am meisten verdient.‘ denkt sie sich, bevor sie ihn anspricht:
„Hallo Vati.“
„Susi… das warst du…“ Peter steht inzwischen und hält sich beide Hände vor den Mund.
„Erstens ist das nicht meine Schuld. Und zweitens bist du jetzt besser still, sonst kriegst du gleich Besuch von deinen Lieblingen. Würde dir das Gefallen?“ Nun schlägt Susi einen Ton an, respektive eine Seite auf, von der sie selbst überrascht ist.
Peter scheint erst auf den zweiten Blick den weissen, übergrossen Anzug an Susi wahrzunehmen. Er mustert sie von oben bis unten und kriegt kein Wort mehr aus seinem Mund heraus. Sein Gesicht strahlt pure Ungläubigkeit aus. Als Frage er sich, wie ausgerechnet seine Tochter ein solches wahnsinniges Spiel treiben könne.
„Susi! Ich bin allergisch gegen Bienen…“ stammelt er plötzlich.
„Ich weiss, und deshalb ist es ja eine besonders gute Idee. Nicht wahr, Vati?“
Für einen Moment herrscht absolute Stille im Wohnzimmer. Peter starrt Susi noch immer ungläubig an. Dann fragt er mit gebrochener Stimme, ganz so, als wüsste er bereits genau, was vor sich geht.
„Wieso tust du das mein Kind?“
„Du Arschloch. Ich hasse dich!“ Nun schreit Susi.
„Bitte verzeihe mir…“
„Sei jetzt endlich still!“ sagt sie, immernoch schreiend, und hält ihm den Bienenstock entgegen.
Als Imker muss Peter wissen, dass er sich keinen Zentimeter bewegen darf. Solange die Bienen nicht angestachelt werden, passiert auch nichts. Doch wehe das Gejagte wird zum Jagenden…
Während dessen schiessen Susi tausend Bilder durch den Kopf. Besonders die Sache mit Christoph nimmt sie ihrem Vater übel. Im Stall damals hatte sie viel gelitten. Und das nicht nur einmal. Schliesslich ist da die Sache mit Consuela, der Zuhälterin. Wie konnte er bloss seine eigene Tochter verkaufen. Susi studiert sich nun richtig in Rage, dabei schaut sie den Bienenstock an, den sie in der Hand hält. Dann schaut sie nochmals rüber zu ihrem Vater, der vor Schock noch immer da steht wie ein kaltgewordener Lauch.
„Es tut mir alles so schrecklich Leid, mein Kind.“ Nun faltet er die Hände, wohl in der Hoffnung, dass es ihm hilft.
„Das Beten hilft dir einen Scheissdreck. Hör auf damit! Warum hast du das getan? Warum, warum, warum, warum, warum?“
Susi ist im Begriff, den Bienenstock hinzuwerfen. Als ihr Vater dies bemerkt, sagt er mit flehender Stimme:
„Halt halt halt… ich bin KRANK. Lass uns reden, mein Kind. Reden hilft immer. Wenn wir reden, dann verstehst du es. Es ist nicht einfach für mich. Bitte, bitte, bitte…“ Bei den letzten Worten beginnt er zu schluchzen.
Susi ist ganz durcheinander. Als ob zwei Gestalten ihren Kopf flankierten. Links das Engelchen und recht das Teufelchen. Hör ihn dir an, hör ihr dir einfach an tönt es von der linken Seite. Lass ihn verrecken, lass ihn endlich verrecken tönt es von der rechten Seite. Sie überlegt, ob sie ihn noch sprechen lassen soll, oder eben nicht. Was meint er mit ‚Ich bin KRANK‘? Gibt es eine solche Krankheit überhaupt? Oder will er Susi bloss reinlegen?
„Was hast du beim Johannisbeeren pflücken getan?“
„Ich bin Krank, krank, krank, krank, krank…“
Es sind die letzten Augenblicke, in denen sie zu Denken im Stande ist. Susi wird Schwarz vor Augen, dann fällt sie zu Boden, und mit ihr auch der Bienenstock. Ihre allerletzte Wahrnehmung ist der Schrei ihres Vaters. Und die der Bienen.


Leise ist der Tod,
süss schmeckt er,
rein ist er.

 

Dies ist meine allererste Geschichte.

In den letzten Monaten ist der Wunsch in mir gereift, eine Geschichte zu schreiben. In den letzten Tagen und Wochen wagte ich mich schliesslich an meine erste Kurzgeschichte. Am Ende hat diese Geschichte rund 7000 Wörter. Inhaltlich, respektive Thematisch ist es allerdings nicht das, was ich mir für weitere Geschichten vorstelle, ganz im Gegenteil sogar. Ich erachte diese Geschichte 'lediglich' als Schreibübung.

Ich danke für allerhand Kritiken.

Liebe Grüsse aus der Schweiz
slei

 

Hallo slei!

Willkommen bei den Wortkriegern!

Ich finde schwer Zugang zu deiner Geschichte. Das liegt daran, dass ich anfange zu lesen, mir aus dem Gelesenen ein Bild mache, und dann beim Weiterlesen erkennen muss, dass ich mir ein falsches Bild gemacht habe.
Dazu Beispiele:

Erstmal kann ich nicht erkennen, wie alt Susi ist. "Susi", samt der knappen Beschreibung (die Zahnspange, die Eltern reden ihr zu, Freundinnen nach Hause einzuladen) klingt nicht sonderlich alt. Dann erfahre ich aber, dass Susi "damals" zwölf war. Wie alt ist sie? Jetzt?

Die Eltern sind "Bauern von altem Schlag". Okay, da habe ich ein Bild. Dann aber ist der Vater Pfarrer? Was denn nun? Bei "Bauern vom alten Schlag" erwarte ich, dass diese ganz und gar in ihrer Hofarbeit aufgehen.

Außerdem lässt mich die ganze Beschreibung (auch dass Susi später einen Burschen heiraten soll, der sicher ein guter Stallarbeiter sein wird) vermuten, dass die Geschichte nicht im Hier und Jetzt spielt. Dann kommt aber Smartphone und Netflix.

"Peter, dem ebenso der Name Zinkenmonster gebührt hätte" => Zinkenmonster habe ich gegoogelt. Null Treffer. Was willst du hier erzählen?

Und das eine Mal, wo du im ersten Absatz Spannung aufbaust (Susi hat ein Mädchen nach Hause eingeladen, danach spricht sie kein Wort mehr mit ihr, auch andere Klassenkameraden machen einen Bogen um sie), löst du diese Spannung nicht auf, was ich sehr frustrieren finde. Was, zum Teufel, ist da passiert? Wie kannst du eine solche Andeutung machen, aber nicht sagen, was da gelaufen ist?

Im nächsten Absatz geht es ums Backen und um ein geheimes Rezept.

Dann um den Vater, den Schulden drücken. Die Tochter soll also arbeiten und die Schulden bezahlen.

Danach verlassen wir das Szenario und es geht mit Susi und Lucia weiter. Tja, und ich finde, das zieht sich alles. Ich denke, du weißt noch nicht so genau, was wirklich wichtig ist für deine Geschichte und was man lieber weglässt, oder wenigestens nicht so ausbreiten sollte.
Was kann ich dir raten? Viel lesen natürlich. Vor allem spannende Geschichten, da man da am besten erkennen kann, wie die Autoren nur das niederschreiben, was wichtig ist, was für die Spannung nötig ist.
Und dann solltest du kürzen. Weggkürzen, was unwichtig ist. (Eventuell dafür andere Szenen, die Spannung aufbauen, oder für den den Charakter deiner Protagonistin wichtig sind, einbauen.)

So viel erstmal für den Anfang.

Grüße,
Chris

 

Hej slei,

das Thema deiner Kurzgeschiche ist sehr interessant und Susis Charakter außerordentlich speziell.
Um ihn einfacher einordnen zu können, hätte mir persönlich mehr Hintergrundwissen gut getan. Ich kenne mich so gar nicht mit den Gepflogenheiten der schweizerischen Bauernkultur aus, also im speziellen jetzt mit Susis Familie. :shy: Die Konstellation und der Umgang untereinander differiert schon ziemlich mit dem das mir vertraut ist.
Darauf baut ja die gesamte Geschichte und Susis Verhalten auf. Ihr Erdulden und Ertragen bis hin zum explosiven und exzentrischen Finale.
Und so wäre es von Vorteil, wenn du vielleicht alles einkürzen würdest, das nicht darauf abzielt und somit ablenkt. Denn Susi und Ihre sehr besondere Geschichte gemeinsam mit deinem Stil zu schreiben, ist sehr lesenswert.

Du kannst ja mal darüber nachdenken. Gerne auch laut und öffentlich. ;)

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hi Chris Stone

Ich danke Dir für die anregenden Gedanken. Ziemlich genau so habe ich mir Kritik vorgestellt ;)

Das Alter habe ich absichtlich nicht erwähnt. Meiner Meinung nach genügt der Hinweis, dass Susi eine Lehre als Konditorin beginnt (vlt ist das Wort 'Lehre' unklar, besser wäre vlt. Berufsbildung - in der Schweiz wird das Wort Lehre als Synonym gebraucht).
Ich habe das Wort 'damals' benutzt, und muss zugeben, dass das ziemlich wage ist. Besser wäre vlt folgender Satz:

"Freundinnen hat Susi keine. Nur einmal, das muss vor vier oder fünf Jahren gewesen sein, da war eine Schulfreundin bei ihr Zuhause. Von diesem Tag an hatten sie jedoch kein Wort mehr miteinander gewechselt."

Trotzdem finde ich - vlt. liegt es daran, dass ich Bücher von Schriftsteller gelesen habe, denen das 'nicht erwähnen des Alters' ziemlich gut gelungen ist - ist das explizite erwähnen des Alters nicht zwingend notwendig.

Betreffend Bauern und Pfarrer. Da stimme ich Dir absolut zu. Das ist sehr ungenau von mir beschrieben. Ich wollte mich wohl des Klischees 'Kirche' bedienen - was mir offensichtlich nicht gelungen ist. Weniger ist mehr kommt mir da gerade in den Sinn.

Die Geschichte war von Anfang an so vorgesehen, dass sie im Hier und Jetzt spielt. Dennoch wollte ich der Familie, mit Susi und ihren Eltern, einen konservativen Anstrich verpassen.

Zinkenmonster - Zinken - auch da, weniger wäre mehr gewesen. Ich wollte wohl übertreiben. Ich habe das Wort nicht 'kontrolliert', ob es so wirklich auch existiert, das ist mir ehrlich gesagt ein wenig peinlich.

Betreffend Spannung: Ich lese viel, aber nicht so viel mit Spannung. Spannung à la Stephen King meine ich damit. Dazu habe ich eine Frage: Meine Absicht war, dadurch weiter an Spannung aufzubauen. Ich hätte zwar auch schreiben können "Susi's neue Freundin möchte nichts mehr mit ihr zu tun haben, denn dass der Vater von Susi Fremde Kinder belästigt, das geht gar nicht". Oder "Susi's neue Freundin wurde von Susi's Vater missbraucht..." usw. Wäre das nicht dumm von mir, wenn ich dies so beschreiben würde? Im Verlauf der Geschichte wird dieser Punkt ja Stück für Stück aufgelöst.
Dein Gedanke dazu würde mich sehr interessieren.

Ich glaube das mit dem Kürzen ist eine Gratwanderung. Und gerade für einen Frischling, wie ich es bin, ist es wohl gar nicht so einfach. Das soll keine Entschuldigung sein. Du hast vermutlich recht, denn Du hast die Geschichte als neutraler Leser erlebt, jedoch fällt es mir schwer, zu beurteilen, welche Stellen 'unnötig' sind, respektive welche Stellen ich besser weglasse.

Nochmals vielen Dank für die Kritik, die ich sehr schätze.

Liebe Grüsse
slei

 

Hi Kanji

Vielen Dank auch Dir für die Kritik.

Es freut mich wirklich sehr, dass die Geschichte mit meinem Stil zu schreiben, lesenswert für dich ist. Betreffend Stil eine Frage: Ist es Sinnvoll, verschiedene Stile zu 'probieren' ? Oder sollte man das mit Vorsicht geniessen? Ich möchte eine zweite Kurzgeschichte verfassen, die sich inhaltlich ganz von der jetzigen unterscheidet. Vermutlich auch stilistisch.

Ehrlich gesagt, kenne ich mich selbst nicht sonderlich gut mit den Gepflogenheiten der schweizerischen Bauernkultur aus. Das merkt man wohl in der Geschichte. Da muss ich wohl genauer sein.

Das Kürzen, das habe ich bereits im vorherigen Kommentar beschrieben, ist wohl schwieriger als man denkt. Zumindest fällt es mir als Frischling schwer. Insbesondere wenn man die Vogelperspektive verliert, weil man als Autor tief in der Geschichte steckt. Gibt es dazu Empfehlungen? Ich habe mal gelesen, die Geschichte, nachdem sie fertig geschrieben wurde, für ein paar Wochen zu verschliessen. Ob das für Kurzgeschichten ebenso gedacht ist?


Liebe Grüsse
slei

 

Hej slei,

Betreffend Stil eine Frage: Ist es Sinnvoll, verschiedene Stile zu 'probieren' ? Oder sollte man das mit Vorsicht geniessen? Ich möchte eine zweite Kurzgeschichte verfassen, die sich inhaltlich ganz von der jetzigen unterscheidet. Vermutlich auch stilistisch.

Ich denke, niemand wird mit einem Stil geboren und um so etwas wie einen eigenen Stil zu entwickeln, ist es unumgänglich nicht nur zu schrieben, sondern viel zu lesen. Gerade hier liest man geballt etliche unterschiedliche Stile und während man diese Geschichten kommentiert, bemerkt man flott, was Stil alles sein kann.

Ehrlich gesagt, kenne ich mich selbst nicht sonderlich gut mit den Gepflogenheiten der schweizerischen Bauernkultur aus. Das merkt man wohl in der Geschichte. Da muss ich wohl genauer sein.

Mir ist aufgefallen, je mehr der Autor weiß wovon er spricht, desto flüssiger liest sich die Geschichte.

Was das Kürzen angeht, bin ich, selbst Frischling, überfragt. Im Grunde kommt das Gefühl dafür benimmt auch immer mehr mit der Zeit und der Übung, mehr beim Lesen als beim Schreiben.

Ich habe mal gelesen, die Geschichte, nachdem sie fertig geschrieben wurde, für ein paar Wochen zu verschliessen. Ob das für Kurzgeschichten ebenso gedacht ist?

Abstand ist immer gut. Wie lange? Probieren. Ist ja nicht schlimm, Geschichten bei den Wortkriegern einzustellen, die verbesserbar sind. Ist ja eine Art Werkstatt.

Deswegen wäre es gut, wenn du deine bestehende Geschichte mithilfe der Kommentare überarbeitest.

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo slei!

Ja, das mit dem Alter erkennt man, wenn Susi die Lehre beginnt, aber das kommt ja erst im dritten Absatz. Man muss also schon über 700 Worte gelesen haben, um das Alter zu erkennen.
Und vor allem zielt meine Frage nach dem Alter ja darauf, dass Susi sich nicht unbedingt verhält, als ob sie schon 16 Jahre oder älter ist. Welche Eltern fordern ein 16-jähriges Mädchen noch auf, Freundinnen nach Hause einzuladen? Welches 16-jährige oder ältere Mädchen wehrt sich nicht mit Händen und Füßen gegen den Namen "Susi"? Wenn du Susi als "ein wenig anders" darstellen willst, ist das ja vollkommen in Ordnung.
Aber es wirkt doch viel stärker, wenn der Leser weiß, dass sie 16 ist, und sieht, dass sie sich benimmt wie ein kleines Kind - als wenn der Leser nur ihr Benehmen sieht und daraus schließt, dass sie noch ein Kind ist, weil sie sich eben wie ein Kind benimmt (und wenn man danach lesen muss, dass man sich geirrt hat mit dem Alter, ist das frustrierend).

Zu diesem Punkt:
Oder "Susi's neue Freundin wurde von Susi's Vater missbraucht..." usw. Wäre das nicht dumm von mir, wenn ich dies so beschreiben würde?
=> Da habe ich zwei Anmerkungen dazu:
(Aber vorher noch ein übrigens: Die Apostrophe bei den Namen gehören da nicht hin. Unbedingt korrigieren, besonders im Text.)

=> Nein, du musst das nicht explizit beschreiben, aber in der momentanen Form ist einfach zu wenig Beschreibung/Drumherum drin. "Susi hat eine Vermutung" schreibst du (warum die Mitschülerin nicht wieder kommt). Aber obwohl du aus Susis Sicht erzählst, lässt du den Leser nicht diese Vermutung erfahren. Baut das Spannung auf? Ich finde nicht; mich ärgern solche Stellen in Texten nur.
(Wenn du hier nicht zu viel verraten willst, hättest du die Möglichkeit, Susi eben nichts ahnen, vermuten zu lassen. Wenn sie völlig ratlos wäre, was denn passiert ist, könnte der Leser ebenso ratlos bleiben.)
Aber dennoch: Wenn man zum Ende scrollt, ist die Szene, die du hier weglässt, ja die Schlüsselszene. Daher muss mehr Speck dran. Diese Szene oder Szenen drumherum müsstest du zeigen, nicht nur mehr als vage andeuten. Zum Beispiel könntest du erzählen, dass die Mädchen Verstecken gespielt haben, Susi ihre Freundin nicht finden konnte, und wie die Freundin später völlig aufgelöst wieder aufgetaucht und dann weggerannt ist.

Die zweite Anmerkung:
Wenn es darum geht, dass Susis Vater die Freundin belästigt/missbraucht hat, dann sind die Reaktionen der anderen nicht glaubhaft.
Du schreibst: "Von diesem Tag an hatten sie jedoch kein Wort mehr miteinander gewechselt. An der Schule macht man seither einen grossen Bogen um Susi."
=> Da alle einen Bogen um Susi machen, muss die Freundin erzählt haben, was passiert ist. Wenn sie aber erzählt hat, was passiert ist, dann kommt entweder die Polizei, oder andere aus dem Dorf, nämlich um den Pfarrer zu lynchen.
(Natürlich könnten die Erwachsenen aus dem Dorf auch mit Unglauben auf die "Geschichte" reagieren, aber all solche Reaktionen sind für Susi sichtbar und sie kann daraus ihre Schlüsse ziehen. Das einfache Weglassen von wichtigen Informationen/Szenen ist beim Geschichtenschreiben keine Option.)

So viel von mir.

Grüße,
Chris

 

Hi Chris Stone

Ich sehe das mit dem Alter und ihrem entsprechend untypischen Verhalten absolut ein.

Wegen der Schlüsselszene sehe ich nun viel besser resp. genauer, was du gemeint hast. Ich werde die Szenen entsprechend abändern. Danke.

Unglaublich, wie etwas so offensichtliches (Missbrauch müsste fast die Runde gemacht haben in der Schule) mir nicht vorher klar war. Auch das stimmt hundertprozentig. Es steht jetzt so sonnenklar vor mir, dass ich es gar nicht glauben kann, dass bei einer kurzen Geschichte - oder überhaupt - so ein grosser Bock geschehen konnte.

Vielen Dank nochmals für die genauen Ausführungen.

Liebe Grüsse
slei

 

Hi zusammen,

ich habe die Geschichte, den Kommentaren entsprechend, angepasst.

Liebe Grüsse
slei

 

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