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Hugos Geschenk
Er saß alleine auf einer Bank, am Rande des Weihnachtsmarktes.
Er war alt, er war krank. Wunde Stellen übersäten seinen Körper, sein Gesicht, seine Hände. Sobald sich Krusten gebildet hatten, kratzte er sie wieder auf. Es juckte, manchmal konnte er es kaum ertragen.
Die Leute machten einen großen Bogen um ihn. Er sah in ihren Augen die Angst, er könnte sie anstecken.
Selbst die Kumpel, die wie er, auf der Straße lebten, mieden ihn.
“Der hat die Krätze, den wollen wir hier nicht haben,” raunten sie sich zu, wenn Hugo ihnen zu nahe kam.
Hugo wusste nicht ob er die Krätze hatte, was immer das auch sein mochte. Hin und wieder bekam er vom Roten Kreuz eine Salbe. Er benutzte sie kaum.
Hugo betrachtete die Fellmäntel, die warm gefütterten Stiefel, getragen von Menschen, denen es gut ging. Manche schlenderten an ihm vorbei, angelockt von den verführerischen Gerüchen des Weihnachtsmarktes.
Andere eilten, bepackt mit Tüten und Paketen, zu ihren Autos.
Die Zeit schien ihnen davon zu laufen. Vorbereitungen mussten noch getroffen werden, denn morgen war Heiligabend.
Hugo versuchte, wie jedes Jahr, sich zu erinnern mit wem er damals, zu besseren Zeiten, Weihnachten gefeiert hatte. Doch es wollte ihm nicht einfallen, so wie er sich an nichts mehr erinnern konnte, was früher einmal gewesen war. Er wusste nicht mal mehr, ob es ihm jemals gut gegangen war.
Doch heute, das ahnte Hugo, heute würde sein Glückstag sein.
Wieder empfand er das angenehme Kribbeln in seinem Körper. Das heftige Pochen in seiner Brust, sein Herz, das sich in freudiger Erwartung zu weiten schien.
“Du wirst etwas finden,” hatte eine Stimme in sein Ohr geflüstert, kurz bevor er heute morgen aufgewacht war. Da durchrieselte das Glücksgefühl ihn zum ersten mal.
Hugos Blick wanderte zum Himmel, der schon den ganzen Tag, gleich einer grauen Decke über der Stadt hing. Noch war kein Schnee gefallen, aber es würde nicht mehr lange dauern, das konnte er riechen.
Gleich werde ich dort hineingehen, Hugo blickte auf das große Kaufhaus, das nur zwei Schritte von ihm entfernt, in voller Beleuchtung erstrahlte.
Vor vielen Jahren hatte er damit begonnen, es war zu einem Ritual, einem Geschenk an sich selber geworden.
Ein wehmütiges Lächeln umspielte seine Lippen.
Willi, dachte er, Willi, mein Freund, das erste mal ohne dich.
Hugo sah ihn vor sich, den kleinen lustigen Mann. Seine Energie, seine Gabe zur Selbstironie und sein nie enden wollender Optimismus war es gewesen, der Hugo immer wieder aus seiner Trübsal gezogen hatte.
Doch Willi musste ihn verlassen. Letztes Weihnachten, als sie in dem Abrisshaus am Stadtpark geschlafen hatten, war er einfach nicht mehr aufgewacht.
Herzinfarkt, diagnostizierte der Arzt.
Hugo litt still. Er fing an seine Haut aufzukratzen. Manchmal begegnete Willi ihm in seinen Träumen. Dann lachten sie, freuten sich zusammen zu sein. Doch umso trauriger quälte sich Hugo durch den nächsten Tag.
Er wischte mit dem speckigem Ärmel der lammgefütterten Jacke, seine Nase ab, kniff die Augen fest zusammen.
Verdammt Kälte, dachte er, treibt einem Tränen in die Augen.
Der kleine Junge, der plötzlich vor ihm stand, verdrängte seine trüben Gedanken.
Eine bunte Strickmütze drohte von seinen roten Haaren zu rutschen.
Mit einem schelmischen Ausdruck in den Augen, reichte er Hugo eine weiße Plastikschale.
“Hier, für dich!”
Hugo starrte fassungslos auf den dampfenden Inhalt.
“Erbsensuppe, mit einer ganzen Wurst”, flüsterte er.
Noch bevor Hugo sich bedanken konnte, war der Junge zu seinen Eltern gelaufen, die nur einige Schritte entfernt standen. Lächelnd nahmen sie ihn an die Hand und verschwanden in der Menge.
Langsam, jeden Löffel und jeden Bissen genießend, so als wäre es das letzte Mahl in seinem Leben, verspeiste Hugo die Suppe.
Es war dunkel geworden, als er das Kaufhaus betrat.
Wärme, glitzernde Weihnachtsdekoration, wunderbare Gerüche, drängende Menschen.
Er lauschte den Klängen von Last Christmas. Oh, wie er diese Atmosphäre liebte.
Hugo rieb seine kalten Hände. Handschuhe hatte er schon lange nicht mehr.
Doch er wusste, es würden ihm mehr als drei Stunden bleiben, sich aufzuwärmen.
Wie jedes Jahr ging er zielstrebig zur Spielzeugabteilung. Seine Augen glänzten.
Hier vergaß er, dass sein Leben nichts mehr zählte, dass er ein aussätziger alter Mann war, ohne Hoffnung, ohne Zukunft.
Er stand mitten in der Kinderwelt und hätte weinen können vor Glück. Alles wollte er berühren, kurz nur, um sich der Illusion hinzugeben, es könnte ihm gehören. Verträumt fiel sein Blick auf den mit künstlichem Schnee bedeckten Wald. Den großen mit bunten Paketen beladenen Schlitten.
Die vorgespannten künstlichen Rentiere, die mit den Augen rollten und die Köpfe bewegten.
Ein echter Weihnachtsmann stand davor. Er verteilte aus einem riesigen Sack, Süßigkeiten, Obst und Nüsse an Kinder, die meist zaghaft, teilweise aber auch fordernd vor ihm standen.
Plötzlich vernahm Hugo etwas, dass nicht in die Stimmung passte.
Aufgeregtes Rufen, schnelle Schritte. Irgendwo fiel etwas polternd zu Boden. Jemand schrie.
Hugo sah sie kommen, die beiden jungen Männer. Sie rannten auf ihn zu. Stießen alles zur Seite, dass ihnen den Weg versperrte. Sie wurden verfolgt von Wachleuten.
Hugo stand wie versteinert.
Er spürte die Hände die ihn stießen. Er verlor den Boden unter den Füssen.
Ruderte mit den Armen. Einen Halt, er brauchte einen Halt. Er fiel, etwas schien ihn zu verschlingen. Instinktiv kniff er die Augen zu, versuchte immer noch sich festzuhalten.
Seine Finger berührten einen glatten Gegenstand, rutschten ab, blieben an einem Griff hängen.
Ohne es wirklich zu realisieren, schloss sich seine Hand darum.
Er wurde hochgezogen. Stacheln streifte sein Gesicht.
“Ist alles in Ordnung?”
Hugo blickte in erschrockene Augen. Sein Herz hämmerte gegen sein Brust, das Blut schien durch seine Adern zu rasen.
Er schaute hinter sich und erkannte, dass es ein riesiger Tannenbaum gewesen war, aus dem die Leute ihn gezogen hatten. Bunte Pakete lagen, zerdrückt von seinem Gewicht auf dem Boden. Lichterketten hatten sich verschoben.
“Haben Sie sich was getan?” fragte eine Frau.
Hugo schüttelte den Kopf. Seine Lippen waren nicht fähig, auch nur eine Silbe zu formen.
In seinem Kopf jagte nur ein Gedanke: Raus, schnell raus, bevor die Polizei kommt und mich für das Chaos verantwortlich macht.
“He, warten Sie, bleiben Sie hier!”
Hugo hörte die Stimme hinter seinem Rücken. Er beachtete sie nicht. Mit gesenktem Kopf bahnte er sich einen Weg durch die neugierig herumstehenden Menschen. Sein Inneres drängte ihn, das Kaufhaus schnell zu verlassen.
Er war schon fast draußen, als er den Krampf in seinen Fingern spürte. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er einen Aktenkoffer in der Hand hielt. Verdutzt blieb er stehen, starrte auf den Koffer.
Wo kommt der denn her? Ängstlich blickte Hugo um sich. Hatte schon jemand den Koffer vermisst? Wurde er verfolgt?
Doch niemand rief: “Haltet den Dieb!”
Keiner schien ihn zu bemerken.
Plötzlich erinnerte Hugo sich. Der Sturz in den Weihnachtsbaum, seine Finger, die sich um einen Griff geschlossen hatten. Der Schreck. Es war ihm nicht bewusst geworden, dass etwas in seiner Hand gewesen war, als man ihn aus dem Baum zog.
Du wirst etwas finden. Hugos Herz überschlug sich. Ja, das musste es sein. Es war der Koffer, den er finden sollte.
“He Mann, du hältst den Verkehr auf!”
Ein Jugendlicher rempelte Hugo an. Ein Zweiter versuchte im Vorbeigehen, ihm den Koffer zu entreißen. Doch Hugos Hand schien damit verwachsen zu sein.
Das ist mein Geschenk, hallte es in seinem Kopf, meins, meins ...
Wut brodelte in ihm auf. Wut über sein beschissenes Leben, über die verlorene Erinnerung. Wut auf sich selber, dass er nie in der Lage gewesen war, seinem Elend ein Ende zu bereiten. Er verspürte selbst Wut auf seinen Freund Willi, der ihn einfach verlassen und damit für ihn alles noch unerträglicher gemacht hatte. Nichts hatte er mehr im Leben, gar nichts.
Hugo schlug mit dem Koffer wild um sich. Ein fast tierischer Laut drang, geboren aus der Tiefe seiner Seele, aus seinem weit aufgerissenen Mund.
Schnell hatten sich Schaulustige um ihn versammelt. Tumult entstand.
Die für Hugo sonst so liebliche Weihnachtsmusik, dröhnte in seinen Ohren, überflutete seine Sinne. Ein gewaltiger Adrenalinstoß verlieh ihm plötzlich Kräfte, die er nie in sich vermutet hätte. Hugo durchbrach die Menschenmauer. Er rannte aus dem Kaufhaus. Er rannte so lange, bis seine gequälte Lunge ihm Einhalt gebot.
Keuchend drückte er den Aktenkoffer an seine schmerzende Brust.
Seine Gedanken rasten wie Meteoriten durch sein Gehirn.
Was war passiert? Wie konnte er in eine solche Situation geraten? Er, der immer darauf bedacht gewesen war, nicht aufzufallen. Würde man ihn jetzt suchen, ihn einsperren?
Wie ein gehetztes Tier drehte Hugo sich im Kreis.
Wo bin ich?
Ohne nachzudenken war er in die schützende Dunkelheit gelaufen, weg von der vermeintlichen Gefahr.
Vor ihm erstreckte sich ein Fabrikgelände. Der Hof nur spärlich angestrahlt von zwei Scheinwerfern. Die einzige Lichtquelle in der Straße. Die Leute hatten längst Feierabend. Etwas weiter sah er einen Rohbau, fast fertig, Türen und Fenster fehlten noch. Wie riesige dunkle Mäuler starrten sie ihm entgegen. Hugo erkannte, dass er sich in einem Industriegebiet befand.
Keiner Menschenseele würde er zu dieser Zeit hier begegnen.
Mit schleppenden Schritten ging er auf den Rohbau zu, stieg in den dritten Stock. So konnte er die Straße überblicken und reagieren, wenn jemand kommen würde. Er setzte sich auf den kalten, staubigen Boden. Den Koffer stellte er neben sich. Es war ihm egal geworden, sein vermeintliches Geschenk. Was konnte schon darin sein? Papiere, wenn er Glück hatte, ein wenig Geld.
Eine unendliche Einsamkeit befiel ihn, er fühlte sich betrogen, er fühlte sich verdammt elend.
Wo war das Glücksgefühl geblieben, das er heute morgen noch empfunden hatte?
War es wirklich dieser blöde Koffer, den er finden sollte?
Was hatte er ihm denn gebracht? Nur Ärger.
War die Stimme an seinem Ohr nur Einbildung gewesen?
Hugo schaute aus dem Fenster und lachte höhnisch auf. Selbst sein Gespür für Schnee hatte ihn verlassen. Die Wolkendecke war verschwunden, ohne dass eine Schneeflocke gefallen war.
Doch dann entdeckte er etwas.
Fasziniert stand er auf, stellte sich an das Fensterloch und starrte zum Himmel.
Ein Sternenmeer, so dicht als hätte man einen Teppich daraus geknüpft, funkelte ihm entgegen. Sogar die Milchstrasse war zu erkennen.
Hugo bemerkte die eisige Kälte nicht mehr. Der Anblick raubte ihm den Atem.
Dann sah er den goldenen Ball, der sich von den Sternen löste und sich auf den Weg zur Erde machte. Da war es wieder, dieses Glücksgefühl, das Kribbeln in seinem Herzen.
Der Komet schien immer näher zu kommen. Hugo streckte seine Arme in den Himmel, fast glaubte er fliegen zu können. Tränen füllten seine Augen, rannen über seine Wangen.
“Williiiii!” Hugo schrie seine Sehnsucht den Sternen entgegen.
In der gleichen Sekunde verpuffte der Komet, einen goldenen Staubkranz zurücklassend.
In der gleichen Sekunde explodierte der Koffer neben ihm und ließ die Welt über Hugo zusammenbrechen.
Viele Menschen erinnerten sich später an den alten Mann und seinen Koffer, wie er, als wäre der Teufel hinter ihm her, aus dem Kaufhaus gerannt war. Keiner hatte geahnt, dass eine Bombe darin gewesen war. Doch alle wussten, sie hatten es dem Alten zu verdanken, dass sie noch lebten.
Willis Gesicht strahlte, als er seinem Freund den Arm um die Schulter legte und ihn aufforderte mit ihm zu kommen.
Noch nie war Hugo die Begegnung so real erschienen.
“Was ist los?”, fragte er verwirrt, “wo gehen wir hin?”
Hugo schaute über seine Schulter. Hinter ihm loderten Flammen in den Himmel, so als würden sie direkt aus der Hölle schießen. Er sah die Ruine eines Hauses.
War er nicht ...?
“ Sieh nicht zurück, es ist nicht mehr wichtig.” Willi tänzelte vor Hugo, zwang ihn dadurch, nach vorne zu sehen.
“Aber” ...
“Nichts aber. Komm jetzt, du wirst es noch verstehen. Alle warten auf dich, Mensch Hugo, das wird ein Weihnachtsfest!”
Hugo widersprach nicht mehr. Langsam ahnte er , dass Willi ihn nie mehr verlassen würde, dass er nie mehr frieren nie mehr hungern und nie mehr einsam sein würde.