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Thema des Monats Ich bin Igor.

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07.02.2005
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Ich bin Igor.

Spind hundertneun. Spätschicht. Kühltechniker. Ganz unten beim Auffangkreislauf als es geschah.
Wie lange ist das jetzt her? Fast zwanzig Jahre, wenn ich die Isotopenkonzentration richtig einschätze. Ich bin nicht sicher, ob die Kontrastverschärfung in meiner Wahrnehmung wirklich der abnehmenden Konzentration der Isotope entspricht. Aber das wäre eine gute Erklärung. Und die Kontrastzunahme kann ich erstaunlich genau beurteilen. Deshalb habe ich das zur Grundlage meiner Zeitmessung gemacht.

Vor zwanzig Jahren also. Im Frühjahr. Das war der Frühling meines Lebens.
Ich hatte meinen neuen Lada. Und neu heißt jetzt nicht gerade gebraucht gekauft, sondern nagelneu, aus der Fabrik, frisch vom Fließband in Toljatti. Keine morsche Holzstange als Gangschaltungshebel. Keine Rückspiegel aus zerknittertem Stanniolpapier und Glasscherben. Lauter Originalteile.
Nur die großen Schrauben im Motorblock waren nicht echt. Stattdessen hatten die Monteure ähnliche von ausrangierten Lokomotiven verwendet. Die Schweine. Die Eisenbahnschrauben waren kürzer als die richtigen. Sie würden gerade mal für die ersten zehntausend Kilometer halten.
Das hat mir Alexi gezeigt. Der kannte sich da aus. Ist durch die Fließbandgrüfte von Toljatti gegangen. Und hat überlebt. Bis auf zwei Finger.

Alexis Schmerzen müssen gewesen sein wie einer von Olgas Küssen im Vergleich zu den Höllenqualen, die ich in der ersten Zeit nach der - Fehlfunktion? - erlitten habe. War es eine unglückliche Fehlfunktion? Werde ich das jemals herausfinden?
Schwarze Nacht umfing mich. Und Hitze wie in einem Glutofen. Hunger zog meine Eingeweide zusammen. Durst zwang meine Speiseröhre in konvulsivische Zuckungen während meine ledrig angeschwollene Zunge auf der Suche nach Schleim über meine zerklüfteten Lippen raspelte wie ein Leguan, der seinen faltigen Bauch über einen schartigen Felsgrat zieht. Eine Lähmung hielt meine Gliedmaßen in eisernem Griff, als wäre ich auf eine in alle Richtungen expandierende Streckbank geschmiedet. Druck lastete auf meinem Körper, als sei er begraben unter tausend Tonnen Stahl. Schockwellen rissen die Fasern meiner Organe auseinander.
Aber ich starb nicht. Irgendwann fingen die Martern an zu verblassen. Verebbten sie tatsächlich? Habe ich mich an sie gewöhnt? Haben sie mich schließlich doch umgebracht? Ich weiß es nicht.
Die Finsternis lichtete sich zu einem blauen Nebel. Komplexere Gedanken und hell leuchtende Erinnerungen kehrten in mein Bewusstsein zurück. Ich dachte oft an Olga.

Ihre Augen so dunkel und unergründlich wie das schwarze Meer. Ihre alabasterweiße Haut. Ihr glänzendes, langes Haar, das wie ein funkelndes Sternenfirnament über ihre zierlichen Schultern fiel.
Wir hatten uns im Schwimmpalast kennengelernt. Ich trainierte mit den Wasserballern, sie bei den Turmspringerinnen. Und jedes Mal wenn sie von dem himmelhohen Stahlgerüst hinaussprang, war es als würde man der Verwandlung eines Schmetterlings in einen Delphin zusehen.

Heute kann ich gar nicht mehr sehen. Und auch nicht hören. Stattdessen muss sich ein neues Sinnesorgan ausgebildet haben.
Der bläuliche Nebel wurde fahl, bleich, grieselig. Dann schälten sich Unterschiede heraus. An manchen Stellen geordnete Strukturen, an manchen konfuses Durcheinander.
Mein neuer Sinn ist rundum, wie Gehör. Ich muss den Kopf nicht drehen, um einen anderen Eindruck von meiner Umgebung zu gewinnen. Aber die Empfindungen sind eher visueller Natur. Ich nehme Formen wahr, keine Klänge. Kanten. Spitzen. Flächen. Farben gibt es nicht. Alles schimmert in einem helleren oder dunkleren Blauton. Die Übergänge flimmern ein bisschen.
Die Eindrücke sind nicht leicht zu lesen. Nach und nach lernte ich, freien Raum von undurchdringlichem Trümmerdickicht zu unterscheiden. Nachdem ich mich ein paar Mal schier unentwirrbar verheddert hatte.
Die Wahrnehmung ist eben kein Bild wie bei einem alten, überdrehten Schwarzweißfernseher. Und auch kein exaktes Negativ davon. Zu einem großen Teil ist sie schon das eine oder das andere. Aber an manchen Stellen stimmt der Vergleich wieder überhaupt nicht.
Anfangs gab es auch unheimlich viele kleine Helligkeitsquellen. Überall. Sie schienen tief in den Dingen eingegraben zu sein. Aber mit der Zeit verschwanden einige, und meine Empfindungen wurden klarer.
Die Architektur hier unten ist die eines Wahnsinnigen. Enge, niedrige, gewrungen Gänge. Möchte man einem bis zu seinem Ende folgen, krümmt er sich irgendwann nach oben in einen unerklimmbaren Kamin oder hinab in einen hungrigen Schlund.
Hinauf kann ich nicht, nach unten will ich nicht. Jedes Mal wenn ich an eine solche Stelle komme, muss ich an den Aufzugschacht denken.

Olga war schwanger, und wir hatten uns eine größere Wohnung gesucht. In einem Hochhaus, im zwanzigsten Stock.
Alle zwei Wochen war der Fahrstuhl kaputt. Aber wozu ist man Techniker. So hatten wir jedenfalls immer genug Wodka und Benzin, Alexi aus dem dreiundzwanzigsten und ich. Ganz ungefährlich war es aber nicht.
Einmal blieb der Aufzug knapp unterhalb des zwölften Stocks stecken. Nur der obere Teil der Fahrstuhltüren, kein halber Meter, reichte an die Stockwerkstüren heran. Die Leute im Aufzug konnten nicht mal herausklettern. Natürlich war das Stromkabel wieder beschädigt.
Bei der Reparatur saß Alexi auf dem Boden des Stockwerks und ließ die Beine in die Fahrstuhlkabine baumeln. Ich stand auf der gegenüberliegenden Seite des Kabinendachs. Dann sackte der Fahrstuhl ab.
Zum Glück nur ein kleines Stück. Alexis Beine wurden leicht eingeklemmt, aber ihm ist nichts passiert. Er hat keine weiteren Körperteile verloren.

Ich habe immer noch alle meine Gliedmaßen. Von manchen sogar mehr.
Ich habe drei Beine. Sie sind unterschiedlich lang. Ein Bein ist ein Rohr, steif von meiner Hüfte bis zu seinem ausgefransten Ende. Das zweite Bein lässt sich noch anwinkeln, aber es ist etwas sperrig. Umgeben von einem Gewirr aus Gittern und Stangen. Ich habe versucht, das Gestrüpp zu entfernen und mir dabei fast das Bein abgerissen. Das dritte Bein war einmal ein hydraulischer Greifarm. Es entspringt meiner unteren Wirbelsäule und ist von allen noch am besten zu gebrauchen.
Ich habe noch immer zwei Hände. Eine sogar mit Daumen und vier Fingern. Keine Ahnung wie sie überlebt hat. Vielleicht lag sie damals in einer Lache aus flüssigem Stahl. Die andere Hand ist ein Ventildeckel. Einigermaßen rund und groß wie ein Autoreifen. Sie ist hervorragend geeignet für die groben Sachen. Blätter und Blumen sprießen aus ihrer Oberseite. Bilde ich mir ein. Natürlich sind es Drehräder und Schraubenmuttern.
Ich wüsste auch gerne wie mein Gesicht aussieht. Aber ich habe noch kein Material gefunden, das schwer oder dicht genug ist, die Wellen - oder sind es Partikel? - meines neuen Sinnes mit genügend Intensität zurückzuwerfen. Einmal habe ich mein Gesicht berührt. Ich legte die Finger meiner guten Hand an eine Seite meines Unterkiefers und fuhr unter dem Kinn hindurch. Ich habe nichts gespürt. Als die Hand vor der gegenüberliegenden Schulter ankam, klebten Brocken einer weichen Masse an ihren Fingern. Ich muss eine zentimetertiefe Kerbe in meine Kehle gegraben haben. Seitdem halte ich meine Hände sorgfältig von meinem Gesicht fern.
Ich möchte unheimlich gerne in Olgas Gesicht schauen. Wie es jetzt wohl aussieht? Wie ein alternder Engel? Oder entstellt? Nur von der Zeit? Oder auch von den Vorgängen damals?

Olgas dunkle Augen sind das Schönste auf der ganzen Welt. Dachte ich. Bis zu jenem Tag im April vor zwanzig Jahren.
Nach dem Frühstück setzten Olgas Wehen ein. Ich fuhr sie in die Klinik. Es dauerte noch eine ganze Weile. Nervöser als ein Milchbart vor seiner ersten Verabredung tigerte ich den Gang vor der Entbindungsstation auf und ab. Bestimmt würde doch alles gutgehen! Mittags war ich Vater. Von einem Jungen! Für diesen Fall hatten Olga und ich uns schon auf einen Namen geeinigt. Yuri sollte er heißen!
Als ich ihn das erste Mal in den Armen hielt, war sein Geschrei überwältigender als ein Neujahrsfeuerwerk. Und zum ersten Mal blickte ich in die allerschönsten Augen der Welt. Yuris Augen waren nicht ganz so dunkel wie die von Olga. Und blauer. Ein bisschen wie meine. Und so rein wie frisch gefallener Schnee an einem glitzernden Wintermorgen. Zum ersten Mal. Und zum letzten Mal.
Ich musste zur Arbeit. Schichtwechsel stand kurz bevor. Ich trat das Gaspedal durch bis der Lada auf dem knochentrockenen Kiesplatz vor der Haupthalle in einer Staubwolke zum Stehen kam. Die Kühltürme dampften wie Wasserpfeifen für Giganten. Die Sonne brannte in meinen Nacken als ich durch das offenstehende Stahlmaul von gleißendem Tag in neonerhellte Nacht hineintrat. Zum letzten Mal.

Die Erinnerungen haben mich am Leben gehalten. Nicht körperlich. Aber hier unten gibt es nichts als diese blaue, flimmernde Eintönigkeit. Ich will Yuris Lachen hören.
Um diesen Kern aus warmen, hellen Erinnerungen und brennenden, verzehrenden Wünschen hat die Zeit eine dicke, harte Schale gelegt. Eine Schale aus Hass und Wut. Was ist vor zwanzig Jahren geschehen? War es ein Versehen der Operatoren? Oder ein militärisches Experiment, angeordnet von unseren Betonköpfen in den bestgehassten Zwiebeltürmen der Welt? Oder war es gar der Erstschlag des wahnsinnigen Cowboys, der uns jeden Moment vernichten kann, wie die Parteipropaganda immer verkündete?
Ich nähre meinen Zorn mit den grellen Punkten, die es hier überall gibt. Ich klaube sie mit der guten Hand auf und drücke sie in meinen Brustkorb. Sie geben mir Kraft, treiben meinen Körper an. Es war schon fast zu spät als ich das herausfand.
Vor ... vier Jahren nach meiner Rechnung wird es gewesen sein. Mein Leib fing an, langsam zu erstarren. Es fiel mir immer schwerer, meine Glieder zu bewegen. Eine taube Kälte breitete sich in meinem Inneren aus. Bis mein Körper mitten in einem Schritt gefror. Hände, Beine, alles geronn zu verkrümmten Auswüchsen. Ich stürzte vornüber, in eine ganze Pfütze der glitzernden Punkte.
Das war das Ende. Die stumpfe Kälte würde mein Bewusstsein ersticken. Meine blaue Wahrnehmung würde ein paar Mal flackern bevor endgültige Finsternis einkehrte. Dachte ich.
Aber die gleißenden Punkte bohrten sich in meine Brust, pumpten Hitze durch meinen ausgekühlten Leib. Meine Glieder wurden wieder geschmeidig. Ich gewann die Kontrolle über sie zurück. Konnte mich aufrichten, meine einsame Existenz weiterführen.
Seit dieser Auferstehung horte ich die grellen Punkte. Ich fische sie aus den hintersten Winkeln meiner Welt, presse jeden einzelnen in meinen Bauch. So bleibe ich nicht nur am Leben - was denn für ein Leben hier unten - sondern ich werde auch immer stärker.
Und bald habe ich genug Hitze in mir aufgestaut. Bald habe ich die kritische Masse erreicht. Dann werde ich brennen. Dann werde ich hier herausbrechen und eine Schneise der Zerstörung hinter mir herziehen, die von der Mir aus mit bloßem Auge zu sehen ist.
Wie lange wird mein Feuer lodern? Sicher nicht ewig. Sicher nicht lange genug, um meinen Rachedurst zu stillen. Aber hell. So hell und klar, dass die Welt mit Grausen ihren Blick auf dieses idyllische Fleckchen Erde richten wird. Genau hierher, in die Kiefernwälder um Tschernobyl.

 

Respekt, das ist eine intensive Geschichte. Zwar muss ich sagen, dass es mir deutlich an Handlung fehlt, aber die fremdartige und doch emotionale Schilderung wiegt das auf. Da wirkt nichtmal die Sache mit dem Baby zu dick aufgetragen. Es ist eine surreale, unmenschliche Figur, in die Du uns Leser entführst, und sie wirkt durchaus überzeugend und zutiefst moralisch. Das funktioniert auch ohne den erhobenen Zeigefinger, sprich: den letzten Satz könntest Du streichen. Es hat (hoffentlich) jeder begriffen, dass von Tschernobyl die Rede ist.

Fazit: abstruse Idee, intensiv umgesetzt. :thumbsup:

Uwe
:cool:

 

Hallo Uwe und Malleolus,

danke fürs Kommentieren.

Cool!
Und ich dachte schon, das liest keiner mehr. :)

Ich bin mir aber nicht so sicher, dass man die ausdrückliche Erwähnung von Tschernobyl am Schluss weglassen kann.
Kennen die Kiddies das noch?
:)
Und - ganz ehrlich - ich glaube, ich würds nicht blicken.

Außerdem hab ich gerne Klarheit am Ende einer Geschichte.

viele Grüße
jflipp

 

Hallo jflipp,

ich bin zweigespalten angesichts Deiner Geschichte.

Stilistisch finde ich sie großartig! Sie ist emotional und intensiv, wie man es bei einem Monolog sonst selten findet. Die traurigen Stellen rühren zu Tränen. Sie ist in dieser Hinsicht eine der bewegensten Geschichten, die ich bisher gelesen habe.

Die andere Seite ist, dass Du mit dem Schlusssatz den Plot vernichtest. Welche Technologie auch immer eine derartige Verwandlung auslösen kann, bloße radioaktive Verseuchung wie in Tschernobyl kann es nicht. Insofern steht die Story mit einem Bein (stilistisch) im 21. Jh., mit dem anderen (inhaltlich) 1938. Geschichten von Atommutationen sind Stoff des mittleren 20. Jh., heute wissen wir es besser.
Das kannst Du aber leicht beheben: Der Schlusssatz ist nämlich völlig überflüssig! Es ist für die Geschichte total unerheblich, worum es sich bei dem Unfall handelt, die Spekulationen des Protagonisten reichen dazu aus, ein Experiment, eine Superwaffe, ein Meteor, ein abgestürztes UFO, wen interessiert's? Wichtig ist der physische und psychische Effekt auf den Protagonisten.

Insgesamt eine beeindruckende Geschichte, etwas ruiniert durch die hollywoodeske Auflösung.

Grüße,
Naut

 

Welche Technologie auch immer eine derartige Verwandlung auslösen kann, bloße radioaktive Verseuchung wie in Tschernobyl kann es nicht.
Sehr gutes Argument.

Einfach offen lassen! Die Geschichte ist gut genug, um ohne eine Pointe auszukommen, die a) eigentlich wissenschaftlicher Humbug ist (siehe Naut) und b) der Geschichte nichts hinzufügt, was nicht schon gesagt wurde.

Armer letzter Satz, Deine Tage sind gezählt :schiel:

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi jflipp!

Ich bin auch ohne den letzten Satz etwas spiegespalten.

Einerseits kann ich die Atmosphäre der tiefen, in den Wahnsinn treibenden Einsamkeit und der Entmenschlichung spüren, obwohl du die ganze Zeit über nur Telling-Stil verwendest und monologisierst.

Andererseits gab es auch Passagen, die mich unheimlich genervt haben und irgendwie keine Funktion innerhalb der Geschichte zu besitzen scheinen. Ich war teilweise nah daran, den Rest einfach zu überfliegen und dadurch die atmosphärisch dichten und emotionalen Momente zu verpassen.

Das waren vor allem deine Rückblenden, die die frühere Identität des Prots umreißen sollen. Allein wenn ich Sätze lese wie

Ihre Augen so dunkel und unergründlich wie das schwarze Meer. Ihre alabasterweiße Haut. Ihr glänzendes, langes Haar, das wie ein funkelndes Sternenfirnament über ihre zierlichen Schultern fiel.
,

möchte ich schon wegklicken. Vielleicht bin ich nicht der Typ für poetisch-kitschigen Erzählstil, aber die Erinnerungen, die ihn am Leben halten, solltest du etwas sparsamer dosieren.

Ab

Olga war schwanger, und wir hatten uns eine größere Wohnung gesucht. In einem Hochhaus, im zwanzigsten Stock.
Alle zwei Wochen war der Fahrstuhl kaputt. Aber wozu ist man Techniker. So hatten wir jedenfalls immer genug Wodka und Benzin, Alexi aus dem dreiundzwanzigsten und ich. Ganz ungefährlich war es aber nicht.
Einmal blieb der Aufzug knapp unterhalb des zwölften Stocks stecken. Nur der obere Teil der Fahrstuhltüren, kein halber Meter, reichte an die Stockwerkstüren heran. Die Leute im Aufzug konnten nicht mal herausklettern. Natürlich war das Stromkabel wieder beschädigt.
Bei der Reparatur saß Alexi auf dem Boden des Stockwerks und ließ die Beine in die Fahrstuhlkabine baumeln. Ich stand auf der gegenüberliegenden Seite des Kabinendachs. Dann sackte der Fahrstuhl ab.
Zum Glück nur ein kleines Stück. Alexis Beine wurden leicht eingeklemmt, aber ihm ist nichts passiert. Er hat keine weiteren Körperteile verloren.

wollte ich nur noch schnell ans Ende kommen. Hat diese Rückblende irgendeine Funktion? Ich kann keine erkennen.

Olgas dunkle Augen sind das Schönste auf der ganzen Welt. Dachte ich. Bis zu jenem Tag im April vor zwanzig Jahren.
Nach dem Frühstück setzten Olgas Wehen ein. Ich fuhr sie in die Klinik. Es dauerte noch eine ganze Weile. Nervöser als ein Milchbart vor seiner ersten Verabredung tigerte ich den Gang vor der Entbindungsstation auf und ab. Bestimmt würde doch alles gutgehen! Mittags war ich Vater. Von einem Jungen! Für diesen Fall hatten Olga und ich uns schon auf einen Namen geeinigt. Yuri sollte er heißen!
Als ich ihn das erste Mal in den Armen hielt, war sein Geschrei überwältigender als ein Neujahrsfeuerwerk. Und zum ersten Mal blickte ich in die allerschönsten Augen der Welt. Yuris Augen waren nicht ganz so dunkel wie die von Olga. Und blauer. Ein bisschen wie meine. Und so rein wie frisch gefallener Schnee an einem glitzernden Wintermorgen. Zum ersten Mal. Und zum letzten Mal.
Ich musste zur Arbeit. Schichtwechsel stand kurz bevor. Ich trat das Gaspedal durch bis der Lada auf dem knochentrockenen Kiesplatz vor der Haupthalle in einer Staubwolke zum Stehen kam. Die Kühltürme dampften wie Wasserpfeifen für Giganten. Die Sonne brannte in meinen Nacken als ich durch das offenstehende Stahlmaul von gleißendem Tag in neonerhellte Nacht hineintrat. Zum letzten Mal.

Auch das habe ich nur überflogen.

Was mich an der Geschichte vor allem interessiert, ist die grausige Verwandlung, die der Prot durchgemacht hat, und wie sich sein Innerstes dadurch verändert hat.

Wäre es nicht denkbar, dass seine Erinnerungen durch die Mutation auch Schaden genommen haben und er nur mühsam verschwommene Bruchstücke hervorholen kann, zu wenig, um ihm zu versichern, wer er ist, aber genug, um in ihm unmenschliche Sehnsucht zu wecken? Dann könntest du auch mit den Rückblenden stärkere Emotionen wecken.

Ich hatte die Verwandlung übrigens so interpretiert, dass er irgendwie mit irgendwelchen Metallteilen verschmolzen ist, die in seiner Nähe rumlagen. Als genetische Mutation ist das Ganze ein bisschen unglaubwürdig.

Eine Stelle fand ich besonders stark, weil sie die Unklarheit seiner Identität verdeutlicht:

Ich wüsste auch gerne wie mein Gesicht aussieht. Aber ich habe noch kein Material gefunden, das schwer oder dicht genug ist, die Wellen - oder sind es Partikel? - meines neuen Sinnes mit genügend Intensität zurückzuwerfen. Einmal habe ich mein Gesicht berührt. Ich legte die Finger meiner guten Hand an eine Seite meines Unterkiefers und fuhr unter dem Kinn hindurch. Ich habe nichts gespürt. Als die Hand vor der gegenüberliegenden Schulter ankam, klebten Brocken einer weichen Masse an ihren Fingern. Ich muss eine zentimetertiefe Kerbe in meine Kehle gegraben haben. Seitdem halte ich meine Hände sorgfältig von meinem Gesicht fern.

:thumbsup: :thumbsup:

Andere sind m. E. noch ausbesserungsbedürftig:

So bleibe ich nicht nur am Leben - was denn für ein Leben hier unten - sondern ich werde auch immer stärker.

Der Einschub stört den Lesefluss und ist überflüssig.

Oder ein militärisches Experiment, angeordnet von unseren Betonköpfen in den bestgehassten Zwiebeltürmen der Welt? Oder war es gar der Erstschlag des wahnsinnigen Cowboys, der uns jeden Moment vernichten kann, wie die Parteipropaganda immer verkündete?

Wenn du den letzten Satz streichen willst, kannst du diese beiden gleich mit austilgen. Lasse das Ganze in einer Nichtzeit spielen, der Schauplatz sollte nicht klar umrissen sein.

Das wär's für's Erste.

Ciao, Megabjörnie

 

Hallo jflipp,

diese Geschichte erinnert mich an den Film "Die Fliege". Du kannst gut und eindringlich beschreiben! Der Text wird aber erst wirklich rund, wenn Du eine plausible Ursache für die Veränderungen findest.

Am besten fand ich die Beschreibung der veränderten sinnlichen Wahrnehmung:

Mein neuer Sinn ist rundum, wie Gehör. Ich muss den Kopf nicht drehen, um einen anderen Eindruck von meiner Umgebung zu gewinnen. Aber die Empfindungen sind eher visueller Natur. Ich nehme Formen wahr, keine Klänge. Kanten. Spitzen. Flächen. Farben gibt es nicht.

Das mit den Gliedmaßen ist für meinen Geschmack etwas zu surreal. Ich hätte es geschluckt, wenn Du begründet hättest, WARUM die so sein können.

Gut fand ich die Stelle, wo der Erzähler beschreibt, wie seine Erinnerungen ihn trösten, und wie "eine Schale aus Hass und Wut" ihn am Leben erhält.

Freundliche Grüße,

Fritz

 

Hallo Fritz,

danke fürs Lesen und Kommentieren.

Der Film „Die Fliege“ sagt mir was, habe ich aber nicht gesehen. Zu viel Horror. Deshalb kann ich da keine Parallelen ziehen.

Eine plausible Erklärung für die Veränderungen - mit wissenschaftlichem Anstrich - will ich mir gar nicht überlegen. Das ist auch Teil der Surrealität der Geschichte, die du ganz richtig erkannt hast.

Ich hatte beim Schreiben der Geschichte eher SF aus dem Ostblock im Hinterkopf, die für mich meistens einen richtig märchenhaften Touch haben. Nicht dieses amerikanische Hi-Tech und Hochglanz-Fantasy Zeug.

Eigentlich sind surreale Geschichten nicht so mein Ding. Aber die Grundidee dieser Geschichte - da hat einer Tschernobyl überlebt und rumort dort unten herum - ist wissenschaftlich einfach nicht haltbar. Wie soll man das aufziehen, wenn nicht surreal? :)

viele Grüße
jflipp

 

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