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Ich weiß nicht, wie du heißt

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Ich weiß nicht, wie du heißt

Ich sehe die Hand nach dem Knauf greifen. Meine linke Hand. Rote Stahltür. Sie ist schwer. Dutzende Aufkleber drauf. ‚Gelbe Seiten wissen alles‘ oder ‚Ich liebe Köln‘ und so Zeug. Öffnen und hinein. Nichts als Zigarettenrauch, Gelächter, Earth, Wind and Fire strömt mir entgegen. Ein alter Kalender hängt zwischen zwei verblichenen Nacktfotos. Kleine und große Brüste neben dick markiertem 12. August 1979. Warum ausgerechnet dieser Tag? Schon mehr als ein Jahr vergangen. Ich schleiche durch den Spalt zweier übel riechender Vorhanghälften, beider Saum mit einem dicken Speckrand überzogen. Endlich drin und hoffentlich ist niemand da, der mich kennt oder den ich kenne. Aber nichts als rotes Leuchten auf allem lebenden und toten Inventar. Tische, Wände, Gesichter, Arme, Beine, Busen, alles rot. Da hinten im Alkoven ist ein freier Tisch. Zügig flüchte ich dorthin, quetsche mich auf die verranzte, halbrunde Bank, aber lehne nicht den Kopf an den roten Plüsch. Wer weiß, wessen Haar dort schon welche Spuren hinterlassen hat.

»Kölsch?«
Verwirrt beobachte ich den vor mir landenden Bierdeckel, die runzlige Hand, wie sie ein Glas Reissdorf darauf abstellt.
»Wenn du hier sitzen willst, musst du was trinken. Am besten gleich ein paar Gläser, sonst schmeiße ich dich raus!«
Los, heb den Kopf, Heinrich!, zwingt mich etwas in mir und ich folge der Stimme, starre fasziniert auf eine ältere Frau. Ihr herausfordernder Blick flößt mir Unbehagen ein.
»Danke«, erwidere ich und nicke dazu, um mein Einverständnis zu untermauern. »Bringen Sie mir bitte noch einen Jägermeister!«, setze ich nach und hoffe, eine männlich feste Stimme zu haben. Hab ich das wirklich gesagt? Sie kneift ein Auge halb zu und mustert mich eine unbequeme Ewigkeit lang. Earth, Wind and Fire lassen es gut sein und Mick Jagger hilft mir mit Gimme Shelter, was ich als sehr angenehm empfinde. Da ist der prüfende Blick, ob dieser Kerl schon achtzehn ist oder vielleicht ein Irrer, vermute ich. Genau das wird sie denken. Spüre ich da Schweiß auf dem Rücken?

»Jägermeister, geht klar.« Sie dreht sich weg, bleibt stehen, den Rücken zu mir. »Aber besaufen ist nicht! Dann schmeiße ich dich raus!«
Ich nicke, aber das kann sie ja nicht sehen, also schicke ich ein lässiges ‚Alles klar‘ hinterher. Das wird sie schon tausend Mal gehört haben. Ich fühle mich dem Fleischwolf entronnen. Das panische Gefühl verschwindet in einer stillen Herzkammer. Warum sitze ich auf einer mit eingeritzten Jahreszahlen, Vornamen, wüsten Beschimpfungen und Sprüchen völlig verunstalteten Holzbank? Darf man hier Messer mitbringen? Fehlt nur noch, dass plötzlich jemand Bekanntes aus einem Separee auftaucht und eine überraschte, lautstarke Begrüßung äußert. He! Heinrich! Du hier? Köln ist ein Dorf. Da muss man sich nichts vormachen.

Die Panik kommt wieder als Kribbeln, erhöhter Puls, Zittern in den Beinen. Sie quillt aus dem nassen Sand unter jedem deiner Strandschritte, kriecht aus der stillen Herzkammer, sickert durch das rötliche Licht in mein Hirn. Blickt mich strafend an, will wissen, was um alles in der Welt ich hier eigentlich tue. Eine jüngere Hand stellt einen mehr als winzigen Jägermeister vor meine Nase und gleich darauf sitze ich mitten in einer Duftwolke aus Rosen und Patschuli. Der Strand verweht zwischen fernen blauen Augen, die mich einfangen. Endlich.
»Ich glaube, du bist keine achtzehn«, sagt eine angenehme Stimme. Zuerst kippe ich den Jägermeister, um allen Mut auszugraben. Hinter dem Augenblau entdecke ich eine blonde Frau im roten Negligé.
»Hier ist irgendwie alles rot«, rutscht mir raus. Sie lacht. Ihr Busen wippt auf und ab, dunkle Warzenhöfe, vibrierende Erhebungen und ich starre zügig auf das Reissdorf, nehme gleich noch einen tiefen Schluck. Das Gute an dem ganzen Rot ist, dass niemand erkennt, wie ich rot werde.
»Magst du kein Rot?«
»Nein. Ich mag Blau.«
»Blau ist kalt. Ich denke an kalte Menschen. Ich mag keine kalten Menschen«, erklärt sie. »Bist du kalt?«, setzt sie einen Augenblick später nach. Das Direkte wirft mich aus der Bahn.
»Nee, ich … ich hoffe doch nicht.«
»Dann solltest du deine Lieblingsfarbe wechseln«, lächelt sie, legt die Hand auf meine und drückt zwei Mal vorsichtig. »Noch keine achtzehn, was?«
Es bleibt nur die Wahrheit. Sie ist mir über.
»Nein«, gebe ich zu und seufze. »Ist das so offensichtlich?«
Sie nickt mit einer sparsamen Kopfbewegung.
»Durchaus. Wie alt bist du?«
»Sechzehn.«
»Hm, und du bist dir sicher, dass du hier richtig bist?«
Sicher? Verlegen kippe ich den Rest Reissdorf in mich und hebe das Glas. Die alte Frau kommt mit zwei frisch Gezapften und einem vollen Kelchglas perlendem Etwas inklusive Kirsche darin.

»Na, ihr zwei Hübschen?«, grinst sie. »Habt ihr euch das schon gemütlich gemacht?«
Bevor ich nicken kann, fährt sie fort. »Ist so üblich, dass unseren Damen zwei Gläser Champagner ausgegeben werden. Ansonsten …«
»… schmeißen Sie mich raus«, vollende ich. Jetzt lacht sie und ihre obere Zahnreihe ist auf jeden Fall ein Kunstprodukt, das abends im Reinigungsbad landet. Das kenne ich von Oma.
»Wie darf ich dich nennen?«, holt mich meine Banknachbarin ins Jetzt zurück.
»Heinrich.«
Sie zieht die Augenbrauen hoch.
»Sechzehn Jahre und ein so alter Name … das ist ungewöhnlich.«
»Mir gefällt er.«
»Mir auch«, haucht sie und rutscht dicht an mich heran. Es ist, als bekäme ich auf einen Schlag hohes Fieber. Das Negligé raschelt an meiner dünnen Adidas-Jacke, kratzt einen Pfad in meine Sinne.
»Spürst du dein Herz schlagen?«
Woher weiß sie das? Ich ahne, dass meine Gesichtsfarbe das Rot im Raum an Intensität um Meilen übertrifft.
»Ja …«, bringe ich röchelnd heraus.
»Man sieht es an deinem Hals. Dein Puls …«
Sie leert den Champagner in einem Zug und nimmt meine Hand.
»Komm mit, Heinrich.«

Ich folge. Die kunststoffbezahnte Alte trocknet grinsend Kölschgläser. Patschulis dezenter Fingerdruck führt mich durch einen Plüschgang, um die Ecke, eine Treppe hinauf, inmitten von viel zu wenig Licht, leisem Stöhnen, grunzendem Gebrabbel hinter dünnen Türen, hinein in die Kammer der Tiere und Dämonen. Ich stolpere und greife nach Patschulis Schulter. Sie lacht und bremst mich mit rötlich scheinendem, kühlem Rücken. Geschickt öffnet sie dabei eine Tür, Nordpol folgt Südpol, die Tür geht wie von Zauberhand zu. Das Rot ist verschwunden. Alles ist orange und gelb. Teppich, Tapete, Bett, Laken, zwei Sessel, ein Schminktisch, gelb lackiert. Fenster gibt es zwei, mit gelben Brettern abgedichtet und Brokat davor, die Welt muss draußen bleiben. Sie geht zum mit Glühbirnen eingerahmten Spiegel und setzt sich. Ich höre mich husten und starre auf die Wand rechts.

Ein mannshohes, bald zwei Meter breites Poster mit einem … schwarzen Mond? Tausende Sterne und ein schwarzer Mond! Ich habe Negligé, Brüste, Warzen, Patschuli-Rücken vergessen und will in diesen schwarzen Mond fallen. Dort wird mir nie mehr etwas passieren … ein Hauchen hält mich zurück, eine Hand im Schritt, kraulend und tastend, als läge dort ein neugeborenes Lamm, das nur durch Sanftheit in dieser Welt wird existieren können. Panik und Mondsehnsucht lösen sich in Nichts auf, verschwinden schlicht im Irgendwo; nur noch mein Blut bleibt. Es beginnt, gegen die Schwerkraft zu arbeiten.

»150 Mark«, haucht Patschuli, »für eine Stunde.«
Ich nicke, lege das Geld auf ein kleines Bord an der Wand. Ohne es zu beachten, ohne nachzuzählen, greift die sommersprossige Hand in meinen Schritt, packt zu und dreht mich. Das Negligé liegt auf dem Stuhl, meine Hose rutscht auf den gelben Teppich, die Unterhose hinterher. Bin ich noch anwesend? Sie muss mein Herz klopfen sehen, schlagen hören, durch Rippen, Muskeln und Haut.
»Du darfst mich anfassen, Heinrich«, flüstert sie nickend. Ich muss es in Gedanken wiederholen. Und in Worten.
»Ich darf dich anfassen …«
»Aber ja, sei nicht so scheu.«
Rose und Patschuli verduften neben Augenblau. Ich atme schnell, sehe Sommersprossen vor gelbem Brokat, einen Mund, den ich ganz wunderbar finde. Nun ist sie das Lamm, kaum traue ich mich, zu berühren, was ich sehe und erahne. Sie ist nackt und ich bin es auch. Warum umarmen wir uns? Tut sie das immer? Ihren Kopf an die Brust eines Mannes legen? Bin ich ein Mann? Ein jeder? Mehr nicht. Keine Ahnung. Doch. Nur ein jeder.

Schritt für Schritt, einem alten Tanzpaar gleich, tippeln wir auf das Bett zu, ihre Hand fest um mein Glied, so gibt sie mir und sich einen Stoß, dann sitzt Patschuli auf mir, reibt den Unterleib auf meinem Penis hin und her, vor und zurück. Und lächelt. Duftet. Mit glänzender Stirn und weißen Zähnen.
»Gefällt es dir?«
»Hm.«
»Leg deine Hände auf meinen Busen, nimm die Brustwarzen zwischen die Finger und stell dir vor, du streust mit ihnen Gewürze ins Essen. Schön vorsichtig, denn du willst ja ein guter Koch sein, oder?«
»Ich bin ein guter Koch, ich kann schon …«
»Scht …«
Patschuli senkt den Kopf, rutscht mit Kinn und Lippen von Bauchnabel zu Scham, an den Punkt, von dem sie weiß, dass er in meiner Fantasie klammheimlich an Macht gewinnt, dem ich mich nicht widersetzen will. Ich kann nur noch blonde Haare sehen, dann reißt etwas auf, ziept und zerrt, legt sich klamm um das Steife in Patschulis Hand. Wie ein Gummiband.
»Nur die Lümmeltüte«, flüstert sie. Ich stutze, dann krallt Elektrizität nach meinem Zentrum, kriecht durch die Oberschenkel, krabbelt in den Bauch. Als wäre das Glied in warme, feuchte Watte gepackt. Auf einmal bin ich in einer Art Saugglocke, dann wieder die Watte. Vergessen ist der schwarze Mond. Möge es nie vergehen, sinniere ich ächzend. Herrisches Klopfen schneidet brachial in meine Empfindungen und Patschulis Bemühungen. Die Tür wird ohne ein ‚Herein‘ aufgestoßen. Mit ordentlich Schwung, so dass der Knauf dem schwarzen Mond in einen seiner Krater fährt und das Türblatt wieder zurückschlägt.

»Schatzi! Hast du noch Gummis?! Sind mir ausgegangen. War heute nicht einkaufen!«
Der Körper zur gewaltigen Stimme ist groß und üppig, voller Energie, nackt, mit enormen Brüsten und sehr geschminkt. Der Boden zittert bei jedem ihrer Schritte Richtung Schminktisch. Die Watte verlässt mein Zentrum und die Schwerkraft wird schlagartig Herr der Situation.
»Klar, Maus! Schau mal in der rechten Schublade. Karin hat heute Morgen ein paar Packungen mitgebracht. Welche Größe?«
Das Energiebündel reißt die Schublade auf. Ich friere an den Füßen und will mich zudecken, liege aber auf dem Laken und keine Decke weit und breit. Wie konnte ich nur in so eine Situation kommen? Allen Augen ausgeliefert. Ein Sechzehnjähriger neben der offenen Zimmertür. Halb Köln geht draußen vorbei und wird ab morgen einen Kübel Scheiße über mir ausgießen.
»Größe?«, wiederholt Patschulis Kollegin und lacht. »Ist eher ein Gnom. Ich könnte die langen Dinger einmal durchschneiden und eine Hälfte verknoten, reicht für die saure Gurke. Da spare ich was. Der Typ kommt ja jeden Tag …«
Patschuli lacht und die Große fällt mit ein. Sie sehen sich an, winken sich zu, dann verschwindet sie. Ich friere immer noch. Prompt wandert mein Blick von der nackten Frau neben mir zum schwarzen Mond. Er hüllt mich ein, Rose und Patschuli verwehen zwischen seiner Finsternis. Die Kälte bleibt und ich stütze mich auf die Ellenbogen.

»Heinrich«, sagt sie und hat die Schwellkörperveränderung wahrgenommen, »mach dir nichts draus. So ist das eben hier.« Unter dem Bett ist ein Kasten, aus dem sie eine Decke hervorholt, frisch gewaschen, duftend wie Mutters Waschmittel. Patschuli deckt uns zu, legt sich dicht an meine linke Seite, drückt mich auf die Matratze. Mehr als sie ansehen, kann ich nicht. Der Kerl, der viel quasseln kann, schweigt wie ein Tiefseefisch. Eine Sommersprossenhand wandert zu meiner linken Brustwarze, ihr Mund zur rechten. Was passiert? Warum tut sie das? Schnell verschwindet der schwarze Mond aus meinem Blickfeld, taucht unter den Horizont und nichts als neuer Zauber bleibt. Das Drehen und Knabbern treibt mich durch ein Labyrinth aus lustvollen Höhen, Freudentaumel, heißen Herdplatten, in einen Raum, der auf keinen Fall in mir sein kann. Bisher hatte ich ihn zumindest noch nicht entdeckt. Ist das die endgültige Freiheit? Oder finales Glück? Kann ich alles loslassen? Werde ich fallen? Die Hitze ist so unerträglich, brandet durch Fleisch und Muskeln, quer und längs. Ich falle und will das ewig tun. Ich merke nicht mal, dass sie plötzlich auf mir sitzt, ich in ihr bin, warm und behütet. Bis ich aufschlage in einem Meer aus lieblichen Rosen und betörendem Patschuli. Schwer atmend.

»Ich möchte dich küssen«, haucht ein Mund. »Das tue ich normal nicht, aber jetzt möchte ich es.«
Ohne Reaktion lasse ich es geschehen, schließe lieber die Augen. Gebe der Zunge sehnsüchtig Einlass, begrüße sie mit meiner. So suchen wir, kreisen umeinander in unseren Mündern. Und dann nur liegen. Warten, bis die Hitze verklingt, die Lava erkaltet. Patschuli steht auf. Kühle Luft, eine Hand zieht etwas von meinem Glied, trocknet es, tupft vorsichtig. Ein kleiner Mülleimerdeckel quietscht. Sie atmet deutlich.
»Rauchst du?«
Noch benommen von Lust und Geborgenheit, Bilderkarussell im Kopf, schüttele ich den Kopf. Schweige, weil mir die Worte fehlen.
»Dann rauche ich eben später. Hab bald eine kleine Pause.«
Ein Schraubverschluss, zwei Mal wird eingeschenkt. Es gluckert angenehm.
»Aber einen Whiskey trinkst du, oder?«
»Gerne«, antworte ich, öffne endlich die Augen und ziehe die Decke über mich, voller Scham, so nackt vor ihr zu liegen. Die Idiotie dieses Gedankens brennt wie ein kleines Strohfeuer, dann ist mein Blick auf sie gerichtet. Patschuli hat einen Bademantel an, bringt mir ein halbvolles Glas.

»Ich komme in den Knast«, stellt sie grinsend fest. »Einen Minderjährigen verführt, mit Alkohol abgefüllt …«
Stumm vor Ahnungslosigkeit trinke ich. Einmal, zweimal, dann leer. Was soll ich jetzt sagen? Patschuli zieht die Augenbrauen hoch. Da zeigt sich Erstaunen in ihrem Gesicht, wenn ich es richtig deute.
»Hui! Ganz schöner Zug. Ist nicht dein erstes Glas Alkohol, was?«
»Nein«, gebe ich zu. Sie hebt ihres vors Gesicht. Das Augenblau knapp über dem glitzernden Rand. Fixiert mich. Das hoffe ich, nein, wünsche ich mir. Ich würde gerne von ihr angesehen werden. Lange oder immer wieder.
»Gefällt es dir, wenn ich dich anschaue?«
»Hm.«
»Warum?«
Patschulis Blick zu erwidern, ihm nicht auszuweichen, macht mich glücklich, wandert wie der wärmende Whiskey durch mein Inneres. Ich grabe mich in das Augenblau wie ein Teufelsfisch in den Meeresgrund.
»Ich weiß nicht … vielleicht siehst du etwas, was ich auch gerne in mir fände. Etwas, das ich noch nicht kenne. Einen anderen …«
»Einen anderen?«

Sie trinkt aus, stellt das Glas auf die Schminkkommode, lehnt sich an, überdehnt den Oberkörper. Der Bademantel öffnet sich zentimeterweise. Staunend bewundere ich ihre Beine. Übereinandergeschlagen, eines nackt bis zum Becken und leicht wippend, das andere wie aus einem Guss darunter. Sie ist im Bademantel umwerfender, attraktiver, geheimnisvoller als ich sie nackt in Erinnerung habe. Eine andere Person vielleicht. Nacktheit wechselt Persönlichkeiten aus? Ist man angezogen schutzloser?
»Warum sagst du so wenig, Heinrich? Hast du Angst?«
Patschuli rutscht mitsamt Sessel dicht vor mich, Knie an Knie. Wir sehen uns in die Augen wie Paladine vor dem Lanzenturnier. Warum sage ich so wenig? Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Was könnte ich hier und jetzt sagen? So viele Fragen schwirren durch meinen Kopf, so viele Antworten, die ich gar nicht hören will. Ein Berg aus Scham sitzt auf meinem Hals.
»Ich … also …« Ein Zeigefinger landet auf meinem Nasenflügel und reibt. Der rechte oder linke? »Hm, ja, ich weiß nicht, was ich fragen kann oder was reden …« Dann bricht das Gerüst zusammen. Meine Schultern zucken willkürlich, dann der ganze Heinrich. Jemand anderes muss an meiner Stelle hier sitzen. Der, den sie gesehen hat? Ich spüre, dass Tränen kommen. Schnell die Nase hochziehen, Mund auf, tief einatmen. Tut mir leid, will ich sagen. Nur ein halbtoter Frosch purzelt aus meinem Mund. Patschuli lacht nicht, sieht mich ernst an. Beugt sich herüber und zieht mich an den Schultern zu sich. Wange an Wange. Kraulende Finger nehmen sich meine Haare vor. Ich schäme mich in einen tiefen Abgrund und kann nicht genau sagen, warum.

»Musst kein schlechtes Gewissen haben, weil du hierher gekommen bist. Aber ich habe so ne leise Ahnung, dass du das nicht mehr tun solltest. Ist nichts für dich. Man kann sich hier verlieren.«
»Hm«, nicke ich, das Kinn auf dem dunkelgelben Frottee. Sie schiebt mich zurück, ein flüchtiger Kuss landet auf meiner Stirn. Dann greift sie nach der Flasche, öffnet sie und trinkt zwei Schluck. Hebt sie mir unter die Nase.
»Einen noch, dann hast du genug. Nicht dass dich Otto noch raustragen muss.«
»Otto?«
Ich trinke eine ordentliche Portion. Angenehmes Brennen in der Kehle, bis hinunter in den Mageneingang.
»Der Rausschmeißer. Hat sein Kabuff am Ende des Flurs. Wir klingeln, er kommt.«
Sofort geht mein Puls nach oben. Rausschmeißer? Zwei Meter auf zwei Meter? Wegen mir vielleicht? Patschuli beobachtet mich genau. Sie lacht und in diesem Moment kann ich mich gar nicht mehr genau erinnern, was wir zehn Minuten zuvor getan haben. Es ist so weit entfernt wie mein letztjähriger Sommercamp-Aufenthalt. Ich sehe volle Lippen, tiefes Augenblau, das glänzt, feucht wird vor Lachen, feine, sommersprossige Unterarme und Hände mit langen Fingern. Der Bademantel rutscht auseinander. Ihre Vagina hinter kurzen Haaren. Mir fällt auf, dass es mich gar nicht nach dem rosafarbenem Hügel verlangt, dessen Wärme, nein, dass ich lieber an ihrer Stimme hänge, ihr Lachen hören will, den Worten, die sie spricht, dem Blau folgen möchte. Ihr nackt gegenüberzusitzen ist so normal wie das Samstagabendprogramm, Rudi Carrell oder sowas. Da macht sich Angst auf den Weg, aus meinem Unterleib Richtung Kopf. Angst, hier hängenzubleiben, mit den Gedanken an Umarmung, dem Kraulen meiner Haare, ihr Atem in meinem Nacken, unsere suchenden Zungen. Das ist es, was ich befürchte und trinke noch einen kräftigen Schluck.
»He! Heinrich! Jetzt ist aber gut!« Sie nimmt mir die Flasche ab. »Nicht dass du noch betrunken wirst …«

»Dann kommt Otto«, erwidere ich. Sie grinst und geht in den Schneidersitz, sieht an sich herab, auf das Zartrosa zwischen den Oberschenkeln, das sich langsam öffnet und schimmert.
»Otto sitzt friedlich an seinem kleinen Tisch und liest bestimmt irgendeinen Roman. Heute Morgen war er in der Stadtbibliothek und hat einen Wochenstapel Bücher mitgebracht.«
»Er liest?«, wundere ich mich.
»Er liest, seit ich ihn kenne und hat das sicher schon zuvor gemacht.«
»Was liest er denn so?«
Patschuli legt die Stirn in Falten und denkt offensichtlich angestrengt nach. Ich komme nicht umhin, mein Glied ungelenk zu bedecken, zu verbiegen, das so mir nichts dir nichts wieder gewachsen ist.
»Also Steinbeck, den hab ich schon bei ihm gesehen. Jenseits von Eden und Die Straße der Ölsardinen. Da hab ich ihn bis hier lachen hören.« Sie nickt und grinst über meine Versuche, mich zu bedecken. Dann steht sie auf. »Komm, zieh dich an. Wir gehen runter. Ich gebe dir noch ne Cola aus.«
Ich nicke schnell und stehe gebeugt auf. Meine Kleider liegen noch dort, wo wer auch immer sie mir ausgezogen hat. Patschuli bleibt im Bademantel, nimmt mich an die Hand. Vor der Tür stoppt sie abrupt. Ich will nicht zum schwarzen Mond blicken, starre lieber auf das Bett. Zwei kräftige Hände drehen meinen Kopf und ich spüre ihre Zunge nach meiner suchen. Schnell gebe ich nach, will antworten, genießen. Da hört sie wieder auf.
»Heinrich, Heinrich … ich könnte in den Knast kommen.«
Heinrich nennt sie mich. Wie eine alte Freundin. Ich stutze.
»Sag mal, ich weiß gar nicht, wie du heißt …«
»Ist unwichtig«, stellt sie fest und öffnet die Tür.

 

Dieser Text stand vor geraumer Zeit schon einmal hier. Ich hab ihn in einem nicht so klaren Zustand geschrieben, er war verwirrend. @Luzifermortus Kommentar hat mir das auch klar gemacht, aber das Überarbeiten hat mich Nerven gekostet. Um @Luzifermortus' Kommentar - der jetzt nicht mehr so aktuell ist - zu würdigen, werde ich ihn hier reinpacken.

Hallo @Morphin!
Ich habe deine Geschichte gerne gelesen, dein Stil gefällt mir - allerdings war ich auch ein wenig verwirrt. Meine Verwirrung bezieht sich hauptsächlich auf den Protagonisten und den Anderen. Im ersten Moment dachte ich ja, dass es da um eine dissoziative Persönlichkeitsstörung geht, später hatte ich dann mehr den Eindruck, dass Heinrich sich immer dann von sich selbst distanziert, wenn ihm etwas peinlich ist oder er sich unwohl in der Situation fühlt und sich da mehr "einredet" jemand anderen sprechen zu lassen (so wie man sich selbst manchmal halt ein Alter Ego ausdenkt, um mit Situationen klar zu kommen - ich hoffe mal, damit oute ich mich nicht, und dass das andere Menschen auch machen ^^"). Insgesamt bin ich aber so oder so nicht ganz schlüssig geworden aus der Beziehung die Heinrich zu dem Anderen pfelgt. Anfangs kommt oft wenn - ich sage mal "beide Personen" - draußen sind, noch das "wir". Später verschwimmt es und teilweise (so habe ich das gelesen) wird dann der Andere mit dem schwarzen Mond identifiziert. Die Begründung dafür war mir nicht klar. Ich gehe mal auf ein paar Kleinigkeiten ein:
Morphin schrieb:
Verwirrt folgen wir dem vor uns landenden Bierdeckel, der runzligen Hand, wie sie ein Glas Reissdorf darauf abstellt.
Morphin schrieb:
Los, heb den Kopf, Heinrich!, zwingt mich der Andere in mir und ich folge der Stimme
Morphin schrieb:
»Danke«, erwidert der Mund im Kopf des Anderen und ich nicke noch dazu, um mein Einverständnis zu untermauern.
Am Anfang wirkt der andere noch recht aktiv - Heinrich denkt "wir", dann bekommt der Andere noch eine eigene Stimme und macht auch etwas mit dem (gemeinsamen) Körper. Das verliert sich dann mehr und mehr - was an sich keine Kritik ist, ich verstehe nur nicht ganz, woran das liegt, was sicher auch damit zusammenhängt, dass ich die Beziehung zwischen Heinrich und dem anderen nicht ganz begriffen habe.
Zu den Kleinigkeiten bei diesen Stellen: - "zwingt mich der Andere in mir" - war mir zu erklärend, das "in mir" könnte man streichen, du machst an vielen Stellen deutlich, dass der Andere ein Teil von Heinrich ist - nur die genaue Verbindung zwischen ihnen blieb mir unklar. Wobei ich auch sagen muss, dass ich schon recht viele Texte gelesen habe, die mit gespaltenen Persönlichkeiten arbeiten.
Unter "erwidert der Mund im Kopf des Anderen" - konnte ich mir gar nichts vorstellen. Ich schätzte mal, gemeint war, dass der Andere jetzt den Mund verwendet, um zu sprechen, aber das Bild war eher verwirrend.

Morphin schrieb:
Der Andere wird leiser, verschwindet in einer stillen Herzkammer.
Das fand ich interessant - also dass er in einer stillen Herzkammer verschwindet. Ich habe es nicht verstanden, hatte gedacht, dass da noch mehr dazu kommt. Vielleicht kannst du mir sagen, was genau damit gemeint war.
Morphin schrieb:
Doch der Andere … drücke deinen Fuß in nassen Strandsand, genau so kriecht der Andere wieder aus seiner stillen Herzkammer hervor
Den Satz habe ich nicht ganz verstanden. auch warum jetzt "deinen" steht und was genau dazu führt, dass der andere wieder aus der stillen Herzkammer kommt.
Morphin schrieb:
»Blau ist kalt. Ich denke an kalte Menschen. Ich mag keine kalten Menschen«, erklärt sie. »Bist du kalt?«, setzt sie einen Augenblick später nach.
Das fand ich ganz nett - und ich kann ihr nur zustimmen. Es gibt wenige Blautöne, die ich mag, ist mir auch zu kalt.
Morphin schrieb:
Das Direkte wirft mich aus der Bahn. Wo ist der Andere, wenn man ihn braucht.
Morphin schrieb:
Der Andere verweht zwischen fernen blauen Augen. Endlich.
Hier war ich etwas verwirrt - der zweite Satz hier ist im Text der erste; da ist er zuerst froh, dass der Andere verschwindet und dann auf einmal wünscht er sich wieder, dass er da ist. Das erste kenne ich aus den Texten über dissoziative Persönlichkeitsstörung, in denen der Prota meist um die Kontrolle kämpft, das zweite ist für mich wieder eher in Bezug auf "die starke Seite" zu lesen - aber das passiert beides eigentlich in einer recht ähnlichen Situation. Ich verstehe nicht, wie es zu diesem Umschwung kommt und wie genau die beiden Seiten in Verbindung zueinander stehen.

Morphin schrieb:
»Heinrich.«
Sie zieht beide Augenbrauen hoch.
»Sechzehn Jahre und ein so alter Name … das ist ungewöhnlich.«
Das dacht ich mir auch, musste darum etwas schmunzeln, als sie das sagt.
Morphin schrieb:
Woher weiß sie das? Ich ahne, dass meine Gesichtsfarbe das Rot im Raum an Intensität um Meilen übertrifft.
Das war mir ein wenig zu viel. Aber ich weiß auch nicht, wie man es anders schreiben könnte.
Morphin schrieb:
Sie lacht und bremst mich mit rötlich, kühlem Rücken.
Hier hab ich mich gefragt, warum der Rücken rötlich ist - wegen dem Licht? Weil so viel herum rot ist? Auf jeden Fall bin ich ein wenig gestolpert.
Morphin schrieb:
Der Andere löst sich in Nichts auf, verschwindet in diesem schwarzen Mond, nur noch mein Blut bleibt.
Morphin schrieb:
eine Hand im Schritt, kraulend und tastend, als läge dort ein soeben geborenes Lamm, das nur durch Sanftheit in dieser Welt existieren kann. Der Andere löst sich in Nichts auf, verschwindet in diesem schwarzen Mond, nur noch mein Blut bleibt.
Morphin schrieb:
Vergessen ist der Andere, der schwarze Mond.
Hier verschwindet der Andere dreimal ohne zwischendurch wieder aufzutauchen (zumindest habe ich es so gelesen). Das Motiv des schwarzen Mondes ist da auch schon irgendwie mit ihm verbunden, glaube ich, aber so ganz werde ich daraus nicht schlau.
Morphin schrieb:
Der schwarze Mond hüllt mich ein, Rose und Patschuli verwehen zwischen seiner Finsternis.
Hier dachte ich mir das erste Mal: Okay, vielleicht hat der Mond eine Verbindung zum Anderen und dass der Andere vielleicht nur dann auftaucht, wenn Heinrich sich unwohl fühlt - daraufhin habe ich die Geschichte noch einmal von vorne zu lesen begonnen, weil ich dachte, dass ich mich zu sehr auf das Bild der dissoziative Persönlichkeitsstörung verlassen habe. Aber so ganz wurde ich trotzdem noch nicht schlau aus der Sache.
Morphin schrieb:
Patschuli deckt uns zu, legt sich neben mich, drückt den Anderen auf die Matratze und ich folge. Mehr als sie ansehen kann ich nicht. Der Kerl, der viel reden kann, schweigt wie ein Tiefseefisch. Eine Sommersprossenhand wandert zu meiner linken Brustwarze, ihr Mund zur rechten. Was passiert? Warum tut sie das? Doch schnell verschwindet der schwarze Mond, taucht unter den Horizont und nichts als neuer Zauber bleibt.
Ist der Kerl, der viel reden kann, der Andere? Hier war ich mir dann recht sicher, dass der Andere irgendwann zum schwarzen Mond geworden ist, aber warum verstehe ich noch nicht so ganz.
Morphin schrieb:
Und dann nur liegen. Warten, bis die Hitze verklingt, die Lava erkaltet. Der schwarze Mond endlich wieder hinter dem Horizont auftaucht und mich in das Leben da draußen wirft.
Hier hofft Heinrich, dass der schwarze Mond (- für mich zu dem Zeitpunkt gleichbedeutend mit dem Anderen) wieder auftaucht, aber warum? Ich glaube wirklich, dass mein Hauptproblem die Verbindung zwischen den beiden ist - oder ich bin auf der völlig falschen Spur. ^^"
Morphin schrieb:
Der Andere schüttelt den Kopf. Ich schweige.
Morphin schrieb:
Stumm vor Ahnungslosigkeit trinke ich. Einmal, zweimal, dann leer. Was soll ich jetzt sagen?
Morphin schrieb:
Dann bricht das Gerüst zusammen. Meine Schultern zucken willkürlich, dann der ganze Kerl, der Andere. Ich spüre, dass ihm Tränen kommen. Zwei oder drei? Schnell die Nase hochziehen, Mund auf, tief einatmen. Tut mir leid, will ich sagen. Nur ein halbtoter Frosch purzelt aus meinem Mund.
Morphin schrieb:
Ich trinke eine ordentliche Portion.
Hier wechselst du sehr schnell zwischen dem Anderen und Heinrich hin und her. Der Andere - den ich bisher als "den starken Part" gedeutet habe, ist jetzt der, der vor ihr weint und Heinrich differenziert sich von ihm - also ist der Andere dann immer das, was Heinrich im Moment nicht sein will? Aber wieso ruft er ihn dann, wenn er sich nicht zu helfen weiß?
Morphin schrieb:
»Ist unwichtig«, stellt sie fest und öffnet die Tür. Der schwarze Mond erwacht und der Andere verkriecht sich. Ich bin froh.
Und ja... da war ich dann komplett weg. Jetzt verkriecht sich der Andere als der schwarze Mond erwacht. Eine dritte Persönlichkeit? Heinrich selbst? Ich verstehe gar nichts mehr. Also zumindest was die Beziehung zwischen dem Anderen und Heinrich angeht - das ist ja nur eine von zwei Geschichten.
Die Geschichte mit der Frau und auch der sechzehn Jährige, der da in das Bordell kommt und von ihr verführt wird - die Zuneigung ihrerseits, auch das schlechte Gewissen, der Alkohol, die Szenen an sich - das fand ich alles gut beschrieben und dem konnte ich auch sehr gut folgen - daran habe ich auch nichts auszusetzen. Insgesamt hat mir die Geschichte auch gefallen - nur bin ich halt verwirrt - durch Heinrich und den Anderen. Insgesamt habe ich die Geschichte aber gerne gelesen.
LG Luzifermortus

Es hat sich also doch ziemlich was geändert. Der ominöse 'Andere' ist quasi weg. Vielen Dank an @Luzifermortus für den ausführlichen Kommentar.

Grüße
Morphin

 

Eine Geschichte vom ersten Mal. Aber ohne den Vater, der früher seinen Sohn ins Bordell führte, um sich die sexuelle Aufklärung zu sparen. Aber das war wohl vor der Zeit, in der diese Geschichte spielt.

Die Szenerie hier ist authentisch beschrieben, war selbst mal in so einem sog. Rotlichtlokal, auf Geschäftskosten natürlich. :D

Aber diese innerliche Abwesenheit des Protagonisten könnte man für verlogen halten, wenn sie nicht von Anfang an da wäre. Sie ist die ganze Zeit da, zwar nicht permanent, aber sie kehrt immer wieder zurück – oder besser: Die Realität kehrt immer wieder für Augenblicke zurück, deshalb ist die ganze Geschichte glaubwürdig, weil wirklichkeitsnah.

Wenn ein Autor behaupten würde, das alles selbst erlebt zu haben, könnte man versucht sein, an Kleinigkeiten Anstoß zu nehmen – man findet immer was, nicht wahr? –, aber ich habe es nicht versucht und somit kann ich nur sagen: Kompliment an @Morphin für diese Geschichte, die ohne weiteres auch in der Gesellschaft stehen könnte, wenn nicht sogar müsste, denn sie handelt weniger von Erotik, als von der Schwierigkeit, erwachsen zu werden.

PS: Obwohl ich den Spoiler nicht gelesen habe, finde ich ihn überflüssig, weil man den dort behandelten Text nicht mehr zur Verfügung hat, d.h. man kann nicht beurteilen, ob die damalige Kritik berechtigt war.

 

Guten Tag @Dion,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Den Kommentar von @Luzifermortus habe ich eingebunden, weil er sich Mühe gemacht hat und auch ein klein wenig den Deckel hebt, inwieweit ich mich in dieser Geschichte verstrickt hatte (ich sollte nicht nachts schreiben und in schlechter Verfassung). Ich habe dann seinen Kommentar gespeichert und ihn gefragt, ob es okay ist, ihn im Spoiler einzubinden, obwohl vieles an Bezug fehlt. Es ist mein Dank an ihn.

Hm, du meinst 'Gesellschaft' könnte noch dazu? Bin ich gar nicht draufgekommen gestern. Aber ja, das Erwachsenwerden ist natürlich ein wichtiges Stück auf unser aller Weg in eine Gesellschaft. Ich werde es noch anpassen.

Wichtig war mir die Zeit in der diese Handlung spielt, also 1980. Vor mehr als vierzig Jahren. Von daher ist 'Gesellschaft' gar nicht mal schlecht. Denn es hat sich in nicht wenigen Bereichen viel geändert. Sprache, zwischen den Geschlechtern, die Frage nach gesetzlichen Regelungen in diesem Gewerbe (schwedisches Modell) - und über was man 1980 noch nicht oder nur vereinzelt nachgedacht hat. Ich denke da viel an die Diskussionen über die EMMA, die wenige Jahre zuvor zum ersten Mal in den Kiosken lag (Diskussionen daheim, mit Mutter andere Ergebnisse als mit Vater und Mutter).

Vielleicht hätte ich den Text noch länger machen können, sicher sogar, aber es ist eben nur eine knappe Stunde im Leben eines 16jährigen.

Danke fürs Kompliment, den Tipp und ein schönes Wochenende wünscht

Morphin

 

Hallo Morphin,

ein Thema, über das es so viel Wahrheit wie Lügen gibt. Du hast beides gekonnt ineinander gehakt wie einen Reißverschluss. Realität entsteht, wenn man erlebt. Vieles wird nachvollziehbar und doch hat wohl (fast) jeder Mann seine ganz eignen Erlebnisse und Berührungen mit diesem Milieu. Warum Milieu? Weil es immer noch ein weißer Flecken in der Kultur ist. Ist es überhaupt Kultur? Gehört es zur Kultur? Jedenfalls hast Du das mit der Scham und dem Versuch, männlich zu sein, prima ausgedrückt - seine Gefühle in punkto Liebe und das Beschreiben seiner Erregung war manchmal ein bisschen zu poetisch/literarisch-abgehoben aber wenn der Rausschmeißer Steinbeck liest, dann ist das sicherlich auch erlaubt. Das eine Prostituierte sich auch richtig verlieben kann passiert ja nicht selten - ist mir in jungen Jahren in einer Kneipe passiert. Als ich dann im Verlauf des Abends in der Männertoilette den Revolver ihres Freiers am Kopf hatte und der Satz mir in den Ohren klingelte, ich solle die Finger von der Frau lassen war ich geheilt von dem Gedanken, nur ansatzweise auf die Idee zu kommen, die Wonnen der fleischlichen Lust in diesem Milieu zu suchen - ist heute sicher anderes geregelt, aber Du schriebst ja selbst - sonst schmeiß ich Dich raus!
Gerne gelesen
Grüße
Detlev

 

Guten Morgen @Detlev,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Über das, was du anführst, Milieu, Teil von Kultur oder nicht bzw. die Standard-Terminologie, habe ich mir wenig bis gar keine Gedanken gemacht. Die zwei Menschen waren wichtig, einige

poetisch/literarisch-abgehoben(e)
Formulierungen eingeschlossen. Natürlich rühren Scham, Unsicherheit, Sprachlosigkeit des Jungen von eben diesen gesellschaftlichen Tabus, dem Ausprobieren, dem Entdecken, dass die Pubertät ziemlich verwirrend sein kann und in was für Situationen man sich hineinmanövriert. Das ist natürlich alles ein Teil des Komplexes dahinter. Aber darauf habe ich mich hier nicht fokussiert. Auch das Davor und Danach fehlen, also die Entscheidung, es zu wagen und wie es sich danach anfühlt. Ich hoffe, dass Leser:innen das für sich überlegen (muss aber nicht). Hier ist nur ne knappe Stunde die Blende offen (bzw. 9 Seiten), wird Zelluloid belichtet. Was passiert oder kann passieren ... mehr ist es eigentlich nicht.

Griasle
Morphin

 

Hallo Morphin
Ich habe bereits die erste Version Deiner Geschichte gelesen und wollte eigentlich einen Kommentar schreiben, doch dann war sie weg, was ich persönlich schade fand. Die Intensität der ersten Version hat mir gut gefallen, falls ich mich richtig erinnere. Das mit dem Anderen und Heinrich hat mich nicht verwirrt. Doch als ich den Kommentar von Luzifermortus las, war ich nicht mehr so sicher, ob ich alles richtig verstanden habe.

Die zweite Version scheint mir näher an der Realität, bleibt trotzdem intensiv und zwar so sehr, dass ich froh war, als die Kollegin ohne anzuklopfen ins Zimmer kam und mir dadurch eine kurze Verschnaufpause verschaffte. Die ganze Szene mit der Kollegin hatte für mich auch eine gewisse Komik, zwar nicht im Moment für den jungen Heinrich, aber vielleicht ein paar Jahre später, wenn er das Erlebnis zum Beispiel einem Freund erzählt?

Ich könnte die Geschichte als ein "normales " Erlebnis eines Sechzehntjährigen lesen, der neugierig ist und sich traut in solch ein Etablissement zu gehen, um neue Erfahrungen zu sammeln, alleine, und dort auf eine (erfahrene?) Prostituierte trifft, die ihn fast schon einfühlsam behandelt. Wenn da nicht der schwarze Mond wäre und der Kuss, vor allem der zweite Kuss. Und der Moment in dem Patschuli Heinrich tröstet und kurz danach entblößt im Schneidersitz vor ihm sitzt, als wäre dies das Normalste der Welt. Heinrich möchte gesehen werden, sehnt sich nach Intimität, Umarmung, Kraulen im Haar. Und wahrscheinlich sehnt sich Patschuli auch nach echter Nähe, sonst hätte sie nicht seinen Kopf in die Hände genommen und ihn nochmals geküsst. Doch sie warnt ihn, dass er sich dort verlieren könnte und nicht mehr vorbeikommen soll. Aber eigentlich wirken beide ein wenig verloren auf mich, nicht nur Heinrich. Vermutlich interpretiere ich wieder zu viel in die Geschichte hinein, oder?

Wichtig fand ich den Hinweis, dass die Geschichte in den 80er Jahren spielt, denn seither hat sich doch einiges verändert. In dieser Zeit war ich auch Teenagerin, doch waren meine Erfahrungen andere, da ich eine Frau bin.
Weil meine Urgrossmutter Prostituierte war, oder wie immer erzählt wurde, hinter vorgehaltener Hand, einen Schönheitssalon besass, habe ich mich vor einiger Zeit intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Und den dazugehörigen Themen wie sexualisierte Gewalt, Menschenhandel, Stellung in der Gesellschaft, um nur einige zu nennen. Aber darum ging es Dir ja nicht in Deiner Geschichte, sondern um die Begegnung von zwei Menschen und dies ist Dir gut gelungen, finde ich.

Für mich ist die Geschichte unter "Gesellschaft" gut aufgehoben, .

Habe gesehen, dass es noch mehr "Heinrich" Geschichten gibt. Werde diese gerne lesen. Bin gespannt darauf.

Mir gefällt Dein Stil.

Viele Grüsse
Aida Selina

 

Servus @Aida Selina,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Hm, die erste Version enthielt ein 'fremdes Element', das musste raus. Jetzt ist es linearer.

Patschuli sieht sofort, dass da zwar ein ausgewachsener Junge sitzt, aber eben doch ein Junge. Naiv, was die Vorstellungen von dieser Umgebung betrifft. Verloren sind beide, aber in jeweils anderen Welten, anderen sozialen Umgebungen. Das Aufbrechen von Sprache und Tabus Ende der 60er, die vorsichtige Benennung sexualisierter Gewalt, das Erscheinen der EMMA (ich erinnere mich an den Mann mit Baby in der Küche, der Erziehungsurlaub machen wollte), führte in den Kneipen, in denen mein Vater verkehrte zu großem Gelächter, ebenso in der Schule, überall um uns Jugendliche herum. Viele von uns plapperten das nach, was von daheim kam. Aber es gab auch Mädchen, die rebellierten und auch Jungs, die nicht in den Kanon dieser Klischees einfielen.

Obwohl das in der Geschichte nicht auftaucht, ist der Text vielleicht ein Element dieser neuen Zeit, dass man/frau/wir uns als Menschen sehen, ohne all die Denkrahmen, Gruppenregeln, Stereotypen. Es schwingt zumindest mit.

Ja, der Tag 'Gesellschaft' war eine gute Idee.

Grüße
Morphin

 

Moin,

Morphin,

für mich „das erste Mal“, dass ich - wenn mein Gedächtnis nicht trügt - überhaupt in dem Genre/Milieu „vorbeischau“ und allsogleich nach der Bedeutung weniger des Namens des Icherzählers als der Dame nachschau – und der passt („wie die Faust aufs Auge“ bin ich fast geneigt zu behaupten) als Lippenblütler wie die verwandten Lavendel und Minze.

Nur ein paar kleinere Anmerkungen zu dem Ausschnitt Deiner „Selberlebensbeschreibung“,

nix falsch, aber warum

Wer weiß, wessen Haare dort schon welche Spuren hinterlassen haben.
wenn doch das einzelne Haar wie der ganze Schopf das Haar eines Menschen ausmacht …

Und immer noch bin ich auf dem Kreuzzug zur Rettung des Ausrufezeichens

»Danke«, erwidere ich und nicke dazu, um mein Einverständnis zu untermauern. »Bring mir bitte noch einen Jägermeister«, setze ich nach und hoffe, ….
jenseits der Anweisung und des Befehls ...

Und hier ist zweifellos eine reine als-ob-Situation

Es ist, als bekomme ich auf einen Schlag Fieber, 42 Grad, Eiweiß gerinnt.
also mit etwas Zweifel „bekäme ich“, Konjunktiv II als irrealis (unmöglich) oder potenzialis

Bin ich ein Mann? Ein Jeder? Mehr nicht. Keine Ahnung. Doch. Nur ein Jeder.
„Ein jeder …“
Pronomen idR klein ...

Wie dem auch sei, wie immer

gern gelesen vom

Friedel

 

Guten Tag @Friedrichard,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Hab die paar Sachen ausgebessert. Rose und Patschuli, in meinem Gedächtnis die Hauptduftvarianten der 70er. Kann mich auch irren, aber das hängt immer noch in meiner Nase. Zumindest meine Umgebung war nicht bekannt für betörende Pariser Düfte. Eher für die Glockengasse 4711 und Duft aus dem Teeladen, der Räucherstäbchen und -kegel im Angebot hatte. Wirklich seltsame Zeiten. Naiv, trotz RAF. Im Komplexen war es einfach. Es braucht noch viel Literatur über die 70er und 80er.

Viele Grüße
Morphin

 

Moin, moin @Morphin,

nun habe ich gefühlt schon drei Versionen dieser wundervollen Geschichte gelesen, sie ist einfach nur gut und ich hatte viel Spaß beim Kopfkino. Eigentlich gibt es auch nichts zu meckern, aber andererseits liegt meine Anspruchslatte bei Dir halt höher als bei einem Anfänger. Ich denke, daher lasse ich Dir doch die paar Zitate hier, bei denen mir Gedanken durch den Kopf gingen.

Ich weiß nicht, wie du heißt
Ein schöner Titel, der macht neugierig und ich habe wirklich beim Lesen die ganze Zeit geschaut, wie er zusammenhängt. Schön, das Du mich in den letzten Zeilen lächelnd und zufrieden zurück lässt. Ich stelle gerade fest, das ich bei einer Erotikgeschichte mehr auf Zweideutigkeit achte, seltsam! In diesem Zusammenhang - der Tag Gesellschaft passt für mich hier auch wunderbar.

Ich sehe die Hand nach dem Knauf greifen. Meine linke Hand. Rote Stahltür. Sie ist schwer.
Hier war ich erst in so einem "Traummodus", bin auch unsicher, ob ich ihm das abnehme. Immerhin kommt danach ja ein deutlicher HInweis, dass er sehr bewusst und geplant ins Bordell geht. Ich verstehe als nicht wirklich, warum er sich dabei so "entfernt" zuschaut.

Dutzende Aufkleber drauf. ‚Gelbe Seiten wissen alles‘ oder ‚Ich liebe Köln‘ und so Zeug. Öffnen und hinein. Nichts als Zigarettenrauch, Gelächter, Earth, Wind and Fire strömt mir entgegen.
Schöne Verortung und Zeiteinordnung, war sofort mit dabei.

Endlich drin und hoffentlich ist niemand da, der mich kennt oder den ich kenne.
Hier ist er doch sehr zielgerichtet und denkt an alle Möglichkeiten.

Wer weiß, wessen Haar dort schon welche Spuren hinterlassen hat.
Wenn es Stilmittel sein soll, okay, mir ist es ein bisschen zu sehr Seesamstraßen-Fragewörter-Salat.

»Wenn du hier sitzen willst, musst du was trinken. Am besten gleich ein paar Gläser, sonst schmeiße ich dich raus!«
Das ist so herrlich, dieses mehrfach aufgreifen, will ich unbedingt irgendwann auch einmal aufgreifen, mag ich sehr!

»Bring mir bitte noch einen Jägermeister!«
Mh? 70/80. Jahre? Hat da ein Jugendlicher wirklich eine ältere Dame/Frau gedutzt? Egal in welchem gesellschaftlichen Umfeld? Bei uns nicht, da bin ich sicher.

Da ist der prüfende Blick, ob dieser Kerl schon achtzehn ist oder vielleicht ein Irrer, vermute ich. Genau das wird sie denken. Spüre ich da Schweiß auf dem Rücken?
Ich habe eindeutig immer ein Perspektivproblem und Du gefühlt nie. Aber hier fühlt es sich seltsam an. Denkt Heinrich wirklich so "abstarkt/weit weg von sich/allgemein" - sorry, ich kriege es nicht zu fassen. Das hört sich an, als ob ein Erzähler es sagt.

Warum sitze ich auf einer mit eingeritzten Jahreszahlen, Vornamen, wüsten Beschimpfungen und Sprüchen völlig verunstalteten Holzbank? Darf man hier Messer mitbringen?
Hehe, wann hat es denn das alles registriert. Es ist dunkel, er ist auf die Bank gehuscht und abgelenkt!
Die Frage mit dem Messer finde ich prima, ja, solch sinnloses Zeug geht einem in solchen Situationen durch den Kopf.

Sie quillt aus dem nassen Sand unter jedem deiner Strandschritte
Könnte es sein, das Deine Geschichte Pate für die Challenge stand? Sie passt so wunderbar!

mitten in einer Duftwolke aus Rosen und Patschuli.
Ich gestehe, ich hätte mit sechszehn nicht gewusst, wie Patschuli riecht, aber wahrscheinlich gab es das im Osten einfach nicht.

Das Gute an dem ganzen Rot ist, dass niemand erkennt, wie ich rot werde.
Süß!

Es bleibt nur die Wahrheit. Sie ist mir über.
Das sind so wundervoll echt klingende Sätze, ja, so hätte sich ein Heinrich 1980 angehört. Mag ich sehr!

Die alte Frau kommt mit zwei frisch Gezapften und einem vollen Kelchglas perlendem Etwas inklusive Kirsche darin.
Hä? Warum zwei Kölsch (okay, die Gläschen sind ein Witz), aber sie sind doch nur zu zweit? Die rede ist dannach von zwei "Champanger".

42 Grad, Eiweiß gerinnt.
Ich habe gegoogelt - ja, ab 42,6 beginnt es, fand ich dennoch seltsam, da man doch schonmal 42 Grad Fieber hat und nicht gleich tot geht. Egal, fiel mir als zu konkret auf.

Patschulis dezenter Fingerdruck
Sehr geschcickt gelöst, dass der Duft zu ihrem Namen wird, sie verkörpert.

hinein in die Kammer der Tiere und Dämonen
Versteh ich nicht? Wegen dem Stöhnen? Klingt aber im Satz davor recht "normal", verwirrt ihn da nicht.

Ein mannshohes, bald zwei Meter breites Poster mit einem … schwarzen Mond?
Echt? So coole, Riesenposter gab es schon? Ich bin eindeutig im falschen teil des Landes aufgewachsen. Wir haben uns noch Wandtapeten selbst im Fotolabor gebastelt.

Panik und Mondsehnsucht lösen sich in Nichts auf, verschwinden schlicht im Irgendwo; nur noch mein Blut bleibt. Es beginnt, gegen die Schwerkraft zu arbeiten.
Sehr schön! Beim letzten Teil siegt meine Logik. Willst Du sagen, das Blut steigt ihm in den Kopf? Oder reden wir über steifwerden? Mein Kopfkino steht jedenfalls kurz auf dem Schlauch.

Bin ich noch anwesend? Wer zieht mich so schnell aus?
Den ersten Satz kaufe ich, der zweite ist mir zu reflektiert, der ist sechszehn, das erste Mal? Ne, so genau denkt der nicht ...

Möge es nie vergehen, sinniere ich ächzend. Herrisches Klopfen schneidet brachial in meine Empfindungen und Patschulis Bemühungen.
Wie fies und gemein! Geld zurück :-)

Ein Sechzehnjähriger neben der offenen Zimmertür. Halb Köln geht draußen vorbei
Verstehe ich nicht? Steht da wirklich wer, ja, theoretisch könnte da ganz Köln langlatschen.

Der Kerl, der viel quasseln kann, schweigt wie ein Tiefseefisch.
Sehr schönes Bild

Patschuli steht auf. Kühle Luft, eine Hand zieht etwas von meinem Glied, trocknet es, tupft vorsichtig. Ein kleiner Mülleimerdeckel quietscht. Sie atmet deutlich.
Hier hast du sie ganz zart und ohne viel Worte gezeichnet, sehr gefühl- und respektvoll.

Patschulis Blick zu erwidern, ihm nicht auszuweichen, macht mich glücklich, wandert wie der wärmende Whiskey durch mein Inneres. Ich grabe mich in das Augenblau wie ein Teufelsfisch in den Meeresgrund.
Ja, der Heinrich möchte gesehen werden und zwar ganz anders, als es wohl im wahren Leben passiert. Schön, das Patschuli ihn in den Arm nimmt.

Ein Berg aus Scham sitzt auf meinem Hals.
klingt oder sieht für mich schief aus.

»Sag mal, ich weiß gar nicht, wie du heißt …«
»Ist unwichtig«, stellt sie fest und öffnet die Tür.
Eine wunderbar Klammer zum Titel. Und in dem "Ist unwichtig" steckt schon wieder eine Geschichte, wenn auch nicht die von Heinrich.
Eigentlich würde ich ja plädieren, dass die Geschichte mit in die Cahllenge darf, aber genaugenommen möchte ich lieber noch eine weitere von Dir lesen, also dann besser nicht.
Bis die Tage
witch

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Morphin,

es ist schwierig, bei einem so intimen Thema den richtigen Ton zu treffen, doch das ist dir hier sehr gut gelungen, wie ich finde; und sowohl Heinrich als auch Patschuli sind in meinen Augen echte Charaktere. Hat mir gut gefallen!

Ein paar Dinge, bei denen ich sozusagen etwas hängengeblieben bin:

Du schwingst dich an manchen Stellen auf so eine poetische / "künstlerische" Ebene - das war mir manchmal etwas zuviel (s.u.), in meinen Augen braucht es das nicht. Ist aber Geschmackssache.

Dass Heinrich keine Vorgeschichte hat, funktioniert, aber man könnte ihm noch näherkommen, wenn da was wäre. Wenn man wüsste, warum er sich (schon mit 16) diesen Besuch so wünscht, dass er ihn schließlich realisiert (fantasieren tun da sicher viele drüber, aber es dann auch zu tun..), wie er sich das vorher vorstellt hat. Dann könnte man (mehr) damit spielen, dass als seine Vorstellung plötzlich Wirklichkeit ist, das zu viel ist, und ihn (erstmal) überfordert..
Mit der fehlenden Vorgeschichte verbunden sehe ich auch den schwarzen Mond. Die Schlüsselstelle zu ihm ist wohl diese:

Ich habe Negligé, Brüste, Warzen, Patschuli-Rücken vergessen und will in diesen schwarzen Mond fallen. Dort wird mir nie mehr etwas passieren

Was ist ihm denn passiert? Ohne Hintergrund sehe ich den schwarzen Mond so ungefähr als Symbol für Leere/Depression oder etwas in dieser Richtung, als das Gegenteil vom Leben/Glück, das Heinrich sucht. Ich mag dieses Symbol, aber mit etwas mehr Hintergrund könnte das stärker wirken, denke ich.

Ich mag den Titel nicht so, weil der durch die direkte Anrede auf einer anderen Ebene liegt als die Geschichte. Der wirkt auf mich so ein bisschen arty, wieder um diese poetische / "künstlerische" Ebene bemüht.

Noch etwas Textarbeit:

12. August 1979. Warum ausgerechnet dieser Tag? Schon mehr als ein Jahr vergangen.
Verstehe ich nicht, worauf das anspielt. Ist das ein Überbleibsel aus einer früheren Version?

»Bring mir bitte noch einen Jägermeister!«,
»Ist so üblich, dass unseren Damen zwei Gläser Champagner ausgegeben werden. Ansonsten …«
»… schmeißen Sie mich raus«, vollende ich.
Erst duzt, dann siezt er die Ältere.

Sie quillt aus dem nassen Sand unter jedem deiner Strandschritte
Der Strand verweht
Das ist so eine poetisch/"künstlerische" Stelle, die mich beim ersten Lesen rausgekegelt hat, war mir zuviel.

Der Strand verweht zwischen fernen blauen Augen die mich einfangen
Augen, die

Hinter dem Augenblau entdecke ich eine blonde Frau im roten Negligé.
Hm, das "hinter" mag ich hier nicht so. Eigentlich wär's ja um/unter, aber mir fällt auf die Schnelle auch nichts wirklich Gutes ein.

Es ist, als bekäme ich auf einen Schlag Fieber, 42 Grad, Eiweiß gerinnt.
Das "Eiweiß gerinnt" hat mich beim ersten Lesen rausgekegelt (das "42 Grad" bräuchte es im Grunde auch nicht). Tut das Not? Er könnte Koch sein (sagt er zu Patschuli), ist das eine Assoziation da her? Kegelt finde ich eher raus, weil das plötzlich so eine andere Ebene ist.

Patschulis dezenter Fingerdruck führt mich durch einen Plüschgang,
Ich stolpere und greife nach Patschulis Schulter. Sie lacht
Hier bin ich auch beim ersten Lesen hängengeblieben (hat sich mir erst bei der zweiten Stelle erschlossen). Wenn sie als erstes evtl. nur mit Patschuli und nicht zusätzlich mit Rosen assoziiert werden würde, würde das denk ich besser funktionieren.

Geschickt öffnet sie dabei eine Tür, Nordpol folgt Südpol,
Mir wieder zu poetisch/"künstlerisch"

Fenster gibt es zwei, mit gelben Brettern abgedichtet und Brokat davor, die Welt muss draußen bleiben.
Mag ich

als läge dort ein neugeborenes Lamm, das nur durch Sanftheit in dieser Welt wird existieren können. Panik und Mondsehnsucht lösen sich in Nichts auf, verschwinden schlicht im Irgendwo;
Nun ist sie das Lamm,
Mir wieder zu poetisch/"künstlerisch"

nur noch mein Blut bleibt. Es beginnt, gegen die Schwerkraft zu arbeiten.
Also nach oben. Wäre hier nicht nach unten passender?

Herrisches Klopfen schneidet brachial in meine Empfindungen und Patschulis Bemühungen. Die Tür wird ohne ein ‚Herein‘ aufgestoßen.
Haha, das ist echt eine fiese Szene, großartig!

so dass der Knauf dem schwarzen Mond in einen seiner Krater fährt und das Türblatt wieder zurückschlägt ins Schloss.
D.h. die Tür ist wieder zu (?). Dem Folgenden nach allerdings nicht. Könntest du m.E. einfach streichen.

Unter dem Bett ist ein Bettkasten,
"Kasten" würde hier m.E. reichen

Das Drehen und Knabbern treibt mich durch ein Labyrinth aus lustvollen Höhen, Freudentaumel, heißen Herdplatten, in einen Raum, der auf keinen Fall in mir sein kann. Bisher hatte ich ihn zumindest noch nicht entdeckt. Ist das die endgültige Freiheit? Oder finales Glück? Kann ich alles loslassen? Werde ich fallen? Die Hitze ist so unerträglich, brandet durch Fleisch und Muskeln, quer und längs. Ich falle und will das ewig tun. Ich merke nicht mal, dass sie plötzlich auf mir sitzt, ich in ihr bin, warm und behütet. Bis ich aufschlage in einem Meer aus lieblichen Rosen und betörendem Patschuli. Schwer atmend.
Greife ich mal als Bsp. einer m.E. sehr gelungenen Stelle heraus. Topp!

Wir sehen uns in die Augen wie Paladine vor dem Lanzenturnier.
Fand ich unpassend, plötzlich so ein Mittelalter-/Fantasy-Ding (zumindest ist bisher nicht ersichtlich geworden, dass er für diese Thematik ein Faible hätte oder so).

Ein Berg aus Scham sitzt auf meinem Hals.
Diese Bild funktioniert m.E. nicht.

Hat nen Kabuff am Ende des Flurs.
Müsste "n" sein, oder lässt du sie das mit Absicht falsch sagen?

Sie lacht und in diesem Moment kann ich mich gar nicht mehr genau erinnern, was wir zehn Minuten zuvor getan haben. Es ist so weit entfernt wie mein letztjähriger Sommercamp-Aufenthalt.
Sehr gut, diese plötzliche Entmystifizierung..

Ich sehe volle Lippen, tiefes Augenblau das glänzt, feucht wird vor Lachen,
Augenblau, das

Ich komme nicht umhin, mein Glied ungelenk zu bedecken, zu verbiegen, was so mir nichts dir nichts wieder gewachsen ist.
Ich würde hier "das" sagen, im ersten Moment dachte ich, das "was" bezieht sich auf was anderes

Gern gelesen.
Viele Grüße
Maeuser

 

Servus @greenwitch,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren.

drei Versionen
Hm, es gab nur eine davor. Ein Déjà-vu? Die vorige ist nachts in sehr wenig Zeit entstanden und ich war verwirrt.

dass er sehr bewusst und geplant ... Ich verstehe als nicht wirklich, warum er sich dabei so "entfernt" zuschaut ...
Bewusst und geplant ... also in meinem Kumpelsumfeld gab es da keinen, der mit 16 dies getan hat. Bewusst, geplant, klar, die Idee, den Drang, die Neugier umgesetzt, aber jeder Schritt voll mit Zweifel. Wie fremdgesteuert. Angst, entdeckt zu werden (Köln is en Dorf, wie später steht), wie fremdgesteuert. Bin ich das, der das tut?

Hier ist er doch sehr zielgerichtet und denkt an alle Möglichkeiten.
Er ist nicht doof, das steht fest. Aber sicher nicht emotional ausgereift und cool.

Wenn es Stilmittel sein soll ...
Nein, echte Bedenken, Ekel. Der Kerl wäscht sich auch 10 x am Tag die Hände.

Hat da ein Jugendlicher wirklich eine ältere Dame/Frau geduzt?
Tu ich mal ändern.

Könnte es sein, das Deine Geschichte Pate für die Challenge stand?
Als ich das las, guckte ich in die Abteilung Challenge und war erstaunt. Ne, ungeplant.

Hä? Warum zwei Kölsch ...
Also in Köln isses so ... der gute Wirt, die gute Wirtin hat IMMER im Auge, wenn ein Glas leer ist und bringt ein volles. Wenn du nicht willst, musst du das deutlich sichtbarvorher sagen. Ein Automatismus.

Dämonen und so ... Versteh ich nicht? Wegen dem Stöhnen?
Das Innere eines Bordells, Bilder aus Krimi, halbdunkel, fiese Gestalten, schmale Flure, Leder, so ein Dungeon ... ein Bild im Kopf eines 16jährigen.

Den ersten Satz kaufe ich, der zweite ist mir zu reflektiert
Mal überlegen ...

Verstehe ich nicht? Steht da wirklich wer
Ne, aber das Bett is neben der Tür, er kann rausgucken, die anderen rein.


Die Geschichte schwirrt schon sehr lange in meinem Kopf herum. Vielleicht habe ich mal davon erzählt an einem der Sonntage, deshalb wohl das Déjà-vu. Aber von der Challenge hab ich mal wieder nix mitgekriegt ... als alter Maulwurf. Aber egal. Da werden schon ordentlich Texte reinschwirren. Da habe ich keine Sorgen.

Du wurdest unterhalten und ich bin die Gedanken im Kopf los. Das ist doch gut.

Grüße
Morphin

 

Guten Sonntagmorgen, @Maeuser,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Bin was kränklich momentan, dauerte etwas, das Konzentrieren auf Bildschirm und so. Ja, die

poetische / "künstlerische" Ebene
das ist volle Absicht gewesen, ist es noch. War mir, nein, ist mir sogar sehr wichtig in diesem Text, in dieser Umgebung. Beim Überarbeiten habe ich sogar noch einiges rausgenommen, um nicht in eine Traumwelt zu gleiten. Es soll vielleicht nicht zeigen, was ist, sondern was empfunden wurde.

... keine Vorgeschichte hat, funktioniert, aber man könnte ihm noch näherkommen, wenn da was wäre. Wenn man wüsste, warum ... wie er sich das vorher vorstellt hat.
In der Tat ist es reine Neugier. Ohne Vorgeschichte, Vorbedingungen, pubertäre Wetten. Ein Gedanke, dann die Umsetzung. Spontan. Klar, die Umgebungsbedingungen wie Eltern, abends weg und so, das muss gegeben sein. Aber das ist technisch. Der Fokus liegt nur auf diesen beiden Menschen in dieser Situation. Der Rest ist Sturmflut oder stille See. Da ist die Fantasie ganz bei den Leser:innen.

Ohne Hintergrund sehe ich den schwarzen Mond ...
Der schwarze Mond ist eine 70er-Jahre Fototapete, der Rest davon jedenfalls und WEIL er schwarz ist (die ewig dunkle Seite des Mondes), passt es nicht ins Bild. Heinrich wird ein Stück von sich zurücklassen. Das wird ihm bewusst sein. Es ist eine emotionale Grenzüberschreitung. Ich kenne das so aus meiner Jugendzeit. Plötzlich ist da ein Fixpunkt, bevor man etwas Neues tut.

Das Datum ...

Verstehe ich nicht, worauf das anspielt. Ist das ein Überbleibsel aus einer früheren Version?
Nein, ist bewusst so gesetzt, um es zeitlich und auch in der Ära (Ende 70er/Anfang 80er) einzuordnen. Das Aufbrechen der alten Strukturen, NATO-Doppelbeschluss, RAF, aber auch Abschaffung von Mutters Lohn auf Vaters Konto per Gesetz, dann plötzlich, 82, die versuchte Restauration durch Kohl. Einfach ne zeitliche Einordnung, aber ... der Kalender ist vom letzten Jahr. Alt, wird nicht mehr erneuert, offenbar. Warum? Es ist nur ein Gedanke beim Eintreten. Mehr nicht. So wie die Bananenschale auf dem Bürgersteig. Fällt auf und ist bald schon wieder vergessen.

Duzen hab ich geändert. Eiweiß auch. Jetzt ist es nur noch hohes Fieber. Türblatt schlägt nur noch zurück. Und auch nur noch Kasten, ohne Bett.

Hab noch mal paar Anmerkungen geändert. Nicht zu viel, denn sonst wird es für mich 'nur noch Text'. Ich möchte den Bezug dazu nicht verlieren. Der kommt auch über die 'poetische Ader'. Man kann vielleicht sagen, es ist nicht ausschließlich ein Text für Lesende.

Schönen Sonntag wünsche ich.
Beste Grüße
Morphin

 

Hallo Morphin,

danke für die Erläuterungen, das ist aufschlussreich!

Ja, wie gesagt, das mit der "poetischen / "künstlerischen" Ebene" ist Geschmackssache, kann man auf jeden Fall machen, und hat mich jetzt auch nicht dramatisch gestört.

Der schwarze Mond ist eine 70er-Jahre Fototapete, der Rest davon jedenfalls und WEIL er schwarz ist (die ewig dunkle Seite des Mondes), passt es nicht ins Bild. Heinrich wird ein Stück von sich zurücklassen. Das wird ihm bewusst sein. Es ist eine emotionale Grenzüberschreitung. Ich kenne das so aus meiner Jugendzeit. Plötzlich ist da ein Fixpunkt, bevor man etwas Neues tut.
Ach so, als Symbol für vor bzw. nach dem Besuch, verstehe.. Hmja, so kam das bei mir nicht an, das "Dort wird mir nie mehr etwas passieren …" hat mich da auf eine falsche Fährte gesetzt.

Einfach ne zeitliche Einordnung, aber ... der Kalender ist vom letzten Jahr. Alt, wird nicht mehr erneuert, offenbar. Warum? Es ist nur ein Gedanke beim Eintreten. Mehr nicht. So wie die Bananenschale auf dem Bürgersteig. Fällt auf und ist bald schon wieder vergessen.
Ach so! Da hat mich dann die Formulierung in die Irre geführt:

12. August 1979. Warum ausgerechnet dieser Tag? Schon mehr als ein Jahr vergangen.
Ich dachte, der Anblick des Datums erinnert ihn an ein Ereignis vor gut einem Jahr, das noch Bedeutung für das Folgende hat (wir sind hier ja am Anfang der Story, da sucht man ja nach verordnenden Hinweisen). Z.B. "Schon über ein Jahr alt(, das Teil)" fände ich eindeutiger, aber so, wie es jetzt ist, ist es auch ok, zumal davor ja auch schon das hier kam:

Ein alter Kalender hängt zwischen zwei verblichenen Nacktfotos.
Muss ich irgendwie überlesen haben..

Auch schönen Sonntag, & gute Besserung!
Maeuser

 

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