Illusionistin
Illusionistin
Sehr geehrte Angehörige,
ich wende mich in diesem Brief an Sie, weil sie etwas – verzeihen Sie – jemanden verloren haben. Verloren ist nicht ganz der richtige Ausdruck, er hat sich ja nicht verlaufen oder so etwas in der Art. Nein, er wurde Ihnen genommen. Von mir. Ich habe Ihnen jemanden genommen, der Ihnen möglicherweise, wobei sicher bin ich mir nicht, sehr am Herzen lag. Die Höflichkeit verlangt zunächst, dass ich mich vorstelle. Ich bin die Illusionistin. Genau genommen kennen Sie mich bereits, denn ich bin Jeder. Und Niemand. Meine Kunst besteht darin, den Menschen zu geben, was sie brauchen. Daher ist sie im tiefsten Sinne altruistisch, auch wenn das für Sie im ersten Moment merkwürdig klingen mag, da ich Ihren Sohn; Bruder; Neffen oder was auch immer ermordet habe. Sie kennen bestimmt die Redensart, dass man nicht von jedem geliebt werden kann. Das stimmt so nicht ganz. Ich kann das, denn es ist sozusagen meine Form der Kunst. Man braucht dazu lediglich eine gute Beobachtungsgabe und ein wenig soziale Intelligenz. Schauspielerisches Talent hingegen benötigt man nicht, denn der Schlüssel zu einer gelungenen Illusion liegt darin, dass man sie lebt. Ich habe von Natur aus keinen Charakter, man könnte sagen, keine Identität. Mein Charakter ist immer der, meiner jeweiligen Illusion. Sie denken jetzt möglicherweise, dass sich so keine stabilen Beziehungen knüpfen lassen, aber da muss ich Sie enttäuschen. Das ist alles eine Frage des Durchhaltevermögens und der Hingabe zur Kunst. Nun aber genug von mir, schließlich geht es ja hier um Ihren Verlust.
Vielleicht interessiert es Sie zunächst, warum es Ihren Angehörigen getroffen hat, warum ich ihn erwählt habe. Nun, ich stelle mir diese Frage oft selbst und ich glaube zu einem guten Teil war es pure Intuition. Wenn ich es an etwas festmachen müsste, würde ich sagen, es waren seine Augen. Als ich das erste Mal in seine Augen blickte, sah ich dort nichts als Selbsthass und Verzweiflung. Diese beiden Empfindungen sind mir in diesem Moment natürlich völlig fremd, denn wo kein Selbst, da kein Selbsthass, jedoch nahm, ich sie damals so deutlich wahr, dass in jenem Augenblick, der erste Funke einer Illusion erglomm. Ich beschloss, ihm zu helfen. Jesus sagte: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst! Recht hatte er. Allerdings musste die Sache in diesem Fall andersherum laufen. Er musste lieben, um sich selbst lieben zu können, davon war ich überzeugt. Aus heutiger Perspektive ein schrecklicher Irrtum, ich weiß. Hätte ich damals schon gewusst, dass die Lösung seines Problems nicht Liebe, sondern ein abgebrochenes Teppichmesser in seiner Bauchhöhle war, hätte ich uns allen viel Zeit und Ärger erspart. Aber alles zu seiner Zeit.
Sie wissen bestimmt, dass wir, Ihr Angehöriger und ich, in derselben Firma arbeiteten. Ich hatte diese Stelle angenommen, weil von dieser Firma eine ganz bestimmte Aura ausging. Die Aura der puren Verzweiflung, wie sie nur seelenfressende Institutionen dieser Art entwickeln können und die Menschen wie mich, magisch anzieht. Jeden Tag konnte ich beobachten, wie er, Ihr Angehöriger, sich in einem Trott aus ewig gleichen und völlig trivialen Alltagshandlungen verlor, nicht ahnend, dass er damit auch nur das Interesse eines einzigen Menschen erwecken könnte. Seine tiefe Abneigung, ja der Ekel seiner eigenen Person gegenüber war beinahe physisch greifbar. Jedoch wohnte diesem Selbsthass eine gewisse Ästhetik inne, die sich am ehesten als pure, sinnlose und nicht gewollte Lebenskraft beschreiben lässt. Ein Strom aus Energie, der das Individuum immer wieder dazu zwingt weiter zu machen, es antreibt, wo es eigentlich nichts als Aufgeben möchte. Sein Interesse für mich zu wecken war nicht schwer. Eine meiner leichtesten Übungen. Es begann schlicht und ergreifend mit einer Begrüßung und einem „ehrlichen Interesse“ an seiner Befindlichkeit. Natürlich wusste ich längst, wie es ihm geht, aber wie oft bekommt jemand, wie er das Gefühl vermittelt, dass ein anderer Mensch das wirklich wissen möchte? Anschließend heuchelte ich Interesse an seinen, nennen wir es mal „Hobbys“. Das war bedeutend schwerer und ich wäre kaum dazu in der Lage gewesen, wenn nicht auch mich etwas antreiben würde – die Liebe zur Kunst. Nun ja, wie auch immer, allmählich tat mein Gift Wirkung und er veränderte sich, begann sogar Witze zu machen. Manchmal, wenn ich darüber lachte, trat ich einen Schritt aus meiner Illusion heraus und beobachtete mich. Dann musste ich noch mehr Lachen, weil eigentlich alles so offensichtlich war. Ein Lächeln hier, ein Augenaufschlag dort und schon war er mir verfallen. Traurig, wie schnell das bei solchen Leuten geht, ich weiß. Dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ein Verlangen regte sich in mir, das zunächst nichts mit der eigentlichen Illusion zu tun zu haben schien. Eine Sehnsucht nach etwas Neuem, etwas Lebendigem. Je näher ich ihm kam, desto stärker spürte ich, dass ich es haben wollte und, was an dieser Stelle noch viel wichtiger ist, dass er es mir geben wollte. Es war ihm nicht bewusst, aber jede Zelle seines Körpers schrie danach, es loswerden zu wollen. Das Leben. Damit würde ich eine Grenze überschreiten, das war mir klar, aber genauso deutlich spürte ich, dass es falsch gewesen wäre, es nicht zu tun. Es wäre weder ihm noch der Kunst gegenüber fair gewesen und es hätte aus mir eine gewöhnliche Betrügerin gemacht, was ich selbstverständlich nicht zulassen konnte. In mir reifte ein Plan heran. Zunächst musste ich dafür sorgen, dass mir diese Performance nicht im Nachhinein gefährlich wird. So sehr ich die Kunst auch liebe, daran sie zukünftig in einem Gefängnis auszuüben, hatte ich kein Interesse. Meine Absicherung bestand darin, es wie Notwehr aussehen zu lassen. Er machte es mir in dieser Hinsicht sehr leicht, denn er war sozusagen der geborene Stalker. Es war als würde man einen Bluthund eine Fährte aufnehmen lassen und ihn dann dafür bestrafen, dass er ihr hinterher jagt. Die Gesellschaft war dabei meine stärkste Verbündete, da sie sich nur allzu gerne von Äußerlichkeiten täuschen lässt und es in der Natur der Menschen liegt, eine obsessive Freude an der Formierung eines wütenden Mobs zu entwickeln. Es brauchte nicht viel, um niemanden daran zweifeln zu lassen, dass er derjenige war, der ein krankes Spiel spielte.
Nun möchte ich jedoch gerne zu dem Teil kommen, der Sie sicherlich am meisten interessiert. Der große Showdown, das Prestigio, wie ich es gerne nenne. Der Höhepunkt meiner bis dato vollkommensten Illusion. Seit Tagen schon wusste ich, dass er mir folgte. Ich konnte es spüren und er war nicht sehr gut darin, seine Anwesenheit zu verbergen. Es interessiert Sie vielleicht, wie es dazu kam. Nun, es war eine sich selbst erfüllende Prophezeiung könnte man sagen. Nachdem ich überall verbreitet hatte, dass er mir nachstelle und folge und auch die Polizei ihn diesbezüglich kontaktiert hatte, fing er tatsächlich an dies auch zu tun. Sehr berechenbar, ich weiß, aber manchmal sind Menschen sehr einfach gestrickt. Besonders wenn sie sich plötzlich in Lebenslagen befinden, die ihnen bedrohlich erscheinen und sie nicht wissen, wie sie da hineingeraten konnten. An diesem Tag trug ich, wie zufällig, eine Arbeitslatzhose, denn ich hatte begonnen, mein Wohnzimmer zu renovieren. Früher am Tag hatten meine Nachbarn von ihrem Balkon aus beobachten können, wie er mich beobachtete und ich hatte in freudiger Erwartung in mich hinein gelächelt. Jedenfalls ist so eine Arbeitshose unheimlich praktisch, weil sie Tatwerkzeuge nicht nur zuverlässig transportiert, sondern sie gleichzeitig rechtfertigt und vor einem Richter, wie harmloses Werkzeug erscheinen lässt. Es dämmerte bereits, als ich den einsamen Feldweg einschlug, den ich mir für sein Ende ausgesucht hatte. In diesem Licht erschien einfach alles perfekt. Die goldene Gerste, jetzt grau wie der Schleier auf seiner Seele, der feurige Mohn und die kühlen Kornblumen, wie ein cholerischer Vater und eine emotional tote Mutter. Es hätte wirklich kaum einen besseren Ort gegeben.
Ich erstarrte im Augenblick, als ich mich umdrehte und realisierte, dass dies der Moment war, in dem Poesie mich fand – Sie umgab mich wie ein wirrer Schatten, umschlang mich, sodass ich nichts weiter tun konnte, als mich ihrer ungezähmten Wollust hinzugeben. Niemals werde ich seinen erstaunten Gesichtsausdruck vergessen, als seine Augen einfach nicht begreifen wollten, woher das stumpfe Klicken kam, als ich das Messer erst drehte und dann abbrach. Ich spürte wie das Leben, das ihn verließ, gleichermaßen auf mich überging und als der Glanz in seinen Augen erlosch, erfasste mich eine Welle neuen Lebensmutes, wie Strom, der durch meine Adern floss und meine Zellen elektrisierte. Es ist schon eine seltsame Sache mit dem Blut. Mal fließt es zäh wie Teer und zieht dich in den Abgrund, mal sprudelt es dir grell entgegen, wie ein wütender Geysir, strotzend vor Energie und Lebenskraft. Seines sprudelte nicht, aber es war warm und lebendig und es strahlte Güte aus. Eine Eigenschaft, die er im Leben nie besessen hatte. So gelang es mir das Beste in ihm freizusetzen, auch wenn er selbst, zugegebenermaßen, nicht mehr allzu viel davon hatte. Der Duft des schwindenden Tages vermischte sich mit dem seines nahenden Todes und ich gestattete mir einen Moment des Innehaltens, sog die Luft tief in meine Lungen und vergoss einige Tränen, so sehr rührte mich all das.
Was dann folgte, kann man gut mit einer Situation vergleichen, die ein jeder von uns noch aus Kindertagen kennt. Man spielt den ganzen Tag, genießt die Zeit und merkt plötzlich, dass das Zimmer ein einziges Chaos ist. Ich musste aufräumen. Zunächst galt es mich in die richtige Stimmung für einen Anruf bei der Polizei zu befördern und dazu gehörte leider die unangenehme Aufgabe, mir mithilfe seines schlaffen Körpers ein paar Kampfmahle zuzulegen. Tja, was tut man nicht alles für die Kunst. Die nachfolgende Prozedur dauerte mehrere Stunden, wie Sie sich sicher denken können und diese zählen nicht unbedingt zu den spannendsten dieses Tages, deshalb erspare ich Ihnen an dieser Stelle die Einzelheiten. Naja, wie auch immer, der Ausgang der Geschichte dürfte Ihnen allen ja noch geläufig sein.
Damit bin ich am Ende meiner kleinen Geschichte angelangt und es stellt sich Ihnen vermutlich noch eine Frage. Möglicherweise stellen sich Ihnen auch mehrere Fragen, aber diese eine ist offensichtlich:
Warum erzähle ich Ihnen das alles?
Ich bin Illusionistin. Ich bin Jedermann und Niemand.