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- Anmerkungen zum Text
Ist zwar nicht direkt Weihnachten, aber es kommt doch darin vor.
Im Mahlstrom
»Wie weit ist es noch?«
Sofias Stimme dringt kaum durch das an- und abschwellende Rauschen der hellgelben Birkenblätter.
»Nicht mehr weit. Gleich nach dem Rondell geht es rechts rein«, beruhige ich sie. »Du hättest nicht mitgehen müssen. Ich glaube nicht, dass es deinem verstauchten Knöchel guttut.«
Sofia drückt sich an meine Seite und hakt sich unter.
»Mir ist nur kühl. Das mit dem Fuß ist nicht so schlimm. Wir gehen ja langsam.«
Ich horche in mich hinein. Wie lange war ich schon nicht mehr hier? Vor zehn Jahren war die Beerdigung. Erst ein Jahr später besuchte ich das Grab zum ersten und einzigen Mal. Bis heute. Nun mit Sofia.
»Ich meine, der Herbst ist dieses Jahr viel zu früh gekommen«, sagt sie mit zittriger Stimme. »Und er ist auch noch schrecklich kalt«, setzt sie nach.
Ich bleibe stehen, ziehe Jacke, dann Pullover aus.
»Hier, nimm bitte den Pullover!«
Sie löst den Arm und sieht mich an. Nickend legt sie den Mantel über meine rechte Schulter und streift sich den Pullover über.
»Ein schöner Stoff. Merino-Wolle. Ist das nicht mein Weihnachtsgeschenk an dich? Wann war das noch mal?«
Ich muss nicht lange überlegen.
»Weihnachten vor fünfzehn Jahren«, rufe ich ihr ins Gedächtnis. Sofia legt den Kopf schräg und lauscht. Vielleicht dem sanften Wind der Erinnerungen. Den Bildern in diesem Mahlstrom aus Gedankenschnipseln, Formen und Farben.
»Stimmt. War ganz schön schwer, etwas zu finden, was deinem Geschmack entspricht.«
Ich schmunzele sie an.
»Er ist heute noch so schön wie damals«, versichere ich und helfe ihr in den Mantel. Sie knöpft ihn zu und schmiegt sich an mich. Wir setzen unseren Weg fort. Vorbei am Brunnen Nummer vier. Zerschlissene Gießkannen hängen an einem Metallgestell. Der Wasserhahn tropft.
»Liebst du mich, Heinrich?«
Vor dieser Frage habe ich mich gefürchtet. Sofia bleibt abrupt stehen und stellt sich vor mich. Der feine Splitt knirscht unter ihren Schuhen. Sie ist so groß wie ich. Auf Augenhöhe. Nein, auf Mundhöhe. Ich ziehe sie an mich und küsse die fein gefurchten Lippen. Das nachgebende Fleisch zu fühlen, es mit der Zunge zu öffnen, um die ihre zu suchen, ist meine stete Aufnahme in den Pantheon der Götter. Wieder und wieder. Über all die Jahre. Birkenblätter treiben im Wind gegen unsere Schläfen. Ich löse mich und sehe erstaunt Sofias erstarrte Mimik, den noch offenen Mund, die rosafarbene Zungenspitze. Ihre geschlossenen Augen.
»Sieh mich an, Sofia.« Die Lider öffnen sich und das wache Grün der Iris erschlägt mich. Groß wie eine Kastanie. »Ich komme mir sehr ungenügend vor, weil ich noch nie die richtigen Worte für meine Gefühle gefunden habe …«
Sofia senkt den Kopf, drückt die Stirn gegen meine Lippen. Falten bilden sich auf ihrer Haut und so gut ich es vermag, streichle ich küssend die schmalen Täler und Erhebungen.
»Gehen wir weiter«, sagt sie nach einer Weile und streckt den Oberkörper. »Jetzt ist mir schön warm.«
Endlich sind wir am Rondell, grüßen eine alte Frau, die alleine auf einer Bank sitzt und fünf unerschrockene Raben zu ihren Füßen mit Brotkrumen füttert. Krächzend hüpfen sie auf die umherliegenden Brotreste zu, picken und freuen sich. Ein Festessen. Sofia lacht. Leise und verhalten, um die Raben nicht zu erschrecken.
»Als ich dir das erste Mal begegnete, Sofia, in diesem Kino mit den roten Plüschsesseln, hast du gelacht. Ich wusste sofort, dass ich dich liebe.«
Sie sagt nichts, hakt sich umso fester unter, drückt meine Hand. Das Krächzen der Raben bleibt zurück. Nur der Herbstwind ist um uns und fegt die Stille des Friedhofs über die Birken hinweg in die Stadt.
»Jetzt ist es nicht mehr weit. Noch etwa einhundert Meter«, erkläre ich ihr mit ausgestrecktem Arm. »Gleich dort vorne gegenüber der großen Linde.«
Sofia sieht nicht hin, folgt nicht meinem Finger mit ihrem Blick, sieht nur auf ihre Schuhe. Schritt folgt auf Schritt. Ich blicke mich für einen Moment um, ob dort wirklich unsere Spuren zu sehen sind im feinen Splitt. Aber ja, kaum sichtbare Dellen. Unser gemeinsamer Weg.
»Heinrich? Macht es dir etwas aus, dass wir nie Kinder bekommen haben?«, fragt sie unvermittelt. Ich bleibe nicht stehen, obwohl mich die Frage ebenso trifft, wie die nach meiner Liebe.
»Auch darauf weiß ich keine Antwort, Sofia. Ich kann nur vermuten. Kinder zu haben, ist sicher etwas einmalig Schönes. Denk an deine Schwester … sie ist glücklich mir ihrer Familie, oder?«
»Ja, das ist sie«, bestätigt Sofia sofort.
»Ich bin glücklich mit dir, Sofia. Ohne Kinder. Wäre aber mit Kindern sicher nicht weniger glücklich. Weißt du, was ich meine? Schönes kann man nicht mit Schönem vergleichen. Alles ist einzigartig.«
Sie schweigt. Ich bleibe stehen. Sofia nicht. Ihr Arm löst sich und festhalten möchte ich ihn nicht. Sie ist nicht glücklich, denke ich. Ist mir das zuvor schon einmal aufgefallen? Stand ich etwa seit alleine im Pantheon? Ohne sie?
»Sofia …«
Ihre Füße stoppen. Der rechte Schuh drückt sich in den Split, zieht eine kreisförmige Furche hinein.
»Habe ich jemals deine Frage nach Kindern überhört?«
Langsam schließe ich auf und stelle mich vor sie. Ihr Kopfschütteln dicht vor mir.
»Nein. Ich habe dich nie gefragt. Ebenso wenig wie du mich gefragt hast.«
In Sofias Augen starrend, bleibt mir für einen Augenblick die Luft weg. Mir wird bewusst, dass wir unterschiedliche Gründe hatten, nicht zu fragen. Diese Erkenntnis rutscht wie heißer Stahl meine Kehle hinab, lässt mein Herz schneller klopfen. Ich war glücklich. Sie wollte, dass ich glücklich bin. Schnell schließe ich die Augen, presse die Lider zu, doch die Tränen drücken sich darunter hervor, in den kühlen Herbstwind, der sie kälter werden lässt.
»Gehen wir weiter«, fordert Sofia mich auf, packt meine Hand und zieht mich wie einen Dackel, der einfach nicht zum Pinkeln kommt, weil seinem Frauchen ständig der Geduldsfaden reißt. Langsam passe ich den Schritt wieder an.
»Deinem verstauchten Knöchel geht es schon wieder ganz gut, oder?«
»Hm.«
Nur noch zwanzig oder dreißig Meter bis zum Grab. Kann ein Leben innerhalb weniger Meter zusammenstürzen?
»Dann habe ich versagt, Sofia …« Meine Stimme bricht, nachdem ich ihren Namen ausspreche. Sie bleibt erneut stehen, dreht sich mir zu und stemmt beide Hände in die Hüften.
»Niemand hat versagt, Heinrich … du liebst dich darin, mich zu lieben. Ich liebe deine abgöttische Liebe zu mir. Aber ist es das, was uns gut tut?« Sofias Blick ist weich, voller Gnade. Vielleicht auch etwas mitleidig? »Wir alle lieben unterschiedlich und wollen unterschiedlich geliebt werden.« Sie schweigt. Ihr Blick verändert sich. Er kommt näher. Ihre Lippen kommen näher. »Wir lieben unsere gegenseitige Abhängigkeit«, flüstert sie. Der Kuss kommt. Ein anderer als zuvor. Als begänne nun etwas Neues. Sofia umarmt mich, den Kopf seitlich an meiner Wange.
»Sei nicht dumm, Heinrich. Es war die beste aller Beziehungen, es war die schlechteste aller Beziehungen …«
»He, das kenne ich«, unterbreche ich Sofia. »Nur ein wenig anders …«
»Aber ja«, sieht sie mich an und lächelt. »Steht in unserem Bücherregal. Eine Geschichte aus zwei Städten …«
»Dickens«, ergänze ich.
»Komm, gehen wir weiter.«
Dann bin ich am Grab. Ein Mann hockt auf der Bank unter der Linde. Seine Kleider sind recht abgerissen. Er nickt mir ein unrasiertes, struppiges Lächeln zu. Zuerst habe ich Bedenken dieselbe Bank zu nehmen, aber es gibt sonst keine. Nur von ihr kann ich den Grabstein sehen. Also setze ich mich, den Pullover auf dem Schoss. Wie warm er ist und wie kühl der Wind. Im Augenwinkel bemerke ich das leichte Zittern meines Nachbarn.
»Ganz schön kalt für Oktober, finden Sie nicht auch?«, höre ich seine raue, knarzende Stimme. Zu viele Zigaretten, zu viel Alkohol.
»Ja, in der Tat«, bestätige ich mehr als kurz angebunden.
Er lässt nicht locker.
»Haben Sie jemanden hier liegen?«
Ich denke noch darüber nach, ob das korrektes Deutsch ist, da macht er schon weiter.
»Schöner Pullover ham Sie da … is bestimmt warm.«
Ich atme tief ein. Mitnichten ein korrektes Deutsch. Aber es ist der Friedhof. Ein Ort der Ruhe. Wir sind alle nur hier, um uns zu erinnern.
»Sie haben recht«, antworte ich ihm. »Das da drüben ist das Grab meiner Frau.«
»Oh, tut mir leid«, kommt aus ihm raus. Er beugt sich nach vorne und kneift die Augen zu Schlitzen zusammen. »S … o … f …ia … Kons … tan … tin. Sofia Konstantin. Schöner Name«, stellt er fest. »War sie eine schöne Frau?«
Ich nicke. »Wie ein Sonnenaufgang«, fällt mir nur ein. Selbst nach zehn Jahren fehlen mir die Worte für meine Liebe zu Sofia. Aber vielleicht war das bildhaft genug für ihn und meinen Verlust.
»Wann ist sie gestorben? Ich kann das nicht lesen, meine Augen, wissen Sie …«
»Vor zehn Jahren.«
Er rückt an mich heran. Und mit ihm eine Bommerlunder-Wolke. Links von mir ist kein Platz mehr.
»Haben Sie auch einen Verlust zu betrauern?«, lenke ich ab und vermeide es in seine Richtung einzuatmen.
»Ach was«, winkt er ab. »Ich hatte noch nie etwas oder jemanden, also kann ich auch nicht trauern.«
Sein Grinsen ist breit, der Bart verfilzt.
»Warum sind Sie dann hier auf dem Friedhof?«
Es sieht aus, als ziehe er eine Schnute unter dem Gestrüpp in seinem Gesicht.
»Ist schön hier. So friedlich. Keiner will was von mir. Kann ich nachdenken.«
Er sieht wieder zu Sofias Grabstein. Mir fällt das Moos auf und notiere in meinem Gedächtnis, den Friedhofsgärtner nächste Woche mit einer Reinigung zu beauftragen. Vielleicht ein paar winterfeste Sträucher. Rosmarin war Sofias Lieblingsgewürz.
»War ihr Leben schön?«, frage ich ihn unvermittelt und weiß gar nicht, wieso? Woher wohl plötzlich dieser Gedanke kommt? Er seufzt und überlegt lange, kratzt den Bart ausgiebig dabei.
»Hm, ich denke schon … ja, war schön«, bestätigt er dann. Er mustert meinen Pullover. Merino-Wolle und wie neu.
»Wissen Sie was«, sage ich zu ihm gewandt, »der ist für Sie.« Schnell halte ich ihm den Pullover vor die Nase. »Merino, italienische Qualität. Ist zwar schon alt, aber sieht aus wie neu.«
Er streckt sich. Rückt etwas ab von mir und sieht mich mit seinen grauen Augen an.
»Warum? Was muss ich dafür tun?«
Ich bin überrascht. Für einen kurzen Moment. Dann nicke ich mir selbst zu. Woher soll sein Vertrauen auch kommen?
»Nichts. Sie müssen nichts tun. Ist mein Weihnachtsgeschenk für Sie.«
Er räuspert sich und ich muss dabei an eine Dampflokomotive denken.
»Ist doch noch kein Weihnachten, Mann … ihr Kalender geht falsch.«
»Für mich ist heute Weihnachten. Und für Sofia auch. Das hat sie mir vorhin gesagt, als wir zusammen hergelaufen sind.« Er sieht sich verwundert um und ich lege den Pullover auf die Bank, stehe auf, gehe die wenigen Schritte zu ihrem Grab, der Sandsteineinfassung, bücke mich und berühre die Erde. Sie ist kühl und trocken. Als ich mühsam wieder aus dem Kreuz komme und mich umdrehe, ist er weg, mitsamt Pullover. Ich entdecke ihn beim Kaiser-Wilhelm-Denkmal, im Gehen den Pullover überstreifend. Er wird ihn brauchen, vermute ich.