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Im sechsten Kreis der Hölle (Teil 1 einer Trilogie)
Im sechsten Kreis der Hölle
Es war Herbst 1969. Unbekümmert spielten ein paar Kinder auf der Straße vor Familie Enrods Haus. Die Sonne fiel in sanften, schmalen Strahlen durch die Baumkronen in den Vorgärten. Erste Blätter waren gefallen und ein letzter warmer Wind wehte durch den Mittleren Westen.
Peter und Eva Enrod hatten sich in Plainsville niedergelassen, nachdem Eva vor 16 Jahren zum zweiten Mal schwanger geworden war. Als sie dann im neuen Haus eingezogen waren, kam William zur Welt. Mit seiner Schwester verstand sich William sehr gut. Die 18 Jahre alte Marie war eng mit ihrem Bruder verbunden. Die sehr strenge Erziehung ihrer Eltern schweißte beide zusammen.
Die Enrods waren in ihrer Kirchengemeinde hoch angesehen. In den letzten Jahren hatten sie immer das Sommerfest der Gemeinde organisiert. Eva und Peter erzogen ihre Kinder unter strikten Regeln. Sie durften abends niemals das Haus verlassen und gingen erst seitdem sie beide 12 und 13 Jahre alt waren zur Schule. Zuvor hatten die Enrods ihre Kinder zuhause unterrichtet. Nicht selten brachten ihre Kinder nun jedoch Ketzerisches aus ihren Schulen mit. Die Enrods beschlagnahmten alle Dinge, die ihrer Meinung nach nicht in die Hände gottesfürchtiger Kinder gehörten. Will und Marie fanden jedoch bald ein Versteck, wo sie alles aufbewahrten, was ihre Eltern nicht sehen durften.
Doch an jenem Schicksalhaften Tag fand Eva Enrod etwas, das ungeahnte Folgen für ihre Familie nach sich ziehen sollte. Sie hatte das Versteck gefunden.
Will und Marie saßen gemeinsam auf dem Bett, als ihre Mutter die Tür aufstieß. Sie hielt ein Buch in ihrer Hand und stürmte herein.
„Was soll das?“, schrie sie ihre Kinder an, die ängstlich zwischen den Bettdecken kauerten.
„Ich sagte, was soll das?!“, brüllte sie und holte zum Schlag aus, als sich Will plötzlich rührte und ihre Hand, in der sie das Buch hielt, packte. Ungläubig sah Eva ihrem Sohn in die Augen. Noch nie hatte sich William gegen seine Mutter aufgelehnt.
„Das. Ist. Die Wahrheit.“, sagte William zornig und riss seiner Mutter das Biologiebuch aus der Hand. Nach einem kurzen Moment der Stille schlug Eva mit voller Wucht zu.
„Ich habe euch nicht zu Ketzern erzogen! Ihr seid gute Kinder, gute Kinder.“ Sie brach in Tränen aus. Ihre Tochter stand vom Bett auf und wollte ihrer Mutter die Hand auf die Schulter legen. Doch diese packte ihren Unterarm. Ihr Griff war fest und schmerzend.
„Fass mich nicht an! Ihr seid Ketzer!“, schrie sie. „Ihr habt mich und euren Vater nun zum letzten Mal hintergangen! Ihr werdet Buße tun!“
Nicht zum ersten Mal sperrte Eva ihre Kinder in den Keller. Doch dieses Mal spürten William und Marie, das es anders war. Niemals zuvor hatten sie ihre Mutter so gesehen. Die Kellertür fiel ins Schloss. Noch Stunden später konnten die beiden Eva im Wohnzimmer beten hören. Sie schrie und flehte um Vergebung. Immer wieder beklagte sie, versagt zu haben. Peitschenschläge hallten durch die Flure des Hauses. Wieder und wieder schlug Eva auf sich ein und jammerte. Im ganzen Haus waren Kerzen gezündet. Im faden Schein des Lichtes saß sie auf ihren Knien und betete. Wort für Wort in einer ewigen Zeitschleife.
Nach Tagen, in welchen William und Marie nur Wasser und Brot durch den Wäscheschacht bekommen hatten, tat sich etwas. Die Geschwister sahen durch halbgeschlossene Augen durch den Raum. Ihr Vater war in den Keller gekommen und hatte Holz und Werkzeug dabei. Neugierig näherte sich Will seinem Vater. Gerade als der junge Enrod Sprössling seinen Vater ansprechen Wollte kehrte sich dieser zu ihm um.
„Weiche von mir! Geh! Geh zu deiner Schwester! Betet um Vergebung!“, schrie Peter seinen sohn an und hielt eine Säge drohend vor sich.
In den folgenden Stunden verweilten die Geschwister in einem dunklen Winkel des Kellers. Irgendwann verschwand ihr Vater zur Kellertür hinaus. Wieder waren die Kinder eingesperrt in tiefschwarzer, kalter Dunkelheit.
Doch nach vielen Stunden stiller Einsamkeit öffnete sich die Tür wieder. Ein schmaler Lichtstrahl, in welchem den Kindern eine dunkle Silhouette erschien. Es war ihre Mutter. Sie war still und schritt Stufe für Stufe die hölzern knirschende Treppe hinab. Marie klammerte sich fest an ihren Bruder. Er strich ihr sanft über das Haar und flüsterte ihr zu, dass er auf sie aufpasse – immer. Schließlich stand die Mutter vor ihren Kindern. Grob packte sie ihre Kinder an den Armen und zog sie hoch. Mit enormer Gewalt zerrte sie sie durch den Raum. Peter kam ebenfalls die Treppe herunter und begann Kerzen im gesamten Keller anzuzünden. Behutsam stellte er Kreuze auf und kniete vor ihnen nieder. Nun tat sich den Kindern ein Blick auf das auf, was ihr Vater gebaut hatte. Ihnen gefror das Blut in den Adern, als sie die beiden Holzsärge vor sich sahen. Im Kerzenschein sahen die Kinder das blasse, tränenüberströmte Gesicht ihrer Mutter. Plötzlich begannen sie sich mit allen Kräften zu wehren.
„Was soll das? Was habt ihr denn nur vor?!“, brüllte Marie angsterfüllt.
Als Peter ebenfalls zugriff und seiner Tochter die Hand vor den Mund hielt verstummte ihr Widerstand. Beide Eltern zerrten ihre Kinder nun zu den Särgen. Sie fesselten sie und warfen sie in die Holzsärge. Voller Zorn schrien die Kinder auf. Alle beteiligten brachen in Tränen aus. Schließlich vernagelten Eva und Peter die Särge. Das letzte Licht verschwand vor den Augen der Geschwister. Unter den hasserfüllten Blicken ihrer Eltern, die sie zuletzt gesehen hatten, schrien sie auf. Doch bald schon wurden sie vom lauten Beten ihrer Mutter übertönt. Ein letztes Mal verschaffte sich William gehör, während sein Vater begann die Särge mit etwas zu begießen.
„Was tut ihr denn nur? Was soll das hier?!“, brüllte William. Er spürte den Schmerz, den seine Stimmbänder im Hals anrichteten. Es war als würde er sich das letzte Leben aus seinem vor Angst zitternden, bebenden Körper schreien. Doch niemand sollte die Kinder hören. Peter zündete ein Streichholz. Die Gebete seiner Frau verstummten. Das Zündholz fiel auf die Särge und entflammte sie beide in loderndes, heißes Feuer. Er nahm seine Ehefrau zu sich.
„Im sechsten Kreis der Hölle sollt ihr brennen, die ihr unseren Herrn Jesus Christus verleumdet habt. In flammenden Särgen sollt ihr, die ihr abtrünnig seid, eurer Sünden wegen ewig gequält werden. Wir haben versagt oh Herr. Wir haben versagt.“
Tage später hatte Peter den letzten Stein an jener Stelle gesetzt, wo zuvor die Kellertür in ihren Angel gehangen hatte. Nie wieder wurde über den Vorfall gesprochen. Der Polizei meldeten die Enrods das Verschwinden ihrer beiden geliebten Kinder. In der Gemeinde beteten die Menschen für heile Rückkehr der Kinder, auf das der Herr sie geleite. Doch niemand in Plainsville ahnte, was geschehen war – was geschehen wird. Die Enrods lebten weiter.
Doch der siebente Kreis der Hölle hatte seine Arme bereits um sie gelegt.