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In Effigie

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28.04.2023
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In Effigie

Die Nacht des Karsamstags schied in einem dichten Nebel, der sich hartnäckig der aufgehenden Sonne widersetzte. Die Kräfte des Bösen bäumten sich ein letztes Mal auf, bevor sie für eine lange Zeit gebannt werden sollten.
Johanna saß mit den anderen Kindern des Dorfes an der langen Tafel, die im Laufe des Tages noch wachsen würde, und nahm sich ein schmales Holzplättchen zur Hand. Mit der Linken griff sie nach der Gravurnadel und hob sie vorsichtig aus den glühenden Kohlen, die kunstvoll aufgeschichtet die Mitte der Tafel in einem langen Band zierten. Mit geübter Sorgfalt führte sie die glimmende Spitze über das Plättchen und brannte ihren Namen in das Holz. Sie begutachtete die schwarze, schnörkelige Inschrift, war zufrieden und legte ihr Werk in einen kleinen Korb aus Weidenzweigen.
Sie warf einen Blick zur Seite und beobachtete neidvoll die wenigen Holzstücke, die ihr jüngerer Bruder in seinen Korb legte. Ihr gegenüber saß die kleine Marie, die zum ersten Mal ihren Namen in das Holz brannte. Anders als Johanna, hatte sie nicht in der finsteren Nacht aufstehen müssen, um zahlreiche Plättchen zu sägen und mit dem eigenen Namen zu gravieren. Weil sie noch so jung war, musste sie nur zwei davon anfertigen und da sie so unbeholfen mit der Nadel arbeitete, ging ihr ihre Mutter zur Hand. Johanna erinnerte sich noch an das Osterfest als sie so alt gewesen war wie Marie heute. Seinerzeit hatte auch sie nur zwei Gravuren vornehmen müssen. Hätte sie als Junge das Licht der Welt erblickt, wäre es nur eine einzige gewesen, aber ein Jahr später schon die Anzahl an Plättchen, die dem Alter gleichkam. Doch Johanna hatte nicht das Glück gehabt, als Junge geboren worden zu sein und so musste sie im zweiten Jahr, in dem sie mit den anderen Kindern im Mittelpunkt der Festlichkeiten stand, schon doppelt so viele Namensschilder erstellen wie ihr Alter zählte.
Der Nebel hatte schließlich den Kampf verloren, doch die Sonne konnte noch nicht genug Wärme verbreiten, um seine Überreste zu tilgen. Johanna erhob sich von der Tafel und spürte, wie die Kälte an ihr nagte je weiter sie sich vom Kohlefeuer entfernte. Ihren Korb vor sich hertragend schritt sie auf Markus zu, der den Inhalt schweigend inspizierte. Dreißig Plättchen für fünfzehn Jahre, auf jedem davon ihr Name. Er nickte und wies wortlos auf die große Schachtel neben sich, in die sie ihren Korb entleerte.

Im Gasthaus ging es dieser Tage besonders geschäftig zu, musste man doch in der Küche die unzähligen Speisen für das Festmahl vorbereiten. In der Gaststube waren die verbliebenen Tische zusammen gestellt worden. Auf ihnen lagen nun die dampfenden Osterbrote. Von ihnen ging ein leicht säuerlicher Geruch aus, der in der Luft lag und sich den würzigen Aromen aus der Küche entgegenwarf. Dort reihten sich ganze Schalen, gefüllt mit Butter, Frischkäse und Marmelade. In einer Ecke präsentierten sich solche Unmengen an Speck und gebratenen Hühnern, wie man sie normalerweise in einem ganzen Monat nicht zu sehen bekommen würde.
Auf dem Weg zurück zum Gasthaus wurde Johanna von Lukas aufgehalten. So direkt, wie er sich ihr in den Weg stellte, war ihr klar, dass sie ihm nicht entgehen konnte. Sie unternahm einen zaghaften Versuch und mühte sich vergeblich an ihm vorbeizukommen.
„Ich muss die Brote auf dem Tisch bereitlegen."
„Diese Aufgabe habe ich deiner Schwester überantwortet."
„Meine Schwester erwartet ein Kind."
„Noch nicht so bald", antwortete er bestimmt. „Ich wollte die Gelegenheit nutzen und dich erneut daran erinnern, dass du im Frühling des nächsten Jahres bereits volljährig sein wirst."
Sie antwortete ihm nicht, sondern setzte ihrem Gesichtsausdruck eine Maske auf, die ihre Angst verbergen sollte. Er fuhr mit den Fingern auf ihrer Wange entlang, der unversehrten.
„Es muss für dich ein Fluch sein, dass ausgerechnet der Brand in eurem Haus dein doch so hübsches Antlitz derart gezeichnet hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dich noch jemand zur Frau nehmen möchte."
Sie erschauderte unter der Berührung und Hitze stieg in ihr auf.
„Aber du würdest es sofort tun, nicht wahr?", brach es aus ihr heraus. Sie biss sich auf die Zunge, schloss den Mund und beschränkte sich darauf ihrem Blick etwas Glühendes zu geben.
Er sagte nichts, ließ aber seine Augen gierig von ihren Lippen bis zu ihrer üppigen Brust wandern. Sie hielt sich weiter an das Schweigen und schwankte innerlich zwischen Ekel, Wut und Panik hin und her.
„Bei mir würde es dir gut ergehen. Auf jeden Fall besser, als wenn du verstoßen würdest."
Ihr schnürte sich der Hals zu. Das bevorstehende Osterfest drückte sie innerlich zu Boden. Das kommende Osterfest im nächsten Jahr hing wie ein scharfes Schwert über ihr. Und wenig danach der Tag, an dem sie volljährig sein würde.
„Niemals", flüsterte sie.
Seine Miene wurde zu Stein.
Sie machte einen Schritt zur Seite und wollte an ihm vorbei stürmen, doch er packte sie unsanft am Arm und presste ihre Haut zusammen.
„Mit meiner Geduld ist es allmählich vorbei. Du solltest langsam Vernunft annehmen. Ich gebe dir bis heute Mittag Zeit oder dein Name wird doppelt so häufig in der Schachtel zu finden sein."
Aus welcher Hölle war dieser Dämon entstiegen?, fragte sie sich. Ihr wurde übel und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie kämpfte die Panik nieder, riss sich los und rannte, ohne sich umzusehen nach Hause.

In ihrem Kopf jagte ein Albtraum den nächsten. Jeder Gedanke, so schien ihr, zerrann wie Wasser zwischen den Fingern. Das konnte er nicht tun. Andererseits, als ihr Priester war Lukas der zweitwichtigste Mann im Dorf, direkt nach seinem Vater, der ihrer Dorfgemeinschaft vorstand. Er konnte vermutlich tun und lassen, was immer ihm in den Sinn kam.
Schönheit war ein Fluch in dieser Welt. Mit jedem Jahr, das sie äußerlich mehr zur Frau herangewachsen war, hatte sie neue Blicke auf sich ruhen gespürt. Ihr war, als würde sie die Last eines kleinen Mühlsteins um den Hals tragen. Jeden Monat, den sie unverheiratet zubrachte, wurde ihr diese Last immer schwerer. Sie war in dem Glauben erzogen worden, dass das größte Glück in der frühen Heirat zu suchen sei, auch wenn ihr dieser Gedanke mehr und mehr wie ein Irrglaube vorgekommen war. Ihr Äußeres war ihr gleichgültig, die Verbrennung auf ihrer Wange störte sie nicht. Vor dem Unfall hatte sie als unumstrittene Schönheit gegolten und ihren Eltern wurde unentwegt angeraten, sie doch als gute Partie zu verheiraten. Der Brand aber hatte alles geändert. Die Menschen achteten nur auf Äußerlichkeiten und über Nacht war sie nicht mehr als begehrlich angesehen worden. Der Mühlstein, der seit ihrem ersten Osterfest wie ein Geschwür stetig gewachsen zu sein schien und den sie kaum noch hatte tragen können, war über Nacht aus ihren Gedanken verbannt worden. Sie glaubte, ihren Frieden gefunden zu haben. Und dann hatte sie gelernt, dass nur Narren glücklich werden konnten. Der Käfig hatte sich an dem Tag um sie geschlossen, an dem sie geboren worden war. Ihre Bürde, der Mühlstein war noch da, so mächtig und schwer wie zuvor. Auch wenn ihre äußerliche Schönheit als zerflossen galt, stand sie noch immer unter den Gesetzen des Dorfes. Im Frühling des nächsten Jahres würde sie unrein werden, wenn sich bis dahin nichts änderte und Unreine hatten keinen Platz in der Dorfgemeinschaft. Gewiss, würde sie sich auf Lukas einlassen, wäre das ihr Ausweg. Gleichzeitig wusste sie auch, dass ihm nichts an ihr lag. Er wollte nur die Macht über ihren Körper und wenn sie daran zerbrach, wäre ihm das gleichgültig. Vermutlich würde er noch in der ersten Nacht über sie herfallen und ihre verbrannte Gesichtshälfte mit seinen schmutzigen Händen in das Kissen pressen, damit seine Augen sich an ihrem sonst unbeschadeten Äußeren weiden konnten.

Das ganze Dorf hatte sich an der Tafel versammelt. Unzählige Brotlaibe nahmen den größten Teil der Tischmitte ein, wie es gleichermaßen die glühenden Kohlen am Morgen getan hatten. Dazwischen drängten sich immer wieder große Stücke an Käse und Speck, Buttertöpfe und Körbe voll mit gekochten Eiern ins Bild. Der Anblick des Specks löste in Johanna eine ferne, unscharfe Erinnerung aus, in der sie sich mit Matthias, dem Sohn des Metzgermeisters, küssend und betastend im Lagerraum versteckt gehalten hatte. Ihr stieg ein salziger, leicht kohliger Geruch in die Nase. Matthias war in Ordnung gewesen. Mit ihm hätte sie sich wohl gefühlt. Hätte er doch nur nicht so viel Angst vor ihrem jähzornigen Vater gehabt.
Lukas betrat die Szene im Ornat, in der einen Hand ein hölzernes Kreuz, in der anderen eine Glasphiole. Mit dem Wasser aus der Phiole besprenkelte er die Speisen, hielt das Kreuz darüber und sprach laut die Worte, die Johanna nicht hören wollte. Ein Stich durchfuhr sie und ein Gefühl von Falschheit und gleichzeitiger Vertrautheit machte sich in ihr breit. Wie von selbst fiel sie in das antwortende Gemurmel der Gemeinde mit ein.
Nach der Segnung nahmen sie an der Tafel Platz und begannen schweigend zu essen. Auch wenn jeder den Blick auf seinen Teller geheftet hielt, hätte sie schwören können, dass die Augenpaare aller auf ihr ruhten, beobachtend, abwartend. Dennoch wurde ihr Gefühl der sich nahenden Hilflosigkeit von einem Appetit überschattet, dem sie sich einmal im Jahr befriedigend hingeben konnte.
Sie wusste, dass Lukas ihren Blick suchte und sich eine Antwort von ihr erhoffte. Sie gab sich alle Mühe, ihm auszuweichen, doch ihr war, als würde eine fremde Macht sich ihrer bemächtigen und ihm ihr Gesicht zuwenden. Verblüfft von ihrer Direktheit hielt er mitten in der Bewegung inne und in seinen Schakalsaugen erschien erneut dieser gierige Blick, den sie so verachtete. Sie war nur ein Objekt, ihre Seele galt ihm nichts, allenfalls war sie ein hübsches Ding, das er später in die Gosse treten konnte. Sie wusste nicht, was aus ihr werden würde, außer dass ihre Abscheu vor diesem Mann mit jeder Minute wuchs und ihre Angst überstieg. Sie heftete ihre Augen auf die seinen und schüttelte kaum merklich, aber sichtbar für ihn, den Kopf. Sein gieriger Blick loderte und wandelte sich in Zorn. Er hob sein Glas in einer Bewegung an die Lippen, sah sie weiter an und trank daraus. Das war es also. Es galt als unhöflich, jemandem in die Augen zu sehen, ohne dabei das Glas zum Gruß zu erheben. Sie umklammerte ihr Messer, damit ihre Hände nicht zitterten und versuchte krampfhaft ihre Tränen zurückzuhalten.

Nach dem Mittagsmahl begab sich Johanna auf ihr Zimmer und kleidete sich für den Gottesdienst an. Der Spitzenrock bedeckte gerade ihre Knie. Einst hatte er ihrer Mutter gehört. Noch bis vor zwei Jahren war es Johannas ältere Schwester gewesen, die dieses Erbstück zur Schau gestellt hatte. Wenige Tage danach war um ihre Hand angehalten worden und ebenso wenig später war sie dann plötzlich verheiratet gewesen. Bis vor zwei Jahren hatte Johanna stets den Rock ihrer Tante Diana getragen, die bereits von ihnen gegangen war. Man hatte ihr gesagt, dass Diana mehr als doppelt so alt geworden war wie sie. Tante Diana war alt gestorben. In einem Jahr, wenn Johanna entweder rechtzeitig verheiratet oder im schlimmsten Fall verstoßen war, würde der Rock nicht mehr ihr gehören und ihre jüngere Schwester würde dieses Erbe antreten.
Mit einer langsamen Bewegung öffnete sie ihren Schrank und besah sich die blaue Seidenschürze, ebenfalls ein Erbstück ihrer Tante, die sie nur zu gerne heute getragen hätte. An einem anderen Tag, dachte sie betrübt. Den Kopf schüttelnd kehrte sie zu den Kleidern auf dem Bett zurück und zog sich vollständig an: weißer Rock und weiße Bluse, darüber eine weiße Schürze, als Symbol für die geheuchelte Unschuld. Sie betrachtete sich im kleinen Spiegel über der Anrichte und befand ihren Anblick für makellos. Ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht auch wenn der Mühlstein sie zu Boden zu zerren drohte und sie sich alle Mühe gab ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie nahm auf dem unbequemen Holzstuhl Platz und begann sich die Haare zu einem Zopf zu flechten, einem Gretchenzopf, der ihre Haare wie eine Krone präsentieren würde. Mutter und Vater werden stolz auf mich sein, dachte sie und betrachtete ihr zur Maske gewordenes Gesicht, in dem sich nun kein Lächeln mehr fand.

Das Dorf kam erneut zusammen und zwängte sich in die schmalen Kirchenbänke. Die Männer nahmen auf der rechten Seite Platz, die Frauen auf der linken. Die unverheirateten Kinder saßen in den vorderen Reihen. Während sie sich alle setzten, ließ Johanna den Blick umherschweifen. Er blieb zunächst auf ihrer kleinen Schwester liegen, die noch zu jung für die volle Zeremonie war. Sie blickte weiter zu ihrem Bruder, der in seinem schneeweißen Leinenanzug ungeheuer schneidig aussah. Hinter ihr saß ihre ältere Schwester, deren Bauch unter ihrer roten Schürze deutlich zur Geltung kam, daneben ihre Mutter, die bald so alt wie Tante Diana sein würde. So hoffte es Johanna zumindest. Selbst von hier konnte sie erkennen, dass ihr das Schlucken Schmerzen bereitete. Sie hatte versucht, ihre geröteten Wangen mit etwas Farbe zu verdecken und doch wusste jeder im Dorf, wie sich das Purpurfieber äußerte und wie man es kaschierte.
Der Kapellmeister ließ seine Finger donnernd auf das Klavier niederfahren. Sie nahmen Haltung an. Lukas betrat die Kanzel, sah sie alle streng an und begann seine Predigt. Johanna war froh, dass er sie wie alle anderen behandelte und weder ignorierte noch besonders anstarrte.
„Das Böse wächst immerzu, wir alle tragen es in uns." Nach den letzten Worten besah er zunächst die Seite der Männer, dann die der Frauen und ließ seinen Blick dort länger verweilen.
„Doch heute ist der Tag der Erlösung und wir werden den Dämon für ein weiteres Jahr aus unserer Mitte verbannen."
Johanna gab sich keine große Mühe seinen Worten zu folgen. Sie überlegte sich stattdessen, wie sie nach dem Gottesdienst die Leute ablenken und von den Häusern fernhalten konnte. In der Metzgerei standen noch immer die zahlreichen Eimer voll mit Schweineblut. Wenn sie dort ungesehen hinein und wieder zurück zur Kirche gelangen und hier ihr Unheil verrichten könnte, würde das die Leute beschäftigen und ihr ausreichend Zeit verschaffen, um unbemerkt ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, die wärmenden Sonnenstrahlen kühlten merklich aus. Johannas Mutter nahm ihre Tochter bei der Hand und entzündete die Kerzen in der Stube.
„Mein Schatz, was ist mit deiner Kette?"
Johanna sah an sich herunter, doch die silberne Kette, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, lag nicht mehr um ihren Hals.
„Ich hatte sie mir noch vor dem Gottesdienst umgelegt", gab sie zurück.
„Vermutlich ist sie dir beim Gebet vom Hals gerutscht."
„Ich werde nachsehen gehen."
Ihre Mutter griff rasch nach ihrem Handgelenk.
„Nein, du bist bereits gesegnet worden. Breche nicht den Zauber. Ich werde selbst danach suchen. Gehe du nach oben und suche dir solange eine von meinen Ketten aus, falls ich sie nicht finde."
Ihre Mutter hatte die Osterfeierlichkeiten schon immer ernster als alle anderen genommen. Sie verzog das Gesicht als sie schlucken musste und schritt hinaus in die Abenddämmerung.
Es verging nur eine kurze Zeit, in der Johanna in ihrem Zimmer wartete. Dann hörte sie einen entsetzten Schrei aus Richtung der Kirche. Das war das Zeichen für Johanna und sie erhob sich, öffnete das Fenster und stahl sich in dem schwindenden Licht davon.
Das Haus von Lukas befand sich natürlich in der Nähe der Kapelle und war damit gefährlich nahe am Geschehen gelegen. Aber sie wusste auch, dass das rückwärtige Fenster im Obergeschoss nicht richtig schloss und außerdem vermutlich die meisten Erwachsenen auf dem Kirchplatz sein würden. Sie stieg leise hinein und achtete darauf, das Fenster so zu verschließen, dass sie lautlos wieder verschwinden konnte, es von außen aber nicht geöffnet aussah.
Das Haus war klein. Lukas lebte allein und hier gab es nur seine Habe. Seine Frau war letztes Jahr bei der Geburt des gemeinsamen Kindes gestorben, ebenso wie das Kind.
Ich würde die Schachtel in der Stube verstauen, dachte sie bei sich und trat in das vom Kaminfeuer erleuchtete Zimmer. Sie ging auf die Knie, damit sie durch die Fenster nicht gesehen werden konnte, und schlich zum Tisch.
Die Schachtel wog um einiges mehr, als sie gehofft hatte. Vorsichtig hob sie sie auf den Boden und vergrub ihre Finger im Span. Sie war das älteste unverheiratete Mädchen im Dorf und daher dauerte es nicht lange, bis sie eine Handvoll Holzplättchen mit ihrem Namen darauf gefunden hatte.
Wie viele davon hat dieses Scheusal hinein getan?, fragte sie sich. Lukas hatte sich Mühe gegeben, das konnte sie sehen. Ihr fiel allerdings auf, dass die Buchstaben weniger schnörkelig als bei ihr geraten waren. Die jahrelange Erfahrung ließ sich wohl nicht so einfach imitieren.
Sie hatte sicher bereits alle Plättchen gefunden, die er hinzugefügt hatte, nahm bei der Gelegenheit aber noch einige der ihren heraus. Sie wollte ihm keinen Anlass geben, über sie zu triumphieren.
Das war genug, sie durfte nicht länger hier bleiben. Behutsam stellte sie die Schachtel zurück auf den Tisch und achtete darauf, sie so zu platzieren, wie sie vorher gestanden hatte. Sie huschte ins Obergeschoss und stieg flink aus dem Fenster, jedoch nicht ohne sich vorher noch zu versichern, dass ihre Stiefel keinen Schmutz hinterlassen hatten. Zuhause angekommen nahm sie eine Kette ihrer Mutter vom Haken und legte sie geschwind an. Sie stieg die Treppe hinunter und ging in die Stube, in der ihr Vater, ihre jüngere Schwester und ihr Bruder bei Tisch saßen.
„Was ist da draußen los?", fragte sie, ging zum Kamin und schürte das Feuer. Auf der abgewandten Seite holte sie die Holzplättchen hervor, legte sie in den Kamin und verbarg sie in der Glut. Befriedigt beobachtete sie wie ihr Name ins Schwarze verging und in den Flammen verschwand.
„In der Kirche ist etwas vorgefallen. Deine Mutter wird bald zurück sein. Wo bist du gewesen?", fragte ihr Vater.
„Meine Kette ist verschwunden. Mutter hat mich nach oben geschickt, damit ich mir die ihre leihen kann."
„Mir gefällt es nicht, dass du ihren Schmuck trägst. Nicht heute Abend."
Bevor er noch mehr hinzufügen konnte, ging die Tür und ihre Mutter trat ein. Vier Augenpaare richteten sich neugierig auf sie.
„Jemand hat den Altar verunstaltet. Es ist alles voller Blut."
Johanna sprang zusammen mit den anderen entsetzt auf.
„Dieser Andreas ist ein ganz furchtbarer Junge", sagte ihre Mutter. „Ich bin sicher, dass er es gewesen ist."

Die Nacht senkte sich über sie, als die Dorfgemeinschaft sich ein drittes Mal auf dem Platz vor der Kirche versammelte. Sie standen dicht gedrängt in einem Halbkreis um ein Podest. Wie zuvor in der Kirche, waren die Kinder im vorderen Teil der Menge, ein jedes hielt ein Kerzenlicht in beiden Händen.
Johanna fror bitterlich in ihrer dünnen Bluse und war froh als Lukas endlich das Podest betrat und die Zeremonie damit eröffnete.
Lass es einfach vorbei sein, dachte sie verbittert.
Markus hielt die Holzschachtel in Händen und trug sie nach vorn zum Pult. Andächtig blieb er daneben stehen.
Lukas ließ seine Stimme anschwellen und knüpfte ohne Umschweife an seine Predigt aus der Kirche an. „Das Böse weilt noch immer unter uns. Wir werden es nie ausmerzen können, aber wir können dem Teufel aufs Neue einen Schlag versetzen.“
Er hob eine Hand und vergrub sie langsam in der kleinen Kiste. Er ließ sie gründlich darin umher wandern. Für Johanna klang das Rascheln des Holzes ohrenbetäubend und erinnerte sie an spitzes, trockenes Heu, das einem in den Rücken stach sobald man sich darauf niederlegte.
Lukas zog seine Hand aus der Schachtel und präsentierte ihnen verdeckt das Plättchen, selbst er konnte nicht erkennen, was darauf geschrieben stand. Johanna hielt den Atem an. Niemand sprach, man hörte nur das Flackern der Kerzen.
Lukas starrte auf den Schriftzug in seiner Hand. Dann hob er den Blick und fand den Johannas. Seine Miene drückte Unverständnis und Wut aus, er wirkte als würde er die Zähne aufeinander pressen müssen. Er holte einmal tief Luft und rief es in die schweigende Finsternis.
„Johann", donnerte seine Stimme über den Platz.
Johanna fühlte das Leben aus ihr weichen. Es war alles vergebens gewesen. Ihr stolzer Trotz, die Angst, der abendliche Streifzug, es war vorbei. Jahr für Jahr war ihr bei der Ziehung der Namen das Herz stehen geblieben, doch war der Kelch stets an ihr vorüber gegangen, bis heute. Sie hatte sich oft gefragt, was ihr ein größeres Unheil bedeutete: Ihren Namen auf dem Los zu finden oder vorzeitig einen Idioten zu heiraten, der sie verprügelte, wenn sie nicht bald guter Hoffnung wäre. War ihre ältere Schwester glücklich? Nein, nur eine Närrin findet in dieser Welt ihr Glück.
Es schien keine Zeit vergangen zu sein, auch wenn die Welt sich für sie bis ins Unermessliche zu dehnen schien. Sie stand in der letzten Reihe in der Schar von Kindern und ein jedes drehte sich zu ihr um. Sie erkannte gleichgültige Masken, neugierige wie auch erschrockene Blicke. Doch dann stellte sie fest, dass die Aufmerksamkeit gar nicht ihr galt. Sie alle sahen zu der Gestalt, die neben ihr wie angewurzelt da stand.
Ihrem Bruder fiel die Kerze aus der Hand, sein Gesicht hatte die Farbe von weißem Kalk angenommen. Johanna stürzte auf die Knie, unfähig sich zu bewegen.
„Johann, bitte tritt nach vorn", sagte Lukas mit stoischer Stimme.
Ihr Bruder löste sich aus seiner Starre und stolperte durch den Gang, der sich vor ihm aufgetan hatte. Manche der Kinder, an denen er vorüber ging, berührten ihn an der Schulter. Seine kleine Schwester hatte einen Ausdruck des Unverständnisses im Gesicht. Ihr Name befand sich noch nicht in der Schachtel. Sie würde das Unglück der Ungewissheit erst noch auf sich zukommen lassen müssen. Manche der Kinder steckten tuschelnd die Köpfe zusammen als Johann sie passierte. Am Podest angekommen, begann er am ganzen Leib zu zittern. Lukas zählte drei mal zehn Holzstücke ab, warf sie in ein Leinensäckchen und hängte dieses Johann um den Hals. Er legte ihm einen Arm um die Schultern, aber Johann machte keine Anstalten sich zu bewegen. Lukas verlieh seiner Absicht mehr Nachdruck. Johann brach wimmernd zusammen. Mit vereinten Kräften wollten ihn Lukas und Markus wieder auf die Beine heben, doch er trat schreiend um sich.
Johanna grub die Finger in ihr Gesicht und unterdrückte ein Schluchzen. Sie konnte hören, wie hinter ihr Münzen die Besitzer wechselten und jemand im Flüsterton über eine verlorene Wette fluchte. Das hatte sie nicht gewollt. Nicht ihr Bruder. Zwölf verschonte Lebensjahre. Zwölf lächerliche Namensplättchen. Zwölf Mal Unglück, geschehen in einem einzigen Augenblick.
Lukas hielt Johann fest am Arm und begann wieder zu sprechen. „Es sind die Tage des Herrn, die Tage seines Todes, seiner Ermordung. Ein bitterer und feiger Verrat liegt dem zugrunde. Ein Verrat, bei dem sich der falsche Jünger durch den Tod am Strick jeder Verantwortung entzog. Doch wir sind stärker, wir sind gnadenloser. Wir wissen um den Dämon und dass dieser nicht durch einen einfachen Feigling am Baume bedeutungslos wird.“
Lukas wandte sich Johann zu und deutete auf das Säckchen, das ihm um den Hals hing. „Nimm diese dreißig Münzen und bezahle den Satan, der dich geschickt hat.“
In Johanns Augen stand das blanke Entsetzen.
Man packte Johannas Bruder grob unter den Armen und schleifte ihn hinüber zu dem Stapel aufgeschichteten Holzes. Er wehrte sich immer noch, konnte aber nichts dagegen ausrichten, dass man ihn an den Pfahl lehnte und seine Hände unsanft auf dem Rücken zusammenband. Markus holte die Holzschachtel, stieg zu Johann hinauf und leerte die verbliebenen Namensschilder zu seinen Füßen aus.
„Nein!", schrie Johann als Lukas die Holzscheite mit einer Fackel entzündete. Seine Stimme überschlug sich und er warf den Kopf hin und her, zerrte an seinen Fesseln und wand sich wie ein waidwundes Tier. Die Flammen loderten auf, als sie sich knisternd durch das weiche Birkenholz der zahllosen Holzplättchen fraßen und an deren zarter Rinde leckten. Beißender Rauch stieg auf.
„Warum hast du mich verlassen?", kreischte Johann und riss seinen Kopf nach hinten. Ein Holzscheit knackte und stieß Funken aus, die sich in seinem Haar verfingen und dort weiter glühten. Die Lohen erreichten den Leinenstoff seiner Hose und setzten sie in Brand. Das Feuer verzehrte seine unschuldige Haut und er brüllte vor Schmerz.
„Wir richten dich, du Judas. Wir richten dich an seiner Statt. Wir richten dich in effigie.“
Die Dorfbewohner, diese heuchlerischen Schafe, sprachen wie aus einem Munde.
Johanna schloss die Augen und spendete eine Träne. Sie betete, dass ihr Bruder das Bewusstsein verlor und es schnell vorüber sein möge. Sie betete um Gnade. Doch die Gnade war vor langer Zeit verschieden und Jahr für Jahr wurde die Hoffnung darauf erneut verbrannt. Jeder von ihnen hatte den Scheiterhaufen verdient. Zwölf Mal der Name ihres Bruders. Zwölf Mal Unglück. Zwölf Mal Befreiung. Befreiung für wen? Wurde ihr Bruder befreit oder sie? Stand er im Fegefeuer während sie in die Hölle zurückkehrte?
Lukas hatte ihr gedroht, dass dieses Jahr ihr Platz in den Flammen sein würde. Sie hatte sich befreit, von ihm und der Schuld, die nicht die ihre war. Lukas war der eigentliche Dämon, der sie alle quälte. Der teuflische Priester stand auf der anderen Seite des Scheiterhaufens und suchte erneut ihren Blick. Seine bösen Augen loderten heißer als das Feuer, das er entzündet hatte. Ein hämisches Lächeln umspielte seine Lippen. Er wusste es, dachte sie. Er wusste, dass sie den Altar mit dem Schweineblut entweiht hatte und er wusste von ihrem Einbruch in sein Haus. Er wusste alles. Und doch hatte er sie nicht verraten. Johanna hatte sich befreit und damit ihren Bruder, ihren unschuldigen Schützling, den Flammen preisgegeben. Auf eine andere Art hatte sie sich selbst bestraft und eine viel größere Schuld auf sich geladen. Sie würde sie durch dieses falsche Ritual nicht tilgen können. Es war noch lange nicht vorbei. Sie hatte sich dem bösen Priester, dem falschen Kleriker des Dorfes entzogen. Doch wofür? Wenn sie in einem Jahr wie durch ein Wunder erneut den Flammen entging, würde sie spätestens wenige Tage nach dem Osterfest verbannt werden. Dies kam einem Todesurteil gleich. Sie machte sich keine Hoffnungen. Lukas würde einen Weg finden, ihr bis dahin alle nur denkbaren Qualen zu bereiten. Und doch hatte sie überlebt und ihm das genommen, was ihm das Einzige zu sein schien.
Johann schrie nicht mehr. Der Kopf hing ihm auf der Brust. Er war eine menschliche Fackel, fest gebrannt am Pfahl, der nicht sein Kreuz sein würde. Johanna lebte für ein weiteres Jahr in der Hölle, umringt von hungrigen Schakalen.

 
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Hallo @Tuoni ,

ganz herzlich willkommen im Forum! :gelb:

Ich komme erst mal nur mit einer ganz kurzen Bemerkung / Korrektur: In effigie. Also klein im Titel. Anders als im Englischen existiert der lateinische Begriff im Deutschen nicht als Substantiv bzw. ist es hier auch gar nicht substantivisch verwendet, und anders als im Englischen wird bei deutschen Titeln die reguläre Groß -/Kleinschreibung beibehalten (also identisch zur Verwendung im Textkörper wie bei einem Satzanfang).

Und ein Tipp zum Durchgehen, vielleicht bis die erste ausführliche Kritik kommt: Ich hab nicht grundsätzlich was gegen Adjektive oder Adverbien, aber du hast wirklich einen Overkill im Text, der sogar das Lesen erschwert und oft nichts Wesentliches zum Bild beiträgt (oder schwarze Rappen sind wie "weißer Kalk"). Da rate ich mit Nachdruck, selbst noch mal mit einem kritischen Auge durchzusieben, welches dieser Adjektive/Adverbien du tatsächlich benötigst, und ob diese Wörter selbst interessant, stark sind oder gut im Satz klingen (versus: Sie ziehen die Aussage unnötig in die Länge = verlängern das Erfassen des Inhalts und nehmen dem Leser die eigene Phantasie bzw. erreichen nur ein 'stating the obvious').

Und ich lege dir unbedingt ans Herz, dich auch hier im Forum mit Kommentaren zu beteiligen - denn nicht nur du möchtest Rückmeldungen zu deinem Text: das möchten hier ja letztlich alle. ;) Dann sind Mitglieder auch eher bereit, mehr Zeit, Aufmerksamkeit und Arbeit in deinen Text zu investieren.

Herzliche Grüße, dir ein schönes Wochenende,
Katla

 
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Hallo @Tuoni ,
willkommen in dieser Runde!

Du beginnst deine Geschichte mit einer der drei häufigsten, zugleich abgenütztesten Anfänge in der Literatur, einer Wetterstimmung. Der Plot handelt von einer mörderischen Dämonenaustreibung, die offenbar alljährlich in einem fiktiven Dorf stattfindet und seine Einwohner terrorisiert. Du bemühst dich um einen eher altbackenen, literarischen Stil, der da und dort umständlich gerät und manche Sätze unnötig in die Länge zieht. Dazu ist der Text stellenweise getränkt mit Adjektiven und Adverbien.
Bekannte Versatzstücke aus Geschichten ähnlicher Art, wie mittelalterliches Setting, inquisitorisch veranlagter Pfarrer, brennender Scheiterhaufen, entstelltes Gesicht eines ansonsten bildhübschen Mädchens, verschmähte Liebe, die in tödlichen Hass umschlägt, der sich an einem unschuldigen Ersatzopfer entlädt, dominieren die eher schlichte Story.
Es gibt keine Wendung, keine Brüche, anscheinend geht der Terror des Pfarrers ungestört weiter. Ein Aufstand der Dorfbewohner mit einem schlussendlich lodernden Inquisitor hätte m.A.n. mehr Esprit in den Plot gebracht; auch ein offenes Ende, aber mit alternativer Perspektive für das Mädchen und das gesamte Dorf.
Ich finde, du kannst gut erzählen, wenngleich mich deine Geschichte nicht mitgerissen hat. Das liegt einerseits an der Sprache, andererseits ist mir manches zu wenig ausgearbeitet, zu vordergründig umrissen. Besonders was die Profile der Figuren anlangt. Den inhaltlichen Höhepunkt bildet das schreckliche Schlussbild, der Rest wirkt auf mich eher belanglos.

Sorry für die geringe Begeisterung meinerseits, ist alles subjektiv, mal sehen, was andere Leser dazu sagen.

Netten Gruß! :)

 

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