Was ist neu

Innovation oder Schrott?

Seniors
Beitritt
10.11.2003
Beiträge
2.248

Innovation oder Schrott?

„…der Husten verfolgt mich sein eigenartiger flacher Husten der mich niederdrückt weil ich ihn nicht habe der Trümmerhusten dessen Existenzmöglichkeit noch jetzt von den Behörden geleugnet wird als eine neue Krankheit als Fingerabdruck Lungenabdruck die in der Brust verankerte Authentizität der Zeugenschaft er war tatsächlich und unmittelbar dabei als
die Türme fielen
am HEILIGEN DIENSTAG
wie sie es nennen
während ich in Amherst durch die Amitiy Street…“

Das ist ein Zitat aus dem Buch „September. Fata Morgana“ von Thomas Lehrs, der den Berliner Literaturpreis 2011 bekommen hat, weil er mit seinem bisherigen Werk (5 Romane und 1 Novelle) „einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geleistet“ habe.

Zu dem Buch, das gänzlich auf Interpunktion verzichtet, gab es natürlich auch Gegenstimmen – die schärfste wohl von Jens Jessen in der Zeit -, aber soweit ich das überblicken kann, sind sich die Kritiker einig: „September. Fata Morgana“ ist ein bedeutender Roman und Thomas Lehr zu Recht der Preisträger.

Ich frage mich, ob dieser Text ohne Satzzeichen nur eine weitere Eintagsfliege im Literaturbetrieb sein wird, oder eine in Zukunft weisende Innovation, die es bald auch bei uns außerhalb der Rubrik Experimente geben könnte?

Was meint ihr?

 

Klar, das wird was. Wie die Zwölftonmusik. Die wurde anfangs ja auch verspottet, und jetzt kann man sich die Hitparade ohne sie gar nicht mehr vorstellen! :D

 

Ich kenne das Buch nicht, weswegen ich mich einer Wertung verschließe.
Aber ohne Interpunktion ist mir das Lesen zu anstrengend.
Das Auge verliert sich dann zu schnell im Text und geistig setze ich sie ja dann doch.
Sicher wäre es ein sprachlicher Hochgenuss, wenn die Grenzen der Sätze verschwänden und je nach eigener Interpunktion sich der Inhalt ein wenig anders läse.
Aber ob dieses Ziel erreicht werden kann, sehe ich in der Allgemeinheit nicht gegeben. Da bleibe ich vorerst noch bei meinen Leisten.

 

Also ich finde, wenn es als Stilmittel gut funktioniert, wie bei diesem litaneiförmigen Inhalt, der dessen haltlosen Herauspressen noch verstärt, dann: los!
Es passt doch hervorragend!
Andere Texte würden wahrscheinlich an ihrem Verlust der Interpunktion zugrunde gehen.

Ich glaub nicht, dass man Punkt und Komma per se als Gesetz ansehen sollte, sondern eher als Funktion. Wenns funktioniert, kann man es auch weglassen, oder?

Grüße, S.

 
Zuletzt bearbeitet:

Kann man nur so bezeichnen, billigerweise: Geschwätz ohne Punkt und Komma.

Würde es damit den Sprachstil und eine Aussage stützen, wär's für zwischendurch vllt geckig. So eher sinnlos. Wie dieses Annähern an schreiben-wie-gesprochen. Da kommt dann sowas wie Pultzarder bei raus. Ich bin für Wiedereinführung der Prügelstrafe in Schulen, dann wird das schon mit Deutschland und PISA.

Weglassen von Satzzeichen selbst ist weder Innovation noch Schrott - es kann kreatives Stilmittel sein (hier ist die Qualität des Textes selbst halt grottig), aber es würde nicht grundsätzlich das Verständnis von Texten erleichtern, im Gegenteil. Da viele Schüler eh an Konzentrationsstörungen leiden, würde es vllt den Spracherwerb verzögern, müßten die das im Deutschunterricht der Zukunft auch noch alles nach Zugehörigkeit und Aussage auseinanderfüsseln.

Kommata verändern den Sinnzusammenhang in Satzverbindungen, daher kann ein Weglassen nie mainstream werden. Die Beschränkungen wären zu groß (wie man ja hier am Bsp gut sieht).

 

Ich weiß nicht ich finde das geht schon irgendwie so zu schreiben weil naja man redet ja auch immer ohne Punkt und Komma und manchmal muss man dann halt doch
eine Pause machen
oder zwei
aber dann redet man weiter und überlegt sich ob es sich lohnt dieses Buch zu lesen oder sogar einmal genau so zu schreiben weil es ja so lustig ist mit ohne Satzzeichen das ist ja toll das ist so richtig toll weil man einfach drauflosschreiben kann
einfach drauf los
ohne zu überlegen was man da für einen Blödsinn verzapft eigentlich und so denk ich naja wenn es für was gut ist und ich glaub für irgendwas ist es gut und wenn es nur dafür gut ist sich den Hintern damit abzuwischen so ist es immerhin besser als nichts
und dann denk ich mir ich solls auch mal probieren dieses Kommalose dieses Punktlose dieses Konturlose weil die Kontur dann woanders her kommt vielleicht naja und so lässt sich vor allem
ein Buch füllen
ganz schnell
weil man sich nicht mehr an Punkten aufhängen muss und so

ich find den Stil gerade furchtbar interessant und muss das nochmal bisschen mehr ausprobieren so um rauszufinden wie es sich anfühlt aber das Buch werd ich mir deswegen nicht kaufen weil ich jetzt eh schon alles rausgezogen hab was mich interessiert schätz ich

 

*mit dramatischer Geste den Literaturpreis 2011 an Yours überreich* :read:

 

Die Sprache ist für den Autor und den Leser da, nicht der Autor und die Leser für die Sprache. Sie soll dazu dienen, daß Autor und Leser sich begegnen.
Wenn es diesem Ziel hilft, sich über die Regel hinwegzusetzen, ist es okay. Ich selbst begrüße z.B. die Form, Dialoge ohne Anführungszeichen und ohne "sagte er" und "sagte sie" zu schreiben; es liest sich schöner (z. B. bei Juli Zeh, Adler und Engel). Es kann auch eine besonders intensiv aufzunehmende Kunstform daraus werden, die Regeln hinter sich zu lassen. Ein Musiker muß ja auch nicht immer in der Tonart bleiben und den Takt nach einem Metronom ausrichten.
Das von Dir abgedruckte Beispiel macht mir wenig Lust, diesen Text bei ... zu bestellen, damit er per Overnightexpress morgen im Briefkasten ist. Hier wird eine Banalität in einer banalen Verpackung serviert in der Hoffnung, nun werde es originell.

 

Ich frage mich, ob dieser Text ohne Satzzeichen nur eine weitere Eintagsfliege im Literaturbetrieb sein wird, oder eine in Zukunft weisende Innovation, die es bald auch bei uns außerhalb der Rubrik Experimente geben könnte?

Das haben andere Literaten schon viel früher gemacht. Beispielsweise der unvergessliche österr. Schriftsteller, H.C. Artmann, mit seinem Roman: Nachrichten aus Nord und Süd, erschienen im Residenz-Verlag, 1978.
Das ganze Werk kommt ohne Groß- und Kleinschreibung und jeglicher Satzzeichen aus und ist auch noch hochliterarisch. Lesenswert!

Lieben Gruß,
Manuela :)

 

Das haben andere Literaten schon viel früher gemacht.
Okay, der Begriff Innovation war wohl falsch gewählt, aber selbst wenn es schon früher Versuche mit Nullinterpunktion gegeben hat, so beweist der neuerlicher Streit in den Feuilletons, dass das Thema nach wie vor virulent ist – die Frage müsste vielleicht lauten: Ist der völlige Verzicht auf Interpunktion ein legitimes Stilmittel in der Literatur?

Ich glaube ja – siehe yours trulys Beitrag. :thumbsup:

 

Jo, klar ist das ein legitimes Stilmittel. Sowas wie "illegitim" gibt es nicht. Man kann auch bildzeitungsmäßig alles, was man für wichtig hält, fett schreiben, und es wäre noch legitim.
Oder man macht extrem kurze Kapitel, weil man für Leute schreibt, die ihre Bücher in der U-Bahn lesen und zu jeder Zeit damit aufhören können müssen.
Ich wäre kein Fan davon ein Buch ohne Satzzeichen zu lesen; der Kommentator wohl auch nicht, aber legitim ist das natürlich. Gab's allerdings auch schon vorher, also nix Neues.

 

Ist der völlige Verzicht auf Interpunktion ein legitimes Stilmittel in der Literatur?

Zu manchen Inhalten passt das ganz hervorragend. Fehlende Interpunktion treibt ja richtig durch den Text - nicht das angenehmste Lesen, aber effektvoll und wenn es den Inhalt stützt, kriegts von mir den Daumen nach oben.

Ich glaube ja – siehe yours trulys Beitrag.

Washupda hats heut zuerst nachgemacht! ;)

 

Ich weiß nicht ich finde das geht schon irgendwie so zu schreiben weil naja man redet ja auch immer ohne Punkt und Komma
Klar, wenn man Gülcan heißt und auf Viva einen Clip anmoderiert.

Menschen, die ohne Punkt und Komma reden, sind ja nicht einfach so nervig. Genau wie dieser Stil. Ich find's lächerlich, mit welchen Mitteln einige verkrampft versuchen irgendeine Authentizität in ihre Texte reinzubringen; es gibt bessere Mittel, um die gesprochene Sprache zu imitieren.
Kann man sicher machen, auf die Dauer ist es nervig. Hubert Selby hat in seinen Büchern (zumindest, die ich gelesen habe) auch seine eigene Interpunktion, die das Lesen nicht erschwert, was hier der Fall ist.

(Und warum musst du, Dion, für jeden Käse n Thread aufmachen? :P Eröffne doch einfach einen Thread für "literarische" Fragen :P)

 

Makita hat den Vergleich mit der Zwölftonmusik angeführt. Wenn ich mich recht entsinne, wurde die ja auch vom "Kongress für kulturelle Freiheit" gesponsert, wie die abstrakte Malerei und Literaten wie Böll, Lenz und andere. Der "Kongress für kulturelle Freiheit" ist eine CIA-Organisation:

http://de.wikipedia.org/wiki/Kongress_für_kulturelle_Freiheit

Haben die nun wieder zugeschlagen?

 

Zu manchen Inhalten passt das ganz hervorragend. Fehlende Interpunktion treibt ja richtig durch den Text - nicht das angenehmste Lesen, aber effektvoll und wenn es den Inhalt stützt, kriegts von mir den Daumen nach oben.
Ja, da hab ich immer Bauchschmerzen. Das klingt wie so ein Allheilmittel: Wenn ich Interpunktion weglasse, dann entsteht ein Sog. Das sind so Taschenspielertricks. Es wäre viel erstrebenswerter, wenn der Inhalt des Textes dafür sorgen würde, dass es den Leser durch den Text treibt und nicht so etwas.
Es sind halt Versuche, Alleinstellungsmerkmale zu gewinnen, wenn das einzig redliche Alleinstellungsmerkmal die Qualität sein ... müsste.

 

Also gerade du als einer der besseren Autoren weißt ja wohl, dass Form und Inhalt ein gutes Zusammenspiel bilden müssen, um einen Leser wirklich mitzunehmen. Gerade die Taschenspielertricks trennen doch die Spreu vom Weizen.

Ich würde die hier angebrachte fehlende Interpunktion aber weder als Innovation, noch als Schrott bezeichnen. Es ist eine Art, einen Text darzustellen. Solche Arten gibt es so viele verschiedene, da würde ich nicht bei jeder stärker von der Norm abweichenden gleich ein Fass aufmachen.

 

Ich weiß nicht ich finde das geht schon irgendwie so zu schreiben weil naja man redet ja auch immer ohne Punkt und Komma
Klar, wenn man Gülcan heißt und auf Viva einen Clip anmoderiert.
Man müsste jetzt natürlich fragen, ob Thomas Lehrs einen Migrationshintergrund hat, oder ob sich die Berliner mit dieser Preisvergabe bei Migranten einschmeicheln wollten – so nach dem Motto, euer Sprech ist jetzt salonfähig.

(Und warum musst du, Dion, für jeden Käse n Thread aufmachen? :P Eröffne doch einfach einen Thread für "literarische" Fragen :P)
Klar, damit wieder ein Monsterthread daraus wird, in dem es um alles und nichts geht, und in dem man ewig suchen muss, um was Brauchbares zu finden?

Nein, JoBlack, hier gibt es ein klares Thema, zu dem man Stellung beziehen kann oder auch nicht – wenn möglich ohne Nörgelei und Ressentiments.

 

hallo Dion,
ich möchte auch eine leise Kritik am Thread üben: so, wie Du es inszenierst, vermischen sich die Kritik an der Form, dem eigentlichen Thema des Threads, und dem präsentierten Beispiel, das den Anlass gibt. Besser wäre es, mehrere Beispiele, vor allem auch überzeugende, zu präsentieren, damit die Diskussion schnell zu den neuen Gestaltungsmöglichkeiten vordringt und sich nicht an dem platten Beispiel festbeißt. Ich finde das Thema eigentlich sehr interessant, sehe aber im Aufmacher und der folgenden Diskussion wenig Ansatzpunkte.
Gruß Set

 
Zuletzt bearbeitet:

NEU ist das jedenfalls nicht – James Joyce schrieb im Ulysses die Schlusspassage von 70 Seiten haargenau so! Der Preis gehört dem Übersetzer Hans Wollschläger für dessen sagenhafte Leistung, dies sinngemäß ins Deutsche zu transportieren!
kinnison

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom