Intensivstation
Schon vor einigen Tagen hatte er die Hand des Arztes gespürt. Sie hatte ihn wissenschaftlich sorgfältig berührt, dort getastet und da gedrückt. Die anschwellende Stimme des Halbgottes hatte ihn eindringlich aufgefordert nun zu erwachen, doch er gab sich keine Mühe, denn er wollte sich nicht regen.
Verschwommen vermutete er die Gesichter, die sich über seinen Körper beugten. Das dumpfe Geräusch medizinischer Apparaturen bestätigte seine Vitalfunktionen mit vehementer Konstanz. Das hüpfende Elektrokardiogramm machte den Umherstehenden Mut, weiter auszuharren, darauf zu warten, daß er wieder erwachte. Er wollte keinen Besuch und keine Schnittblumen, keine kleinen kalten Hände, die die kahlen seinigen ergriffen. Er wünschte sich weder mitleidige Worte noch fromme Gebete, die wie ein eisiger Wind aus kaltem Herzen über seinen Kopf strichen. Die Stimmen drangen an sein Ohr, wie aus einem rostigen Schacht einer Grube tönten sie dumpf bis in sein Innerstes. „twas schrcklichs“ , „so ein nglück“. Manches konnte er verstehen, doch es widerstrebte ihm zu entschlüsseln, Gedanken zu fassen. Die starken Hände der Krankenschwester ergriffen seinen Arm, zogen die Ärmel seines Nachthemdes zurück und legten die Blutdruckmanschette an. Die baumwollene Tasche füllte sich, quoll auf und schien seinen Oberarm zu zerquetschen. Er war nahe daran, eine abwehrende Bewegung zu vollziehen, zu zucken oder gar zu schreien. Es wäre vorbei gewesen, alles umsonst. Alle wollten ihn aus seinem wohligen Gefühl der Schwäche und Trägheit entführen. Unbeschreiblich war die in ihm eingekehrte Ruhe. Sedativer Schlaf schenkte im herrliche Träume, schaumige Wellen, die über ihm zusammenschlugen und ihn einlullten. Illusionen und Visionen, die nie zuvor so klar an seinem inneren Auge vorbeigezogen waren. Keine irdische Sorge quälte ihn.
Sie alle, wie sie hier standen, diese bemitleidenswerten Figuren, versuchten, ihn aus dieser Welt zu verdrängen. Ungeduld wäre in ihren Gesichtern zu lesen gewesen, ihre inneren Uhren verschoben wichtige Termine und errechneten die augenblickliche Zeitverschwendung gedanklich in die Landeswährung um. Doch jeder wollte dabei sein, wenn der alte Greis erwachte, in der Hoffnung, er hätte sein Gedächtnis (und somit auch ihre sämtlichen Schandtaten) verloren und würde dann - im Angesicht der Todesbringer - sein Testament machen, bevor ihn die Schwächlichkeit dahinraffen würde, denn das wünschten sie ihm alle. Gierig nährten sich ihre Blicke an der scheinbar schlafenden Kreatur, Federhalter und Papier waren ebenso bereit, wie der eigens organisierte Notar, der in Anbetracht des Honorars selbst einer schwachsinnig gewordenen Grünstirnamazone volle Zurechnungsfähigkeit attestiert hätte.
Wie schön waren die langen Nächte, die er hier dämmernd verbracht hatte. Die süße Lustlosigkeit des Seins. Mal ordneten sich die umherschwirrenden Muster zu einem wundersamen Augenblick der Transparenz, doch ebenso schnell lösten sie sich wieder auf. Er wollte nicht erwachen, das war sein festes Ziel gewesen. Seine Augen sollten sich nicht weiter öffnen, als sie es unfreiwillig schon getan hatten. Geschlossene Augen, wirbelnd wirre Träume - vorbei ?
Leise Ausrufe verzückten Entsetzens. Erschreckend triviale Ausbrüche von Gefühlen und fehlender Intelligenz. Lächelnde Münder, verrückte Münder, gedrängte Tränen, die nicht rollen wollten und aus der hinteren Ecke des weißen Raumes ein kaum vernehmbarer, erstickter Schrei. Seine Freunde, seine Verwandtschaft, sein gottverdammtes Leben. Er erkannte die Jahre des sinnlosen Daseins, und doch, er erwachte.
Gefühlskaltes Drücken an seinen Händen, der Ruf nach dem Arzt. Warme schwitzende Hände, die an seinen Wangen vorbeirauschten, klebriges Wasser, auf seine Schläfen getätschelt. Warme Luft aus allen Mündern, kleine Tröpfchen aufgebrachter Sprache trafen sein Gesicht. Seine Augenlider benetzt von ihrer Spucke. Sie bespuckten ihn mit ihrer falschen Freude ! Es ekelte ihn an. Schwarz und gelb kreiste es hinter seinen Augen, sein Körper bäumte sich auf, ein unkontrollierbarer Brechreiz ergriff Besitz von ihm. Voluptiös vomierend brachte er es fertig, die gesamte Gesellschaft mit seinem Mageninhalt zu begrüßen.
Während alle betroffen nach ihren Taschentüchern kramten und verlegen angewidert den Gallensaft vom teuren Stoff zu wischen suchten, saß er grinsend auf seinem Bett und wünschte einen schönen Tag. Erleuchtet, gleich einem bauchigen Souvenirbuddha, saß er aufrecht im Bett . Das heutige Datum und die ungefähre Tageszeit konnte er jedoch nicht näher beziffern und lächelte - unzurechnungsfähig - weiter.