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Jahrestag
Die Vorhänge sind zugezogen, der Tisch gedeckt, kleine Lampen tauchen den Raum in ein stimmungsvolles Licht. Hilla faltet zwei Servietten aus weißem Stoff und legt sie auf zwei Teller aus schimmerndem Porzellan. Sie zupft an einem Sträußchen von gelben Rosen, rückt die Gläser zurecht und lauscht auf Geräusche, die von der Straße in die Wohnung dringen. Der Zeiger der Uhr wandert weiter. Um zehn vor sechs schlüpft sie in hohe Pumps, kontrolliert das Essen auf dem Herd und betrachtet sich immer wieder kritisch in einem großen Spiegel, der in der Diele hängt.
Hilla trägt ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihrer schlanken Figur schmeichelt. Dunkle Haare umspielen ihren Kopf, die leicht schrägstehenden Augen sind von einem Kranz seidiger Wimpern umrahmt und verleihen ihrem Gesicht eine geheimnisvolle Note. Sie bewegt sich anmutig zwischen Küche und Wohnzimmer, gelegentlich wirft sie einen Blick auf den Zeiger der Uhr, der die volle Stunde erreicht hat.
Draußen auf dem Kies hört sie Schritte. Hilla eilt zur Tür, um sie zu öffnen.
„Hallo Liebling“, sagt sie.
Der Mann ist hochgewachsen, dunkelhaarig, mit einem sinnlichen Mund. Er ist so viel älter als die Frau, die ihm die Arme um den Hals legt und einen Kuss auf die Lippen drückt.
„Hallo mein Schatz“, antwortet er. „Alles Liebe zu unserem Jahrestag!“ Hinter seinem Rücken raschelt es. „Für dich, meine Schöne!“
Weiße Margeriten, gebunden zu einem Strauß mit fünf roten Rosen drückt er Hilla in die Arme.
„Danke Rolf, vielen, vielen Dank. Rote Rosen, für jedes Jahr eine. Wie schön!“ Eine leichte Röte überzieht Hillas Wangen.
„Ja, vor fünf Jahren habe ich dich getroffen, Liebes, es sollen noch viele Jahre folgen.“
Er zieht sie in seine Arme. „Du duftest verführerisch!“
Hilla lacht und windet sich aus seiner Umklammerung.
„Ich habe gekocht.“
„Ich rieche es. Lecker! Lange kann ich aber nicht bleiben.“ Seine Hände ruhen auf ihrem Po.
„Komm doch erst einmal rein und setz dich. Heute wird gefeiert. Champagner, ein drei Gänge Menü und dann, na du weißt schon.“
„Schade, Liebling, ich kann wirklich nur kurz bleiben.“ Geschickt zieht er an dem langen Reißverschluss, der das Kleid zusammen hält.
„Nein, Rolf, später!“, wehrt Hilla ab. „Warum musst du so schnell wieder weg?“ Ihre Augen funkeln.
„Gabi geht es nicht gut. Ich muss mich um sie kümmern.“
„Immer deine Frau. Wolltest du dich nicht von ihr trennen?“
„Setz dich, Liebling, wir müssen reden.“
„Warum reden?“ Hilla zieht eine Schnute und rollt die Augen.
Rolf zieht die erzürnte Frau zum Sofa und setzt sich dicht neben sie.
„Ich muss dir jetzt etwas sagen. Es fällt mir nicht leicht.“
„Du willst Gabi nicht verlassen? Du hast es versprochen.“
„Ich wollte es dir schon länger sagen. Es wird dir nicht gefallen. Aber es ändert ja nichts zwischen uns.“
„Warum machst du es so spannend? Spuck's schon aus!“
„Gabi erwartet ein Kind.“
„Nein!“ entfährt es Hilla. „Du und Gabi, ihr habt ...?“
„Sei nicht kindisch. Ich bin ein verheirateter Mann, das wusstest du von Anfang an.“
„Hast du nicht immer wieder gesagt, zwischen euch läuft schon lange nichts mehr? Schuft!“
Hillas Lippen sind fest zusammengepresst. Mit einem Ruck steht sie auf.
„Lass uns endlich essen, mach doch bitte die Flasche auf!“
Hoch erhobenen Hauptes stöckelt sie in die Küche, streicht sich eine Strähne aus der Stirn, öffnet das Fenster und lehnt sich weit hinaus. Sie greift nach den Zweigen eines Gewächses, das draußen im Garten steht und löst eine Frucht. Dann schließt sie das Fenster wieder. Wenige Minuten später balanciert sie ein Tablett auf den Händen. Sie lächelt. Der Ärger scheint verflogen zu sein.
„Setz dich Liebling, ich bringe die Suppe.“
„Lass uns anstoßen, Liebes. Auf uns und unsere Liebe!“, sagt Rolf sichtlich erleichtert. Er hält den Kelche in der Hand und bewegt ihn auf Hilla zu.
„Prost, Rolf, auf uns!“ Die Gläser klingen, der Champagner prickelt auf der Zunge. Rolf haucht Hilla einen Kuss auf die Wange.
„Etwas Pfeffer?“ Hilla dreht den Kopf der Pfeffermühle, schwarze Krümel fallen in Rolfs Suppentasse.
„Danke, Hilla, die Steinpilzsuppe ist dir wunderbar gelungen“, freut sich der Mann und führt den Löffel immer schneller zum Mund. Dann hält er inne und hustet.
„Scharf, sehr scharf!“ bemerkt er, räuspert sich und hustet wieder.
„Entschuldige, Liebling, ein Kratzen im Hals. Ich weiß gar nicht ...“
„Aber Lieber, die Suppe ist nicht scharf“, wundert sich Hilla.
Der Hustenanfall wird stärker. Rolf hat sich erhoben, reißt das Fenster auf und atmet schwer.
„Tut mir leid“, stößt er mühsam hervor, „ich gehe jetzt besser“
„Armer Liebling!“ flüstert Hilla und verschränkt die Hände. „Wenn ich dir nur helfen könnte?“
„Gabi hat sicher ein Mittel dagegen“, quält er sich zu sagen.
„Sicher, mein Liebling.“ Behutsam schließt sie die Türe hinter ihm.
Wenige Augenblicke später hebt sie den Telefonhörer und wählt eine Nummer.
„Krause“, meldet sich eine zarte Frauenstimme am anderen Ende.
„Hallo Gabi, ich bin‘s.“
„Und?“
„Ja. Alles klar. Wie besprochen, Rizinus- Samenkörner. In zwei Tagen ist er tot.“
„Danke, Hilla. Ich liebe dich!“
Bis bald, Gabilein, ich liebe dich auch!“