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Jessicas Glück
Ich war schon immer dick.
Meine Mutter liebte es ein Foto von mir herumzuzeigen, auf dem ich aussah wie ein Rubensengel, nur noch ein bisschen dicker. Viereinhalb Kilo, sagte sie dann in einem Ton, der Respekt forderte für die Frau, die eine solche Gebärleistung vollbracht hatte. Viereinhalb Kilo hat das Kind gewogen. Jedenfalls hatte es von Anfang an etwas zuzusetzen, sagte mein Vater dann, und lachte gutmütig. Meine Tante Adelheid, selbst auch nicht die Schlankste, kniff mir in die Wange und sagte: Sie ist nun mal ein süßes Pummelchen, unsere Kleine.
Aber nicht nur ich war dick. Wir waren eine dicke Familie. Das kommt von der sitzenden Tätigkeit, pflegte mein Vater als Begründung anzuführen. Er war LKW-Fahrer bei einer kleinen Spedition, die ihn jeden Morgen auf die gleiche Tour schickte, so dass er am Abend pünktlich zum gemeinsamen Abendessen wieder zu Hause war. Das hatte er sich nach fünfzehn Jahren von seinem Chef ausgebeten, der Familie wegen. Das Abendessen mit uns sei ihm heilig, sagte er. Es gäbe nichts Schöneres als gemeinsam mit seinen Liebsten am Tisch zu sitzen und zu essen.
Meine Mutter hatte auch eine sitzende Tätigkeit. Sie war Kassiererin im Supermarkt und kam den ganzen Tag kaum dazu, ein paar Schritte zu tun. Ihre Arbeit im Supermarkt hatte den Vorteil, dass sie immer bestens informiert war über sämtliche Sonderangebote, sodass wir zu Hause stets einen reichlichen Vorrat an Lebensmitteln hatten. Außerdem war sie eine hervorragende Köchin. Keiner konnte die dicken braunen Bratensaucen so zubereiten wie sie und ihre Schwarzwälder Kirschtorte war legendär. Esst noch, pflegte sie zu sagen, morgen soll es doch schönes Wetter werden. Dazu mussten alle Teller und Schüsseln leer sein, wie man sagt. Kein Wunder, dass wir alle dick waren.
Die sitzende Tätigkeit meines Bruders bestand darin, vor dem Computer zu sitzen. Er war vierzehn und brütete jeden Tag neue Pickel aus, die durch seinen enormen Konsum von Schokoriegeln und Kartoffelchips besonders gut gediehen. Seit kurzem schloss er sich in seinem Zimmer ein und sein Computer hatte ein neues Passwort. Ich vermutete, dass er die Pornoseiten im Internet entdeckt hatte.
Ich selbst liebte das gute Gefühl, völlig ausgefüllt zu sein. Es stellte sich ein, wenn wirklich nichts mehr hineinging in den Magen, nicht mal das kleinste Stückchen Schokolade.
Dieses Gefühl war mit einer gewissen Gleichgültigkeit verbunden, einer Gleichgültigkeit der Welt im Allgemeinen und meiner Welt außerhalb der Familie im Besonderen. Denn alles, was man so hört oder liest über das Schicksal dicker Kinder in ihrem sogenannten sozialen Umfeld, das heißt in meinem Fall Schule und Bekanntenkreis, trifft zu.
Angefangen mit dem schadenfrohen Gelächter der Mitschüler, wenn ich auch beim fünften Versuch, über den Bock zu springen, schmerzhaft mit dem Bauch gegen das Holz klatschte oder wenn ich trotz aller Anstrengungen schon beim ersten Liegestütz scheiterte, bis hin zu den Papierkügelchen mit den Worten 'Bist du nicht bald schlachtreif, du fette Sau?' Jede nur denkbare Gemeinheit habe ich in meiner Schulzeit erlebt. Mit der Zeit machte es mir nicht mehr so viel aus, und weil ich alles gelassen hinnahm, verloren die anderen irgendwann die Lust daran, mich zu mobben.
Einen gewissen Respekt erwarb ich mir dadurch, dass ich eine recht gute Schülerin war. Natürlich nicht zu gut, dafür wusste ich zu sorgen, denn das hätte dem Stigma der Dicken noch das der Streberin hinzugefügt, und das wäre absolut tödlich gewesen. Nein, aber doch so gut, dass man sich nicht zu schade war, von mir abzuschreiben, oder die Hausaufgaben von mir machen zu lassen.
Es gab eine Zeit, da hätte ich gerne eine richtige Freundin gehabt, eine Freundin, mit der man Kissenschlachten machte, die einem zeigte, wie man sich richtig schminkt oder mit der man sich ausmalte, wie es sein würde, wenn man zum ersten Mal mit einem Jungen Sex hatte. Aber keines der schlanken Mädchen in meiner Klasse wollte etwas zu tun haben mit mir.
Doch dann kam Felix. Felix war der Auszubildende des Bäckers, der die Backstube im Supermarkt meiner Mutter betrieb. Ich verdiente mir in den Sommerferien etwas Geld dort, indem ich die Regale aus- oder einräumte und allerlei Hilfsdienste verrichtete.
„Hallo“, sagte er und lächelte mir fröhlich zu. Ich blieb wie erstarrt stehen, unfähig mich zu rühren. Er sah aus wie ein junger Gott in seiner gestreiften Bäckerschürze und mit der kleinen weißen Haube auf den blonden Haaren. Michelangelos David war nichts dagegen. Augenblicklich wurde ich mir meiner Figur in dem rosafarbenen Supermarktkittel bewusst. Ich sah darin sicher aus wie ein dickes rundes Glücksschwein! Meine Ohren brannten, ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte, meine Füße waren wie angenagelt und die Palette H-Milch, die ich auf den Armen trug, wurde plötzlich tonnenschwer. Die Welt um mich herum schien stillzustehen.
„Hallo“, brachte ich schließlich heraus. Meine Stimme muss geklungen haben wie das Piepsen einer minderbemittelten Maus.
„ Ich bin der Felix“, sagte er mit einer Unbefangenheit, die mich umhaute. „Arbeitest du hier?“
„Nur in den Ferien.“ Hoffentlich konnte er nicht hören, wie mein Herz hämmerte.
„Okay. Dann sehen wir uns sicher öfter jetzt. Ich bringe jeden Morgen die Sachen hierher.“
Er winkte mir abschießend zu und verschwand mit seinen leeren Brotkörben. In der folgenden Nacht hatte ich einen wilden erotischen Traum. Runde, knusprige Brötchen kamen darin vor, pausbackige Engel und Michelangelos David, der eine gestreifte Bäckerschürze trug.
Mit kalten Händen und klopfendem Herzen wartete ich am nächsten Morgen auf Felix, und als er mit einem großen Korb herrlich duftender backfrischer Brotlaibe auftauchte, stand ich schon da in meinem rosa Kittel.
„Ich heiße Jessica“, wagte ich zu sagen, und er antwortete: „Schöner Name, Jessica.“
Dann lud er mich zu einem Kinobesuch ein. Den ganzen Tag lief ich mit einem grenzdebilen Lächeln durch die Gegend, so dass meine Mutter fragte, was denn mit mir los sei. „Ich habe eine Verabredung heute Abend. Ins Kino!“
„Das freut mich, Jessica. Es wird ja auch Zeit, dass du mal ausgehst.“ Ich gab meiner Mutter einen Kuss auf ihre runde Wange. Die Welt war plötzlich rosa geworden, so rosa wie mein Supermarktkittel.
Wir sahen Avartar in 3D. Aber ich habe nicht viel in Erinnerung behalten von dem Film. Anschließend gingen wir in die Imbissstube gleich neben dem Kino, und Felix bestellte uns Pommes Frites und Bratwürste. Er hat die Hälfte von meiner Portion gegessen, ich hatte gar keinen richtigen Appetit. Er sagte, ich hätte ein hübsches rundes Gesicht und ein paar Kilos zu viel machten ihm nichts aus. Ich wusste, für diese Worte würde ich ihn immer lieben.
Ein paar Verabredungen später gingen wir zusammen ins Bett. Ich hatte ihn mit in mein Zimmer genommen, weil er sein Zimmer zu Hause mit seinem Bruder teilen musste. Er tat ganz schön weh beim ersten Mal, und das Laken war voller Blut. Aber er sagte, es sei schön gewesen, und er sei glücklich mit mir. Ich liebte seinen straffen, schlanken Körper, die schmale Taille und die kräftigen Muskeln unter der glatten Haut.
Er spielte Fußball, und jeden Samstag stand ich am Rand des Fußballfeldes und feuerte seine Mannschaft an. Anschließend wartete ich auf ihn, bis er mit noch nassem Haar vom Duschen kam, die große Sporttasche lässig über der Schulter. Wir gingen dann zu mir nach Hause und liebten uns. Anschließend lagen wir eng nebeneinander und betrachteten meine Kindermobiles an der Decke. Er stützte sich auf seinen Ellenbogen, sagte, meine Augen erinnerten ihn an Toffeefees, und kringelte eine meiner Haarsträhnen um seinen Finger. Ich fuhr sachte mit dem Zeigefinger über seine Augenbrauen. Noch nie hatte ich so blonde Augenbrauen und Wimpern gesehen. Das Blau seiner Augen verdunkelte sich, wenn er mich ansah. Ich liebte ihn so sehr, dass es wehtat.
„Sehen wir uns heute Abend?“
„Geht leider nicht, hab' Fußballtraining.“
„Dann morgen?“
„Meine Mutter hat Geburtstag, da kann ich nicht weg.“
Ich hätte es wissen müssen. Immer öfter fand Felix irgendwelche Ausreden, und wenn wir zusammen waren, schien er irgendwie abwesend zu sein. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Erst als er mich in der Disko an die Hand nahm und mit sich nach draußen zog, wurde ich misstrauisch. Die Angst verursachte einen lähmendes Gefühl in meinen Beinen.
„Ich muss mit dir reden“.
Mein Herz setzte aus. Nein, dachte ich, nein! Bitte, bitte nicht. Um mich herum wurde es eiskalt.
Ich starrte ihn nur an.
„Es ist so. ...“ Er stockte. Er wagte nicht, mir in die Augen zu sehen.
„Ich habe mich in ein anderes Mädchen verliebt. Es ist einfach passiert. Ich kann nichts dafür!“
Die Welt ging unter. Einen Augenblick befürchtete ich in Ohnmacht zu fallen. Es war, als hätte mich jemand urplötzlich mit eiskaltem Wasser übergossen. Ich fing an zu zittern. Um es zu unterdrücken schlug ich die Arme um meinen Oberkörper. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten.
„Wer ist es?“, brachte ich schließlich heraus. Wieso war es wichtig, das zu wissen, fragte ich mich im selben Augenblick.
„Melanie. Du kennst sie ja auch von der Schule her, hat sie mir erzählt. Wir sind seit zwei Wochen zusammen.“
Natürlich, dachte ich, die schöne, schlanke Melanie. Im Sport immer die Beste. Plötzlich wurde ich wütend. Die Wut stieg in mir auf wie glühende Lava in einem Vulkan. Ich holte aus und schlug Felix in sein schönes David-Gesicht.
„Dann hau doch ab, du Arschloch!“, schrie ich, „geh doch zu deiner dünnen Melanie!“
Ich drehte mich um und lief davon.
Es dauerte einige Wochen, bis ich mich von meinem Liebeskummer erholt hatte. Zuerst war ich richtig krank. Meine besorgte Mutter kam in mein Zimmer und brachte mir mein Lieblingsessen ans Bett. „Du musst doch etwas essen, Schatz“, sagte sie, „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.“ Sie hatte recht. Allmählich schmeckte es mir wieder. Ich aß. Mehr als zuvor. Es war das gute Gefühl, das ich von früher kannte.
„Du wirst immer fetter“, sagte mein Bruder eines Morgens am Frühstückstisch, „guck dich bloß mal an.“
„Guck dich doch selber an, du Qualle“, fauchte ich zurück. Aber es stimmte. Ich aß und aß und wurde immer dicker. Aber es machte mir nichts aus. Wen kümmerte es schließlich, wie ich aussah.
Eines Nachts bekam ich Bauchschmerzen. Offensichtlich ist mir irgendetwas nicht bekommen, dachte ich. Aber als die Schmerzen am Morgen noch nicht vorbei waren, sondern im Gegenteil immer schlimmer wurden, sagte meine Mutter, wir müssten sofort ins Krankenhaus.
„Vielleicht ist es eine Blinddarmentzündung und du musst operiert werden.“
Die behandelnde Ärztin, die mich untersuchte, machte ein ungläubiges Gesicht. „Wieso Blinddarmentzündung? Wissen Sie etwa nicht, dass Sie schwanger sind? Das Kind kommt jeden Augenblick zur Welt.“
Ich war fassungslos. Meine Eltern waren fassungslos. Keiner wollte mir glauben, dass ich nichts bemerkt hatte.
„Ihre Periode ist doch sicher ausgeblieben, oder?“, fragte die Ärztin.
„Kann schon sein“, antwortete ich, „aber die war immer schon unregelmäßig.
„Und dass Sie zugenommen haben? Und einen richtigen Bauch bekamen? Ist Ihnen das nicht aufgefallen?“
„Nein“, sagte ich, „ich habe ja auch so viel gegessen.“ Eine heftige Wehe ließ mich aufstöhnen.
„Wie dem auch sei. Jetzt jedenfalls wollen wir erst einmal dafür sorgen, dass das Baby gesund zur Welt kommt.“
Es war ein Mädchen, ein gesundes, wunderschönes kleines Mädchen. Es hatte einen Kopf voll brauner Haare, so wie meine, und blaue Augen. Man sagt zwar, alle Babys haben zuerst blaue Augen, aber ich war sicher, dass die Kleine die blauen Augen von Felix geerbt hatte.
Aber es war mein Kind, meins ganz allein. Es würde mich lieben, so wie ich es jetzt schon liebte. Als die Hebamme mir das Kind zum ersten Mal an die Brust legte und es gierig anfing zu saugen, durchströmte mich ein Gefühl, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich sah auf das winzige Gesicht hinunter, auf die Lippen, die die Brustwarze fest umschlossen, und hörte das regelmäßige Schluckgeräusch. Ich konnte dieses kleine Wesen mit meinem eigenen Körper nähren, konnte es wachsen und gedeihen lassen und zusehen, wie aus dem winzigen Wesen ein richtiger, schöner Mensch wurde. Ich war glücklich.