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Käfig
Das ist jetzt nicht mehr mein Hund, nicht mehr mein Freund, das ist ein Zerrbild. Es fing an, als er nicht mehr schlafen wollte, als er stundenlang durch die Wohnung tappte, als er so lange im Kreis lief, bis er irgendwann vor der Wand stehenblieb und ins Leere starrte. Da ging ich behutsam, ganz langsam zu ihm hin, legte ihm die Hand auf den schweren Kopf, die Hand, die ihn am liebsten gepackt hätte, die Hand, die ganz genau Bescheid wusste um die eigenen schlaflosen Nächte, um das In-die-Matratze-krallen, die sich erinnerte an die kühle Keramik, wenn ich mich, auf das Waschbecken gestützt, übermüdet, überreizt, im Spiegel ansah und dann schnell wieder weg, weil ich den Gedanken, der sich mir da aufdrängte, nicht ertragen wollte.
Einschläfern, sagen die Leute, schläfer ihn doch ein, und dabei bemerken sie nicht, dass ihnen Sand in die Augen gestreut wurde, von den Wortverdrehern, den Beschönigern, denen, die die Wahrheit nicht wahrhaben wollen. Er wird nicht einschlafen, er wird sterben, und darüber möchte ich nicht diskutieren, und ich will auch nicht von meinem Opa sprechen, der tagelang, wochenlang durch seine Wohnung irrte, der mich nicht schlafen ließ, als die Oma im Krankenhaus lag mit ihrem Schlaganfall. Mein Opa, dessen Füße sich bei jedem Auftreten in die Hausschlappen saugten und dann bei jedem Anheben dieses Geräusch machten, dieses fischige, schlammige Krötengeräusch, schmatz schmatz, schmatz schmatz. Mein Opa, der sich bei der Oma am Telefon beschwerte. Über den Hermann. Dass der ja nur schlafe, und was der eigentlich hier zu suchen habe, der Hermann. Der Hermann, das bin ich, obwohl ich gar nicht der Hermann bin, der Hermann war sein Bruder, der an einer Hirnhautentzündung starb, als mein Opa noch ein Kind war.
Und trotzdem sagte da keiner, schläfer ihn doch ein, den Opa. Da wäre keiner drauf gekommen, das zu sagen, vor allem nicht, wenn sie ihn gesehen hätten, spät nachts, als wir zusammen vor dem Fernseher saßen, weil wir beide nicht schlafen konnten. Der Opa, weil die Zeit für ihn keinen Sinn mehr ergab, und ich, weil ich keine Wahl hatte. Denn da lachte der Opa, lachte mit Tränen in den Augen, lachte mit Rotz aus der Nase, sagte, guck, Hermann, guck hin, der Bud Spencer, der haut dem Kerl in die Schnauze, dass es pfeift. Guck doch mal hin, Hermann. Penn nicht bloß rum.
Als ich meine Hand auf seinen schweren Kopf lege, auf den Kopf meines Freundes, da zuckt er zusammen, und im nächsten Augenblick zucke auch ich zusammen und spüre die Zähne und den Schmerz und haue ihm eine in die Schnauze, haue ihm in die Schnauze, dass es pfeift. Und im übernächsten Augenblick tut es mir leid. Aber da ist es zu spät, da ist er weg, verschwunden in der Dunkelheit der Wohnung, und als ich vor dem Spiegel stehe und das Blut in das Waschbecken tropft, weiß ich, dass ich mich noch lange daran erinnern werde. Nicht wegen der Narbe, die zurückbleibt, sondern weil ich meinen Freund geschlagen habe. Weil die Zeit für ihn keinen Sinn mehr ergab.
Und ich weiß auch, dass er mir in drei, vier Stunden, wenn ich zur Arbeit muss, wo ich immer nur halb da bin, halb da, halb bei ihm, ihm dabei zusehe, wie er vor der Wand steht, wie er umherirrt und seine Geräusche macht, tapp tapp, Geräusche, die mich wachhalten, stumpfe Krallen auf kaltem Parkett, dass er mir dann überall hin folgen wird. In die Küche, ins Bad. Mit raushängender Zunge, sodass es aussieht, als würde er lächeln, und dass er dann nicht mehr wissen wird, was passiert ist, dass ich dann immer noch sein Freund sein werde. Aber leichter macht es das nicht.
Leichter macht es das nicht, wenn die anderen sagen, das ist das Alter, und sei doch froh, dass es da einen Ausweg gibt. Sei doch froh, dass du nicht mehr jedes Mal Scheiße aufsammeln musst, wenn du von der Arbeit kommst, und sei doch froh, dass du dir keine Sorgen machen musst, dass dein Parkett aufquillt wegen der Pisse.
Froh sollst du sein. Dass du dich nicht mehr freuen musst, wenn ich von der Arbeit komme, sei froh, dass du dein Futter nicht mehr essen musst, mit wegrutschenden Beinen, weil dir die Kraft fehlt. Sei froh, dass du dich nicht mehr kraulen lassen musst, unter der Schnauze, wo es dir so gut gefällt, und sei froh, dass der kleine weiße Nachbarshund, der noch nicht weiß, wie müde du bist, dich nicht mehr anspringen kann, nicht mehr mit dir spielen kann, während du dastehst, stoisch, gelassen, zu mir aufschaust, mir vertraust. Sei froh. Dass dann alles schwarz ist, alles vorbei, dass dein Leben zu Ende ist, weil ich das so will.