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König von Spielzeugland
In der Mitte des Strobühler Weihnachtsmarktes stand eine Losbude groß und prunkvoll und bunt. Ihr riesiger Leuchtbanner mit dem Schriftzug "My Toyland" und dem Logo des gleichnamigen Konzerns war quer über den ganzen Platz zu sehen. An der Lostrommel stand eine dicke ältere Frau mit langem, knotfransigem Wollrock, hohen Stiefeln und einer dicken blutroten Strickjacke, und verkaufte ihre Lose, das Stück für einen Taler.
Als gerade eine lange Schlange glitzernder und ungeduldiger Kinderaugen endlich ihrem Glück entgegen fiebern konnte, bemerkte sie, wie ein Junge von der gegenüberliegenden Geschäftsreihe her die Auslagen des Toylands mit großen Augen anstarrte. Sollte sie ihn herüber winken? Eigentlich war es ja die Aufgabe ihres Kollegen, der von oben die Aufmerksamkeit der Weihnachtsmarktsbesucher ergattern sollte. Das versuchte er zum Beispiel so:
"Ja kommt meine Kinder, hier in das riesige, nein: größte, aber nein: unendliche Land der Spielzeuge. My Toyland wartet auf euch und will euch nicht den kleinsten Wunsch verwehren. My Toyland erfüllt euch aber auch das, was der Weihnachtsmann nicht tragen kann. Wie den mannshohen Eisbären hier, für vierzigtausend Punkte ist es Eurer; für fünfundsiebzigtausend kriegt ihr diese superstarke Spielekonsole von 'Playa'."
Mit einer einladenden Handbewegung hieß die alte Frau den Jungen rüberkommen.
"Guten Abend!", sagte er.
"Guten Abend."
"Ich möchte ein Los. Nein, am besten gleich mehrere."
Der Junge streckte der Frau fünf Taler hin.
"Schön, da nimm fünf Lose, ja?"
Er griff in die Trommel, wühlte ein bisschen und nahm eines nach dem anderen fünf Lose heraus.
"Danke!", sagte er und verschwand.
Er setzte sich auf den Treppenabsatz an der Seite der Losbude und riss die Perforierungen auf, was sich mit kälteträgen zittrigen Fingern recht schwierig gestaltete.
"Na Kleiner, woll'n wa doch ma seh'n!" sagte der eine Mann auf der Bühne, bei dem man seine Hoffnungsträger einlösen musste, und der die minderen Gewinne austeilte, zum Beispiel einen langen Bleistift für eintausend Punkte. Der Junge streckte ihm seine Zettelchen entgegen, und der Assistent beugte sich hinunter und nahm sie.
" ...Eintausend... oh! wow, einundsiebzigtausend", sagte er und pfiff sich eins vor Anerkennung, "vierundsiebzig, fünfundsiebzig", zog die Brauen hoch, "und hohohunderttaus- Hey Steve! Steve! Steve, ich glaub ... unser erster heute! Mensch Junge, bist ja 'n richtiger Glückspilz!"
Der Mann stürmte auf den Moderator zu, unten folgte ihm der Junge, mit glitzernden Augen und roten Wangen. Der Moderator fächerte die Zettel auf, und schrie euphorisch in sein Mikrophon:
"Leute, schaut her! Auch heute wieder gibt es einen Hauptgewinn von hunderttausend Punkten. Kleiner King of Toyland, dürfen wir seinen Namen wissen?"
"Ich heiße Marius!", rief er fröhlich in das Mikrofon.
"Marius? Marius heißen wohl die Glückspilze der Welt. Du bist der Beste. Denn bei hunderttausend Punkte hat man freie Auswahl, ja, meine Damen und Herren. Also: Was lässt das Herz des Glückspilzes höher schlagen?"
"Eine Eisenbahn!", überschlug sich Marius' Stimme vor Aufregung.
"Eine Eisenbahn? Wie, das ist wirklich schon alles?", wunderte sich der Moderator etwas übertrieben.
Marius ließ nachdenklich den Blick über die vielen netten Spielmitmir-Teddybären, die Roboter, die Spielkonsolen, die Autorennbahnen, die Mini-HiFi-Anlagen und Eisenbahnen schweifen, und sagte schließlich: "Ja!"
"Na, wenn's weiter nichts ist", sagte der Moderator und räusperte sich. "Tja, 's halt eine Perle von Bescheidenheit, meine Damen und Herren!" Emsig wandte sich der Moderator an seine Hilfe: "MeMeMeMickey! Allez!"
Mickey, der Assistent, stieg drei Auslagestufen hoch und hob ein buntes Paket hoch. Sodann sprach der Moderator feierlich ins Mikro:
"Du bist nun stolzer Gewinner eines Original-Playa Electronics-SP12Xtreme-Eisenbahnmodells. Das neuartige Silizium-Modellschienensystem, der Super-12V-Spirallager-Motor, die dreifache Titanverkleidung und zweieinhalb Meter Gesamtstrecke garantieren Ih-...dir atemberaubenden Fahrspaß. Dieses Vergnügen ist schon mal seine neunhundert Tälerchen wert. Na, Kleiner, da staunste, wa?"
Kopfschütteln.
"Na, das will ich doch mei... - Wie bitte?"
"Nein. Ich möchte eine Eisenbahn ohne Strom", sagte Marius mit schüchternem Nachdruck.
Der Moderator räusperte sich. "Meine Damen und Herren!", grinste er etwas nervös. "Da ist sich wohl einer nicht bewusst, was ihm gerade entgeht."
Marius schüttelt den Kopf mit aller Bestimmtheit.
"Nein, ich möchte keine elektrische Eisenbahn. Ich möchte eine zum Anschieben."
Aufgesetztes Grinsen.
"Ach, mein Sohn, als ob wir das nicht hätten. Ja meine Damen und Herren, Toyland befriedigt selbstverständlich auch solche Wünsche. Trauen Sie sich; jedes Los gewinnt!"
Mittlerweile hatten sich viele Leute um das unendliche Toyland herum versammelt, und die Neugierde von fünf hundert siebenunddreißig Augen tronte auf dem Kinde, das trotzig vor dem Geländer des Podestes stand und zu dem glatzköpfigen Herrn emporsah. Dieser wischte sich jetzt mit einem zerknitterten Zellstofftaschentuch die Stirn ab, während der Assistent mit einem kleineren Paket die Stufen hinabstieg.
"So, Junge, welcher deiner Freunde würde nicht vor Neid erblassen vor dir," sagte der Moderator mit lauter, aber unsicher stolpernder Stimme, "der du jetzt eine superstabile, ähm, bissfeste, und vor allem vielseitige Eisenbahn besitzt, selbstverständlich aus Kunststoff."
"Ach aus Kunststoff?", fragte Marius enttäuscht, "Ich dachte aus ...Holz?"
"Aus Holz? Mein lieber Mannomann, wir sind hier doch nicht mehr im Mittelalter."
"Ich will aber eine aus Holz!", lehnte sich Marius auf.
Seine Ratlosigkeit konnte der Moderator nun nicht mehr leugnen. Aber dann wurden seine Gesichtszüge härter. Der Mann griff mit zitternder Hand aus dem Wühlkasten neben ihm eine Zehntausend-Punkte-Holzpuppe und rief mit enger Stimme:
"So: Willst Holz, gut ... hier, tausendmal interessanter als eine Eisenbahn, hast du eine Voodoo-Puppe aus Holz, die Nadeln liegen bei."
"Nein, nein, nein!", Marius stampfte wütend mit dem Fuß auf, "Ich will keine Holzpuppe! Ich will eine Eisenbahn aus Holz. Eine Eisenbahn aus Holz, zum Anschieben."
Das war zu viel. Den Moderator verließ jede Beherrschung und er brüllte:
"Menschenskind, mich trifft der Donnerschlag! ... Hey, wir verschenken hier Sachen, die toll sind! Sachen, die alle Welt haben will! Aber du, ich glaub es nicht, suchst die Müllkippe!". Dann brüllte er vollends: "Himmelherrgott, nimm das und scher dich fort!"
Er schleuderte ihm, der eigentlich nur eine Eisenbahn aus Holz haben wollte, aus den Weiten des Spielzeuglandes die Puppe entgegen.
Die verfehlte zwar ihr Ziel, landete direkt vor Marius' Füßen im Schnee. Doch eine Bombe bitterer Enttäuschung traf ihn hart, explodierte in seiner Brust, zerfetzte gute Erinnerungen an frühere Weihnachtsfeste. Angst erfasste ihn. Er wich zurück, weg vom Geländer, starrte einen Moment lang still auf die Puppe hinunter, auf die beiden Männer, auf die Auslagen, auf die umstehenden Leute.
Dann machte er kehrt und rannte schreiend davon.