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Künstler
Fragiler Körper, zersaustes Haar: den Zeigefinger an seine Denkerstirn gelehnt betrachtete er ein Gemälde. Mit der anderen Hand eine Sektflöte umschlossen murmelte er unverständliche Worte in seinen ungepflegten Bart. Mit langsamen Schritten näherte ich mich dem scheinbar verwirrten Mann, nach dem fünften Schritt schien er meine Nähe zu spüren und zuckte beinahe unsichtbar zusammen. Sein zerlumpter Anzug gab den Geruch von Mottenkugeln preis, Tabak und Alkohol beherrschten seinen Atem:
"Grüß Gott, Leiner mein Name, Hans Leiner!"
Fragend starrte ich in das Gesicht des Gegenüber, da aber die erhoffte Antwort ausblieb fuhr er fort:"Sie kennen mich nicht? Banause!"
"Woher sollte ich sie auch kennen!"
Hans rümpfte die Nase, warf einen Blick auf sein Gläschen, schließlich sagte er erklärend:"Ich bin Künstler, Schriftsteller um genau zu sein."
Da eine Reaktion meinerseits ausblieb, unterbrach er die kurze Stille:"Noch nie was von mir gehört? 'Felix und Louise', 'Das Buch der tausend Weisheiten', 'Gestern, als die Sonne schien' - all das hab ich geschrieben. Nun mal ehrlich, sie werden doch eins dieser Bücher kennen!"
Auf mein Kopfschütteln antwortete er mit einem kräftigen Schlag auf den Kopf - es schien ihm peinlich zu sein.
"Nun gut", versuchte er der unangenehmen Situation zu entfleuchen, "Unwissenheit ist eben auch eine Tugend!"
Das verkniffene Lächeln deutete eine dem letzten Satz innewohnende ironische Geste an. Ich ignorierte diese und erprobte mich weiterhin im Schweigen.
"Sie müssen wissen, ich bin ein alter Mann, hab schon vieles erlebt. Es ist nicht leicht als Künstler! Wissen sie überhaupt wie das ist, ein Künstler zu sein?"
Stumm betrachtete ich meinen Gesprächspartner: so alt wie er meinte sah er eigentlich gar nicht aus.
"Kunst ist nichts für jedermann, man muss auserlesen sein, um als Künstler gelten zu können - das Genie, das Genie!", beschwor Hans mit erhobener Faust.
Nach einer rhetorischen Pause setzte er fort: "Ihr einfachen Bürger glaubt: wir schreiben, weil wir schreiben wollen, dem ist aber nicht so! Wir schreiben weil es eine höhere Macht will, wir schreiben der Wahrheit willen, ja, und wir, nur wir haben das Privileg, Medium Gottes zu sein. Künstler sind die wahren Priester des Volkes."
Die eben verklungenen pathetischen Phrasen unseres Meisters weckten meinen lahmen Verstand:"Priester des Volkes? Ich dachte immer Künstler seien die Stimme des ..."
"Ja, das sind wir auch! Künstler als Demokraten, wir ersetzen die Politik! Wir sind jene, die den Kontakt zum Volke pflegen, wir sind jene, die für die Probleme der Bürger ein offenes Ohr haben. Sei dir immer bewußt: wir Künstler", nach einem tiefen Atemzug mit lauterer Stimmer:"wir Künstler sind", gefasst blickt Hans in alle Richtungen um mit gewaltiger Stimme herauszuposaunen: "Wir Künstler sind" - "Was?" - "Wir Künstler sind: GOTT!"
Erschöpft vom Kraftakt nahm der Literat einen kräftigen Schluck vom Schaumwein, wischte mit seiner Hand über den Bart und betrachtete mich listig aus seinen Augenwinkeln.
"Gott?", fragte ich nach, als wäre seine Antwort ungehört. Hansens Gesicht stimmte sich nachdenklich, er nahm noch einen kräftigen Schluck aus dem Glas, blickte mit fester Mine auf mein irritiertes Lächeln und sagte mit fast verloschener Stimme:
"Ach, ihr versteht uns nicht!"
Seufzend wandte er sich ab von mir, betrachtete erneut das Gemälde an der Wand. Enttäuschung zeichnete den zerbrechlichen Körper.