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Kajaltränen
„Shit. Das war’s. Mein Leben ist vorbei!“, schrie Lynn nervös, während sie wie ein wildes Tier in Gefangenschaft in ihrem kleinen Zimmer auf und ab ging und zu weinen begann.
Bis auf zwei Fingernägel hatte sie ihre French Glitter Nails komplett abgekaut, der Kajal und ihr Make-up vermengten sich mit ihren Tränen. Sie schaute in den Spiegel.
„Alles verschmiert. Ich sehe völlig verheult aus. Ich glaube nicht, dass der Trend sich durchsetzen wird! Hahaha“, murmelte Lynn vor sich hin, ehe sie anfing, hysterisch zu lachen.
Dann blickte sie auf die Uhr. Die Zeit war knapp. Nur noch drei Minuten. Nein, nur noch zwei. Die Zeit raste, während Lynn auch ihre beiden letzten Nägel abbiss und ihre Fingerkuppen zu bluten begannen.
„Fuck. Nur noch eine. Was mache ich nur?“, schrie sie.
Sie setzte sich vor ihren Laptop und blickte in die Kamera.
Es war 19:00 Uhr.
Eigentlich hätte nun ihre Show beginnen müssen.
Das Mädchen mit den kurzen rötlichen Haaren hatte in der Aufregung vergessen, ihre Echthaar-Extensions anzubringen. Als sie diesen Fauxpas bemerkt hatte, pfefferte sie diese mit voller Wucht auf ihr Bett und warf ihren Laptop wütend auf den Boden.
„So kann ich doch keine Schminktipps geben! Ich muss die Show absagen. 2,7 Millionen Abonnenten… Sie werden mich hassen. Ich habe versagt!“, brabbelte sie vor sich hin.
Plötzlich vibrierte ihr Smartphone.
„Mist! Das ist Babsi! Die wird mir die Hölle heiß machen! Sie löscht mich bestimmt aus ihrer Kundendatei. Sie war schließlich auch gegen dieses Treffen mit Mike.“
Babsi war Lynns neue Managerin, die sich nur um die angesagtesten Youtube-Stars kümmerte.
Lynn drückte den Anruf weg. Dann öffnete sie den Chatverlauf von letzter Nacht und starrte paralysiert auf den Chat mit Mike, in dem ein Video zu sehen war.
„Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe es wirklich gemacht und dann auch noch im Suff abgeschickt?! Meine Karriere ist am Ende! Dabei bin ich doch keine 13 mehr. Amateurfehler! Das durfte mir nicht passieren. Mit 16 ist man in diesem Business doch erwachsen!“, dachte sich Lynn.
Dann erblickte sie die zwei blauen Häkchen hinter dem Video, die auch beim näheren Hinblicken nicht verschwanden. Mehrmals schaltete Lynn ihr Handy an und aus, doch die zwei blauen Häkchen blieben.
„Er hat’s gesehen. Das war’s! Ich bin am Ende. Jetzt hat er mich in der Hand. Er kann mich erpressen, wann er will, und jeder Mensch auf der Welt kann das Video sehen. Jeder! Meine Karriere ist zu Ende.“
Lynn erinnerte sich an die vergangene Nacht. Es war ihr drittes Date mit Mike. Mike hatte sieben Millionen Abonnenten. Aus seinen Let’s Play Videos wusste Lynn ganz genau, dass er sehr unterhaltsam sein konnte. Das erste Date war im Grunde nur ein Geschäftsessen, um ihre Karriere zu pushen, mit vielen Instagrampics und dadurch kaltem Hauptgang inklusive. Aber Mike war in Wirklichkeit noch charmanter als angenommen. Und so kam es, dass sie sich auch ein zweites Mal trafen und bei ihrem dritten Date sogar in eine Bar gingen. Normalerweise trank Lynn keinen Alkohol, nicht mal ein Schlückchen. Das war unprofessionell. Und so kam es, dass sie an diesem Abend bereits nach zwei Cocktails zu lallen anfing. Das letzte, woran Lynn sich erinnern konnte, war, dass Mike sie geküsst hatte.
„Er war ein ausgezeichneter Küsser. Das hat er bestimmt schon öfters gemacht. Er ist schließlich schon 17!“, hatte Lynn sich gedacht.
An das, was danach passierte, konnte sie sich kaum noch erinnern. Nur, dass sie in seine Penthousewohnung verschwanden, wo sie weiter tranken. Doch das Video zeigte ihr ganz genau, was danach geschah.
„Wie verlogen bin ich nur?! Andere Girls habe ich immer vor so etwas gewarnt. Und nun habe ich es selber getan. Ich bin so dumm! Ich habe das eigentlich verdient. `Doppelmoralische Bitch`,“ so werden sie mich alle nennen. Alle, und nicht nur meine Hater!“, malte Lynn sich in Gedanken aus.
Mit einem lachenden Emoji hatte sie versucht, Mike zu kontaktieren, ihn für sich zu gewinnen und ihn davon zu überzeugen, das Video nicht mit anderen zu teilen. Hinter dem Smiley waren zwei blaue Häkchen erschienen, die signalisierten, dass jemand das Video und das Emoji gesehen hatte. Auf Anrufe hatte Mike seit Stunden nicht reagiert. Lynn weinte in ihr Einhornkopfkissen, das sie für ihre Livevideos aus Imagegründen immer in ihrem Kleiderschrank versteckte. Doch an diesem Tag brauchte sie es.
„Warum antwortet er nicht?! Fuck, fuck, fuck!“, brüllte sie aufgeregt, ehe sie ihr Handy anschrie. „Geh ran, du Arsch! Bitte, bitte, bitte geh raaaaaan!“
„Nun hat er mich in der Hand. Er kann so seine Klickzahlen, um mindestens 2,5 Millionen weitere Hits steigern. Jeder würde es so machen! Vielleicht würde ich es auch genauso tun“, dachte sich Lynn.
Plötzlich vibrierte ihr Handy. Lynn sprang erschrocken auf und entfernte sich von dem Bett. Sie hob ihren pinken Laptop, dessen Bildschirm nun einige Risse enthielt, vom Boden auf und schaute sich das berühmte letzte Video von Amanda Todd an.
„Vielleicht bringe ich mich auch um?! Sie werden mich eh alle dissen, sobald das Video online ist. Selbst wenn er es nicht postet, werden Hacker es irgendwann leaken. Das Internet vergisst nie. Schließlich bin ich ja pseudoberühmt. Wie konnte ich nur so blöd sein?“, dachte sich Lynn.
Es klopfte an der Tür. Sie öffnete sich einen Spalt. Lynns Mutter, die im Rollstuhl saß, schaute vorsichtig in das Zimmer. Lynn rannte weinend auf sie zu und setzte sich vorsichtig auf ihren Schoß. Völlig verängstigt zeigte Lynn ihr das Video, während ihre Mutter ihre Stirn küsste und ihren Rücken kraulte.
„Mach‘ dir keine Sorgen. Noch ist nichts verloren. Und selbst wenn das Video online gerät…. Man sieht zum Glück nicht viel. Glaub‘ mir, mich und Anette haben auf der Klassenfahrt alle komplett nackt gesehen, als man uns beim Nacktbaden die Klamotten geklaut hat. Das war ultrapeinlich, aber das Leben geht weiter!“, sagte ihre Mutter in einem besonnenen Ton. „Ich weiß, dass diese Situation anders ist, aber du brauchst diese Millionen Menschen dort draußen alle nicht. Das wirst du auch noch verstehen.“ Sie drückte Lynn ganz feste an sich. „Ich werde nun mit Babsi sprechen und versuchen eine Lösung zu finden. Ich weiß, dass die Situation ganz schlimm ist, aber eine positive Sache hat das Ganze dann doch!“
„Ach ja? Was denn? Dass ich jetzt doch Abitur mache und etwas Vernünftiges lerne, so wie Papa und du es immer wollten?“
„Vielleicht das auch, aber ich meine etwas völlig anderes. So wirst du bald herausfinden, wer zu dir hält und wer deine wahren Freunde sind. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Und deine Familie wird immer zu dir halten. Und mach‘ dir keine Sorgen. Das Video ist wirklich nicht so schlimm, wie du denkst! Sieh mich an! Es gibt im Leben wichtigere Dinge als Follower. Dein Handy nehme ich so lange. Wir essen nun erst einmal.“
Lynns Kopf lief rot an.
Sie nickte verständnisvoll.
***
Nach dem Abendessen hatte Lynn gemeinsam mit ihren Eltern eine Entscheidung getroffen. Als sie sich ihr Make-up abgewischt, eine Jogginghose und ihren Lieblingseinhornhoodie angezogen hatte, begab sie sich in an ihren Platz, von dem aus sie immer ihre Videos streamte. Ohne dieses Mal ihre Extensions anzustecken, schaltete sie die Kamera ein und ging live auf Sendung. Sie lächelte verlegen.
„Hallo. Mein Name ist Lynn. Eigentlich heiße ich Evelyn. Vielleicht erkennt ihr mich auch so wieder? Ich habe mehrere große Fehler in meinem jungen Leben gemacht und nun möchte ich dafür gerade stehen. Ich kann und will das alles nicht mehr. Es ist für mich an der Zeit, aussteigen, aber dafür brauche ich heute eure Hilfe…“
Lynn stockte.
Ihre Stimme zitterte stark.
Sie atmete tief ein und nahm ihren ganzen Mut zusammen, ehe sie fortfuhr und ihre Geschichte zu Ende erzählte.