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Kalt
Ihre klammen Füße tappten leise über die kalten Fliesen. Das Geräusch hatte etwas Mechanisches an sich. Überhaupt wirkten ihre Bewegungen, als würden sie von einer fremden Macht gesteuert, sie hatte überhaupt keinen Einfluss auf sie. Das Wasser plätscherte in die kalkweiße Wanne, so unschuldig und nichtsahnend von dem, was bald passieren würde. Sie legte den Brief auf den schmuddeligen Bezug der Waschmaschine. Gut sichtbar sollte er sein. Schließlich sollte dieses Dokument erklären, was niemand verstehen würde. Adressiert war es an ihre Eltern. Ihre Eltern, die immer so großzügig über die Wahrheit hinweg gesehen oder wahlweise auch einfach die Augen davor geschlossen hatten. Ihre Eltern, die sie nie verstanden hatten, die nie begriffen hatten, was in ihr vor sich ging.
Zitternd stützte sie sich auf das Waschbecken, ebenso kalkweiß und unwissend, wie die Badewanne. Langsam hob sie den Kopf. Jemand starrte sie an, das Gesicht nur wenige Zentimeter von dem ihren entfernt. Wie sie mit dem Blick in den Spiegel feststellte, hatte ihr Gesicht eine ähnliche kalkweiße Farbe, wie Wanne und Waschbecken. Einzig die roten Augen unter den tränenschweren, geschwollenen Lidern hoben sich gegen ihren Untergrund ab. Sie konnte diesen Anblick nicht mehr ertragen. Und sie wusste, die Menschen in ihrer Umgebung konnten es auch nicht. Sie würde sie nun alle davon erlösen. Nie mehr würde sie es zulassen, dass dieses Gesicht im Spiegel sie noch einmal fragte, wie es weiter gehen solle. Nie mehr würde sie es zulassen, dass diese Lippen einer anderen Person ihr Leid klagten. Sie würde dafür sorgen, dass sie verstummten.
Tapp, tapp, tapp. Wieder dieses Geräusch, als sie sich zu der Badewanne umwandte und hinüberging. Sie ließ den Blick sinken, in der Angst, den Mut zu verlieren, jetzt wo sie ihr Ziel so genau und unverblümt vor Augen hatte. Langsam hob sie ein Bein in das Wasser. Dann das Zweite. Während sie sich hinunter gleiten ließ, verdrängte sie immer mehr von der kalten Flüssigkeit in Richtung Wannenrand.
Sie nahm die Klinge, die sie sich vorher zurechtgelegt hatte in die linke Hand, ließ sie in die Rechte gleiten und wieder zurück. Die Kälte schien durch ihre Zehen in ihren Körper zu strömen und umschloss sie bald gänzlich, so dass sie erneut zitterte. Es mögen Minuten oder Jahre vergangen sein, als sie die Klinge endlich ansetzte. Die Wut, die plötzlich in ihr aufkochte, gab ihr die Kraft, sie zu führen. Ein sauberer, tiefer Schnitt zog sich nun von ihrem linken Handgelenk über ihren Unterarm, fast bis zur Armbeuge. Eine Sekunde später ereilte das rechte Gegenstück dasselbe Schicksal.
Noch während sie fasziniert auf die rote Substanz starrte, die ihr aus beiden Armen quoll, überkam sie das unwirkliche Gefühl zu schweben. Merkwürdigerweise tat es überhaupt nicht weh. Hatte sie sich das Sterben so vorgestellt? Das Blut wärmte das kalte Wasser um sie herum, während eben dieses sich langsam über den Wannenrand ergoss. Das laute Platschen, mit dem es auf die Fliesen traf, hörte sich sehr fern an. Fast so, als hätte sie den Raum verlassen. So, als hätte sie diese Welt verlassen.