Kein Zurück
I
Es war bereits dunkel, als Francis den Festplatz betrat. Sein dunkelblauer Anzug saß wie maßgeschneidert und die Knöpfe schimmerten in den vielen Farben der aufgestellten Lichter. Während er seinen Kaffee genoss, schloss er die Augen, um dem Gesang des auftretenden Künstlers zu lauschen. Die Musik gefiel ihm. Jazz schaffte immer ein Gefühl der Lebendigkeit, und das war gerade derzeit sehr hilfreich. Es lag Spannung in der Luft, Spannung, die schon fast unerträglich wurde und sich - wovon Francis höchst überzeugt war - bald in Form eines weiteren Krieges auflösen würde. Er zog seinen Ärmel hoch und warf einen Blick auf die Uhr: 22:37 Uhr, 11. Februar 1939.
Gustav Frederik Lange, der Musiker, hatte seinen Auftritt bereits um zwei Minuten überzogen. Nun allerdings verließ er unter tosendem Beifall die Bühne. Es war Zeit für Francis’ Auftritt. Allerdings nicht auf der Bühne. In Begleitung von zwei Bodyguards verließ Gustav den Platz und machte sich auf den Weg zu seinem in einem Parkhaus abgestellten Wagen, hier in Oslo. Francis nahm einen letzten Schluck von seinem Kaffee und nahm die Verfolgung auf. Der Lärm nahm mit jedem Schritt ab, den sie sich vom Festplatz entfernten. Schon bald war er verebbt. Die Straßen waren ruhig. Es brannten nur noch vereinzelte Lichter in den Häusern der Altstadt. Der perfekte Ort für ein Verbrechen. Ohne die geringste Ahnung begaben sich Gustav und sein Geleitschutz in eine der Seitengassen, während Francis innehielt und sich an die Wand des Eckhauses lehnte. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und spürte das kalte Eisen seiner neuen Waffe, der Walther P38. In einer einzigen flüssigen Bewegung zog er sie hervor und richtete den Lauf auf sein Ziel. „Schade um die gute Musik.“, murmelte Francis und drückte den Abzug. Er brauchte lediglich eine Kugel.
Als Gustav zu Boden sackte, zogen seine beiden Begleiter ihre Colts, doch es war niemand mehr da.
II
„Auftrag erledigt.“, sagte Francis am Telefon des Flughafens Oslo-Gardermoen.
„Habe nichts anderes von Ihnen erwartet.“, erklang eine Stimme aus dem Gerät. „Nichtsdestotrotz sollten sie sich umgehend auf den Heimweg machen. Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.“
Alsbald Francis sich im Flugzeug in Richtung San Francisco wiederfand, zog er einen Umschlag aus seinem Jackett. Er öffnete ihn und holte den darin enthaltenen Zettel hervor:
Gustav Frederik Lange
Komponist
Unbezahlte Schulden + Verrat an Familie
Er zerriss ihn in die kleinsten Teilchen und verstaute diese in seiner Cola-Dose. Anfangs hatte er Schwierigkeiten mit seinem Job, dennoch fiel er ihm mit jedem abgeschlossenen Auftrag leichter. Jedenfalls dachte er nicht mehr so intensiv darüber nach. Kein persönlicher Grund bewegte ihn zum Mord an Gustav. Einzig und allein die drei Riesen taten es.
Joana, seine Mutter, hatte schon lange den Kontakt zu ihrem Sohn abgebrochen, denn trotz ihrer Bitten und Forderungen, einem gewöhnlichen und ehrlichen Job nachzugehen, beharrte Francis nach wie vor darauf, das Große Geld zu machen. Sie wollte nicht die finanzielle Unterstützung, sie wollte einen aufrichtigen und gesetzestreuen Sohn.
Francis hatte unterdessen genug vom Leben im Dreck. Für eine andere Gegend fehlten ihnen die Mittel. Folglich begann er schon in jungen Jahren mit kleinen Raubzügen und schloss somit die ersten Kontakte. Mittlerweile war er 26, ledig und wollte es auch vorerst bleiben. Es entsprach jedoch nicht seiner Vorstellung, ewig dieser Arbeit nachzugehen, denn er hatte Familienplanungen und wollte seine Familie unter keinen Umständen in Gefahr bringen. Sein Plan war es, sich zunächst finanziell abzusichern.
„Wir erreichen in Kürze San Francisco. Bitte legen sie sich Ihren…“ Francis wurde aus seinen Gedanken gerissen und schnallte sich umgehend den Gurt um. Am Landeplatz angelangt wartete schon der 230 W143 Mercedes, ein Chauffeur am Wagen stehend. „Einen schönen guten Morgen wünsche ich, Mister Truth.“, gab dieser mit gespielter Höflichkeit von sich. Zur Antwort nickte Francis ihm zu. Noch bevor er komplett eingestiegen war, blickte er in ein hübsches kleines Frauengesicht. Die langen Wimpern und smaragdgrünen Augen ließen ihn für einen Augenblick lang erstarren. Jeder Versuch, seinen Blick von ihr abzuwenden, schlug fehl. „Ihrem Gesicht nach zu urteilen, scheint sie Ihnen zu gefallen?!“, ertönte eine Stimme aus dem vorderen Teil des Wagens. „Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“ Francis’ Boss, Umberto, drehte sich amüsiert zu ihm um. „Miss Cooper, Tochter unseres Freundes Toni.“
„Sehr erfreut.“, krächzte Francis und räusperte sich. Er hatte alle Müh und Not, nicht rot anzulaufen. „Die Freude ist ganz meinerseits.“, erwiderte sie mit ruhiger Stimmer. Noch immer war er in Ihren Augen gefangen. „Verzeihung…“, schoss es nun aus ihm heraus und er wandte seinen Blick ab. „Wofür?“, reagierte die junge Frau verblüfft. „Er ist sicher durch den Wind, hat ja kaum geschlafen. Ich bin mir sicher, nach einem ordentlichen Schluck Scotch wird er seine Worte wieder finden.“ Umberto grinste ihn mit einer unbeschreiblichen Freude an und Francis nickte ihm kaum erkennbar zu.
III
„Ich nehme an, unser Herr Lange hat keine nennbaren Probleme bereitet?“, fragte Umberto, sobald sie in ihrem Stammrestaurant, dem „Red Lion“, Platz nahmen.
„Keine nennbaren, nein.“, antwortete Francis, der seine Stimme in einem großen Schluck Wiskey wiedergefunden hatte. „Fantastisch.“ Umberto holte sichtlich zufrieden ein Bündel mit Dollarnoten aus seiner Geldbörse hervor und ließ es zu Francis herüberwandern. Während das Geld seinen Besitzer wechselte, wandte sich Umberto nunmehr an Miss Cooper: „Wann wird denn Ihr Vater eintreffen, mein Kind?“ Diese warf ungeduldig einen Blick zur Tür. „Er dürfte jeden Augenblick hier sein.“ Die Gäste verließen allmählich das Restaurant und es fehlte noch immer jegliches Anzeichen von Toni Cooper. „Seltsam…“, murmelte seine Tochter, die nunmehr ungeduldig auf ihrem Platz hin und her rutschte.
„Eine Familie ist etwas Schönes.“ Umberto unterbrach die Stille, mit seinem gewohnten Grinsen im Gesicht. „Ich… habe ja nur noch meinen Vater.“, erwiderte Miss Cooper nervös, noch immer den Blick auf die Straße gerichtet. „Sie träumen auch von Frau und Kindern, richtig Mister Truth?“ Francis war sichtlich verwirrt vom spontanen Themawechsel. „Sicher… aber das hat durchaus noch Zeit.“ „Zeit. Man sollte nie zu lange auf eine Gelegenheit warten. Wer weiß, vielleicht ist es dann schon zu spät?“ Nun galt auch Miss Coopers Konzentration einzig und allein Umberto. „Auf was genau spielen Sie an?“, erfragte Francis mit zusammengekniffenen Augen. „Reichen Sie mir mal Ihre Waffe, Mister Truth, ich will Ihnen beiden etwas zeigen.“ Francis sah sich um und nahm ein kurzes Stirnrunzeln von Miss Cooper wahr. „Keine Angst, es ist niemand mehr hier. Auch der Koch hat bereits seinen wohlverdienten Feierabend.“ Daraufhin händigte Francis ihm seine Pistole aus.
„Sehen Sie? Das Vertrauen innerhalb der Familie ist überaus groß. Die Familie unterstützt sich gegenseitig und man kann sich jederzeit aufeinander verlassen. Das dachte ich auch bei meinem Freund Toni…“ Umberto starrte auf die Waffe, schien mit seinen Gedanken dagegen in weiter Ferne gerückt zu sein. Miss Cooper war mittlerweile erstarrt und auch Francis traten Schweißperlen auf die Stirn. „Aber er hat mich enttäuscht. Und das muss selbstverständlich bestraft werden.“ Umberto, dessen Dauergrinsen sich während seines Vortrages verloren hatte, strich sanft über den Lauf der Pistole. „Ich…Was?“, stockte Miss Cooper, außerstande noch ein einziges Wort hervorzubringen. „Ich erzähle Ihnen das natürlich nicht ohne Grund.“, fuhr er fort. „Aber Sie, als seine Tochter, haben natürlich das Recht, als erstes von seinem tragischen Unfall zu erfahren.“
Noch immer war sie wie versteinert. Auch Francis saß regungslos am Tisch und der Schweiß lief ihm in die Augen. Nur das Brennen des Lichtes war noch zu hören. Die Zeit schien für einen Moment lang still zu stehen.
„Da Sie allerdings nicht aufhören würden nach Ihrem Vater zu suchen, mein Kind – was selbstverständlich ist; Sie würden Gerüchte über „Ausreise“ oder „Kontaktabbruch aus Sicherheitsgründen“ nicht Ernst nehmen – bleibt mir leider keine andere Wahl…“
Miss Cooper sah Umberto ungläubig an und suchte in Francis mit einem gequälten Gesichtsausdruck nach Hilfe. Dieser erkannte das blanke Entsetzen im Grün ihrer Augen und wandte seinen Blick von ihr ab. „Schade um die Schönheit…“, begann Umberto und richtete die Waffe auf sie. „Es tut mir Leid.“ Mit diesen Worten drückte er den Abzug.
Das Blut lief die Tapete langsam und lautlos herunter und tropfte auf die Sitzbank. Das Tropfen des Blutes war alles, was Francis nun wahrnahm. „So läuft das Geschäft. Ich kann es mir nicht leisten, es mit den anderen Familien zu verscherzen. Sie wissen, Mister Truth, Respekt und Ehre zählen mehr als ein Leben.“ Mit diesen Worten begab sich Umberto in die Küche, um den Kellner zu holen und ließ Francis allein im leeren Saal zurück.
Dieser starrte der jungen Frau noch immer in die grünen, nun leeren Augen. Das Blut lief ihr von der Stirn über die zarten Wangen in ihren hübschen, mit vollen Lippen gesegneten Mund.
Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter.
So läuft das Geschäft. Alles für die Familie. Die Familie wird auch in Zukunft über der Leiblichen stehen.
Wehrst du dich dagegen, bist du tot.
Aus dem Geschäft aussteigen? Utopie.
So läuft das Geschäft.