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Kleinigkeiten
Kleinigkeiten
Wer einmal in seinem Leben sich die Zeit genommen hat, und einen Regentropfen genauer betrachtet hat, der an einem Sonnentag über ein x-beliebiges Blatt getropft kam, der kann das Gefühl kennen, zufrieden zu sein.
Als ich just an diesem Tag auf einer Wiese hinter dem alten Wasserwerk neben dem Radweg, der nach D. führte saß, und den Tropfen des gerade frisch gefallenden Regens zuschaute, da konnte ich es wieder sehen. Ich spielte auf meiner selbstgebastelten Flöte und sah dem Gras zu, wie es den Part der Rhythmusgruppe übernahm. Es ist gar nicht so einfach, einer Flöte, die man nur mit einem alten Taschenmesser und viel Spucke, selbst gebastelt hat, Töne zu entlocken.
Einem Regentropfen zuzuschauen ist, als ob das Leben selbst in seiner Zwangsläufigkeit schön sein kann.
Oft deprimierten mich diese Zwangsläufigkeiten in meinem Leben und oft hatte ich die Befürchtung, an ihnen zerbrechen zu müssen; hatte ich doch je und je versucht zu ergründen, was mich davon zurückhielt.
Was war es, das mich den mundgerechten Alltag so gleichmütig ertragen ließ?
Und als ich meinen Regentropfen wieder anschaute, da spürte ich, wie diese Frage leichter wurde, weniger gehaltvoll, weniger wichtig, einfach weniger.
Irgendwie erschien mir das Laufen dieses Tropfens, der wie eine Teleskoplinse das Sonnenlicht, welches sich durch die Wolken stahl, einzufangen versuchte, so witzig, so unbelastend zu sein, wie die Geste eines Phantomimen, einfach und klar.
Ich blickte gen Horizont und entdeckte eine alte Dame auf einem Hollandrad, sich aus einem Dickicht herausarbeiten. Sie hatte wohl vor dem gerade frisch gefallenen Regen Schutz gesucht und hatte dort gestanden und gewartet. Jetzt, wo es aufgehört hatte zu regnen, machte sie sich wieder auf den Weg nach Hause, zu ihrer Familie, zu ihrer Hausarbeit, womöglich zu ihrer kranken Schwester oder zu ihrem Ischiasnerv.
Ich fragte mich, ob sie dasselbe gefühlt hatte. Hatte sie auch diese kleine Reise unternommen, hatte sie auch ein wenig dem großen Phantomimen zugeschaut?
Oder hatte sie vielleicht mir zugeschaut? Vielleicht hatte sie sich dabei just daran erinnert, wie es war, als sie das letzte Mal in ihrem Leben einen Regentropfen genau angeschaut hatte.
Als sie vorbeiradelte, von links nach rechts der kleinen Anhöhe entgegen, die der Radweg nass erklomm, da sagte ich ihr ein freundliches „Einen schönen Tag“ und ich meinte es so, denn in ihren Augen war Mühe und Alter.
Sie tat mir leid und im gleichen Moment fürchtete ich mich vor ihr.
Was wäre, wenn ich einmal eine spiegelnde Oberfläche betrachtete, und dort ebenfalls Mühe und Alter sähe?
Konnte es vielleicht zwangsläufig sein. Gemäß dem Motto „Mit einem Mal ist alles anders“? Und ich schaute der Dame nach mit einem Gefühl der Vergänglichkeit, als ob eine Blume welkt.
Und als ich so nachsann über das Leben und seine Seltsamkeiten, die Tatsache, dass das Leben manchmal ganz schön prägnant in seinen Antworten sein konnte, da traf mich etwas an meiner Schulter.
Ich drehte mich ruckartig um, aus meinen grau - weißen Gedanken gerissen und sah vor meinem Rücken einen Apfel liegen im hohen Gras. Er war angebissen und ich konnte nirgends auch nur eine Spur entdecken von dem gemeinen Werfer.
Ich stand auf, leise und verholen und suchte den mit Apfelbäumen spalierten Wiesenrand in Richtung des Flusses, der nach D. führte, ab. Ich streckte meine Arme und meine Beine, denn erst jetzt wurde mir bewusst, wie lange ich hier schon im Regen und jetzt im Sonnenschein gesessen hatte. Sie schmerzten ganz schön und als ich so über meine Arme und Beine nachdachte, da traf mich wieder ein kleiner Apfel, diesmal an Knie.
Und ich wirbelte nach links und konnte gerade so rote lange Haare hinter einer Wand aus feuchtem, frisch und würzig duftenden Grases verschwinden sehen.
Irgendwie brachte mich das zum Lächeln, hatte ich doch wohl anscheinend jemanden gefunden, der genauso viel Spaß an diesen kleinen Dingen fand, wie ich es tue. Und ich ging gemächlichen Schrittes ungefähr in ihre Richtung, denn ich hatte sie genau gesehen.
Als ich mich einen kleinen Moment zum Schein wegdrehte, und ihr rotes Sommersprossengesicht aus ihrem Versteck hervorlugte, da rannte ich auf sie zu und schrie dabei so laut ich konnte, um ihr kleines Mädchenherz wenigstens so lange erstarren zu lassen, bis ich sie erreichen konnte.
Und tatsächlich war sie so nett, sich zu erschrecken, denn ich hatte keine Mühe, sie zu erreichen und sie in meine Arme zu heben.
Ihr kleines trotziges Sommergesicht mit den Millionen von Punkten auf ihrer Nase strahlte mir entgegen, heller als die Sonne in einem gerade gefallenen Regentropfen.
Sie hatte gerade ihren ersten bleibenden Zahn bekommen und hier und da waren allerdings Milchzähne ausgefallen, ohne bereits durch die Zweiten ersetzt zu werden.
Und als ich sie hochhob und durch die Luft wirbelte, da schrie sie laut, vor Schwindel und vor Verzückung.
Als mir von der ganzen Dreherei schwindelig wurde und mein Herz begann, wie wild zu schlagen, da setzte ich sie ab und sie bat mich, weiterzumachen, mich weiterzudrehen und so drehte ich mich noch einmal, noch einmal, und noch einmal und noch einmal und noch ein halbes Mal.
„Jetzt ist es aber gut, Bienchen, jetzt ist aber Schluss“, sagte ich zu ihr, lachend und mich sehr wohl fühlend.
Und sie verschnaufte kurz, fasste ins hohe, grüne Gras und trat dann einen weiteren Schritt auf mich zu, ein silbergraues Päckchen in der Hand.
Und als sie direkt vor mir stand, da lächelte sie und sagte: „Herzlichen Glückwunsch, Opi!!!!! Hoffentlich gefällt es dir!!“
Und ich nahm sie auf meinen Arm, wie das Großväter halt so tun und setzte mich mit ihr nach ein paar getragenen Schritten an das Ufer des Flusses nach D., der sich in kleinen, bescheidenen Windungen, nicht allzu schnell nach Süden verlor... und das war wohl auch gut so.