Krank
Ich wache auf mit Kopfschmerzen und Halsweh, die mich wehleidiges Menschenkind an die Schmerzgrenze treiben. Vor Tagen habe ich mich im Büro noch gebrüstet, dass meine Abwehrkräfte jedes Virus wegstecken können – meine verschnupften, mit rotverquollenen Augen ausgestatteten Kollegen haben neidvoll meiner kleinen Rede gelauscht. „Vitamine!“, habe ich lautstark verkündet, „Vitamine sind das um und auf!“
„Soviel zu Vitaminen“, denke ich, als ich mich aus dem Bett hochquäle und ins Badezimmer tapse. Ein völlig verschnupftes, mit rotverquollenen Augen ausgestattetes, zerknittertes Etwas schaut mich aus dem Spiegel an. Ist das mein Gesicht? Ja, eindeutig, die Wahrheit tut weh, aber mit löwenhaften Mut sehe ich der Tatsache ins Auge, etwas anderes bleibt mir auch nicht übrig.
Ich wanke ins Wohnzimmer und zünde mir eine Zigarette an – beim ersten Zug bekomme ich einen Hustenanfall, der mir die Angsttränen in die Augen treibt. Lungenentzündung! Bronchitis! Es geht mit mir bergab, ich werde sterben. Ich will nicht sterben, also krame ich in meinem Tablettenvorrat nach geeigneten Pillen. Ich habe keine. Ich habe nie welche, wenn es mich erwischt.
Dann läutet das Handy. Das Geräusch schmerzt in meinen armen heißen Ohren, trotz einer Melodie von "The Doors", aber weil es meine Eltern sind und ich eine pflichtbewusste Tochter bin, hebe ich ab. „Kommst du heute eh Mittag zum Essen?“, fragt meine Mutter und ich schnaufe ein „Geht nicht, bin krank“, in den Hörer.
„Meine Güte!“, ich höre die Besorgnis in der Stimme meiner Mum, „was hast du?“ „Eine Grippe, schätz ich mal“, sage ich leichthin, bemüht, mit einer fröhlichen Stimme zu sprechen. Ich kenne meine Eltern – sie sind die liebsten und besten Eltern die man sich nur wünschen kann, aber gleichzeitig sind sie mit einem Gluckeneffekt ausgestattet, den ich einfach nicht zu würdigen weiß. Ich fühle mich ziemlich leicht in meiner Unabhängigkeit bedrängt.
Wenn ich krank bin, will ich alleine leiden. Ich will niemanden um mich haben, weder meinen Lebensgefährten (der Gott sei Dank in der Zweitwohnung sitzt), noch meine Eltern noch sonst jemanden. Die Zauberworte heißen „Ruhe und Frieden“.
„Sollen wir vorbeikommen? Brauchst du was?“, fragt meine Mutter besorgt. Mein Vater ruft im Hintergrund „Sag Liz, dass wir alles besorgen, was sie benötigt!“ Ich schließe die Augen. Sie sind so lieb, meine Eltern. Ich will sie nicht vor dem Kopf stoßen, sie können es nicht verstehen, dass ich meine Ruhe haben will. Ich sage also „Danke, ist total nett von euch, aber ich habe alles was ich brauche, wirklich.“
„Hast du Fieber?“, fragt meine Mutter und ich verneine – eine Lüge, die niemanden weh tut. „Rufst du am Abend an?“, „Ich weiß nicht, Mum“, sage ich, „wenn ich schlafe, eher nicht.“ „Dein Vater und ich würden uns sehr freuen, wenn du anrufen würdest“, sagt meine Mutter fordernd, „immerhin wollen wir wissen, dass es dir halbwegs gut geht!“ „Mum“, antwortete ich, „es ist nur eine Grippe! Ich kann nicht versprechen, dass ich mich heute nochmal melde. Ich bin müde. Geschafft. Du verstehst?“
Nach diesem anstrengenden Telefonat rufe ich meinen Lebensgefährten an, um ihm mitzuteilen, dass ich heute Nachmittag unmöglich mit nach Wien fahren kann. Dann stellt sich heraus, dass er auch nicht dazu in der Lage ist, weil er selber im Bett liegt. „Ich komme auf der Stelle vorbei!“, rufe ich in den Hörer, vor Angst außer mir. „Bitte nicht“, krächzt Christian in den Hörer, „ist zwar lieb von dir, aber ich brauche Ruhe und Frieden ...“
Das kommt mir bekannt vor. War ich nicht vor Minuten selbst diejenige, die die berühmten Zauberworte gesprochen hat? Ich gehe in mich und erkenne, dass ich eindeutige Tendenzen zur Glucke habe. Diese Selbsterkenntnis geht mir an die Nieren und ich beschließe, dass ich im Fieberwahn bin und daher völlig unzurechnungsfähig. Schließlich zeigt das Thermometer 38, 0C an.
Ich will heldenhaft sein, gegen das starke Verlangen ankämpfen, mich ins Bett zu begeben. Schließlich ist Samstag. Also lege ich eine CD ein und versuche, mich dem Genuss der Nussknacker-Suite von Tschaikowsky hinzugeben. Minuten später gebe ich auf. Ich kann nicht. Es geht nicht. In diesem Augenblick hasse ich Tschaikowsky, der in meinem schmerzenden Kopf nur Krach und Radau veranstaltet.
Ich gehe also ins Bett – eine gute Ausrede habe ich ja. Ich werde lesen. Ich werde mir von Fitzgerald „Der große Gatsby“ reinziehen. Ich werde nicht schlafen, nö, kommt nicht in Frage.
Gutes Buch. Fantastisch. Da geht es mir doch gleich wieder besser. Dachte ich mir doch. Gebt mir ein interessantes Buch und ich bin wieder voll da.
Das Buch bleibt aufgeschlagen auf Seite zehn und elf liegen – und verändert seine Position die ganze Nacht nicht.
Ich schlafe.