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Kurz vor dem Tod
Ich schaue aus dem Fenster hinaus auf die Straße, sehe wie der Regen von dem glänzenden Blech der Autos hüpft, sehe Kinder, bunte farbenfrohe Kinder, Kinder, die nicht wissen, was das große weiße, kahle Haus gegenüber vom Park in sich birgt, sehe Erwachsene aufgeregt über die Straße eilen. Nur ein kurzer Blick nach links, einer nach rechts und schon geht es weiter. Sie nehmen sich nicht einmal die Zeit richtig zu gucken, sehen die Kinder nicht, die ausgelassen durch die Pfützen hüpfen, sehen die Traurigen und die Alten nicht. Sie haben vergessen, was es heißt zu leben, haben verlernt, anderen zuzuhören, haben verlernt die Welt zu sehen. Kein neugieriger Blick und kein wissbegieriges Fragen, keine Freude an einer Antwort.
Der Regen zieht unaufhörlich Fäden von dem kalten, grauen Himmel, fast so als könnte er nie aufhören. Man muss ihn schmecken um zu wissen, dass er lebt, atmet und Botschaften in sich trägt. Man muss ihn auf seiner Haut spüren, sich die Haare von ihm durchnässen lassen, um zu wissen, dass er fühlt. Manchen gibt er Trost, anderen Freude und wieder anderen Hoffnung. Er ist so etwas wie ein fester Glaube auf das, was man hofft. Nur die Geschäftigen finden ihn lästig, nicht aber die Kinder und Alten und Kranken. Sie atmen mit ihm, schöpfen die Kraft fürs Leben aus dem kalten Nass, die Jungen um das ihrige Ziel zu erreichen, die Alten um dem Tod zu entkommen. Aber es gibt auch solche wie mich, welche, die nicht aus dem tristen Haus, in das man sie gesperrt hat, gehen können, welche, denen man nicht die Chanche gibt zu leben. Ich hätte sie gerne, sehr gerne, denn ich fürchte mich vor dem was danach kommt.
Eine Person sticht aus der Menge der treibenden Menschen heraus. Ihr Kopf ist leicht geneigt und trotzdem kann man das zierliche Gesicht darunter noch gut erkennen. Die braunen Haare, leicht gelockt, streicheln die dunklen Augenbrauen. Sie sind wie zarte Finger, kraftspendend, beruhigend. Graue, mandelförmige Augen, so voller Kraft wie der sanfte Regen, geben ihrer Erscheinung ein geheimnisvolles Aussehen. Die Wangen des Mädchens sind leicht gerötet, ein weicher Schimmer, der sich auch über ihre kleine Stupsnase zieht und ihre Lippen sind dunkelrot. Wie eine Kirsche. Es ist die Person, die mir die Kraft gibt, die Person, die sich selbst aufgibt, für mich, die Person, die mir die Angst vor dem Tod nimmt, Tag für Tag. Sie besucht mich, setzt sich zu mir ans Bett, hält meine Hand, erzählt mir das Neueste, schaut hinaus in den trostlosen Alltag anderer, genau so wie ich es Tag für Tag tue, um dem schalen Geruch des Hauses, das Krankheit und Tod einfängt, zu entkommen. Sie schweigt in den richtigen Momenten, lauscht meinen Geschichten und schenkt mir Wärme. Und, ja, in gewisser Weise schenkt sie mir auch ihr Herz. Ich kann spüren, dass ich einen Platz darin gefunden habe, kann spüren, wie viel Angst sie hat, dass dieser Platz irgendwann leer wird. Und jetzt, erst jetzt, wird mir klar, wie viel Platz ihre Person in meinem Herzen beansprucht, wie viel Liebe und Trost sie mir gegeben hat. Und es tut so weh, zu wissen, dass ich sie irgendwann im Stich lassen werde.
Es klopft an der Tür. Eine zierliche Gestalt tritt herein. Meine Tränen verdecken die Sicht. Das letzte, was ich wahrnehme, ist der Geruch ihrer Hände, und die Bewegung ihrer leicht zitternden Finger, als sie mir die nassen,strähnigen Haare aus dem Gesicht streicht.
Ich schaue ihn an, sehe wie er schläft. Langsam streiche ich an seiner heißen Schläfe entlang, lasse meine Hand auf seiner geröteten Wange liegen. Die Augen sind geschlossen und man hat einen freien Blick auf den Storchenbiss, der sich, behäbig und wendig wie ein Drache, auf sein Augenlied gebrannt hat. In seinen Augen liegt stets ein warmer, ruhiger Ausdruck. Nie kann man darin seine Gedanken lesen, nicht einmal die Panik und die Angst, die er in diesem trostlosen Raum Tag für Tag ertragen muss, weil er weiß was danach kommt. Der Tod wartet in irgendeiner Ecke auf ihn, er ist sein steter Begleiter.
Ich lasse meinen Blick durch das kahle Zimmer schweifen. Die Wände, weiß wie der Tod, scheinen die Hoffnung zu erdrücken. Wie kann er hier nur leben? Ein Blumenstrauß steht auf dem rollbaren Nachttisch und neben dem Essen, dass, kaum angerührt, immer noch auf dem Brett steht, tröpfelt der Tropf leise vor sich hin. Mein Blick fällt wieder auf sein Gesicht. Die blassen Lippen beben leicht und er formt mit dem Mund einige unverständliche Worte. Meine Hand streichelt weiter seine Schläfe, immer und immer wieder.
Abwesend blicke ich hinaus auf die Straße. Es regnet immer noch. Die Tropfen fallen auf den harten Asphalt und bersten daraufhin wie Glas. Rgen sind unendlich lange Fäden, die vom Himmel hängen, ohne Grenze und er kommt immer wieder. Früher habe ich Regen gehasst. Er war nass und lästig und kalt. Die Kleider waren klamm, wenn man nach Hause kam und die Gänsehaut, die einem kleine Punkte auf die Haut zaubert, wollte einfach nicht weggehen. Jetzt ist es immer noch so, doch als ich immer mehr Zeit mit dem Jungen aus der Schule verbracht hab, der sich hinter einem dicken Panzer versteckt hatte, und mit ihm durch den Regen gerannt bin und durch Pfützen gesprungen bin wie ein kleines Kind, habe ich erfahren, dass der Regen lebt und liebt und Hoffnung schenkt.
Wie gut würde es ihm tun, noch einmal das kühle Nass auf seiner blassen Haut zu spüren, noch einmal zu hoffen, wo es nichts mehr zu hoffen gibt? Die Krankheit raubt ihm seine Lebensfreude, zerreißt ihn, hilflos wie ein Stück Stoff. Es ist die Krankheit die auslaugt und vor der jeder warnt. Sie hat unendlich viele ´Vorurteile, aber keine dieser schrecklichen Theorien trifft auf ihn zu. Er hat es einfach bekommen. Eigentlich müsste er sie dafür hassen. Aber er liebt seine Mutter mehr als irgendjemand anders, obwohl sie ihm das Virus übertragen hat.
Und da wurde mir klar, dass er noch einmal den Regen spüren musste um zu leben. Ein allerletztes Mal.