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Lebendige Ziele

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26.06.2001
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Lebendige Ziele

Lebendige Ziele
Wie jeden Werktag saß Kurt hinter seinem Postschalter und hatte nichts zu tun. Manchmal ließ er eine Hand bedächtig über das Zählbrett mit dem Kleingeld gleiten oder berührte mit den Fingerspitzen zart die Briefmarken, die aus dem Automaten vor ihm herabhingen. Aber meist saß er sehr aufrecht und ruhig auf dem Drehstuhl, sein Gesicht mit einem leichten Lächeln zur Schalterhalle gerichtet. Trotzdem kam selten jemand zu ihm. Manchmal hörte Kurt an dem ansteigenden Gemurmel und Fußscharren, wie sich die Menschen vor den anderen Schaltern drängten, aber so freundlich er auch zu blicken versuchte, keiner trat zu ihm. Natürlich wusste er, woran das lag, über seinem Schalter prangte ein Schild worauf stand „Nur Postwertzeichen in kleinen Mengen“, wer ging schon zur Post, nur um einige Briefmarken zu kaufen, die er auch aus dem Automaten vor der Tür ziehen konnte. Doch manchmal hatte Kurt auch das Gefühl, es läge an dem anderen Schild, das auf die Scheibe geklebt war, hier hieß es „Sie werden hier von einem Blinden bedient“.
So verbrachte er hier manchen Tag ohne etwas zu tun außer sehr aufrecht in seinem Stuhl zu sitzen, auf die vertrauten Geräusche lauschend, die trüben Augen mit einem milden Lächeln zur Decke gewandt. Gelegentlich befühlte er seine Krawatte, ob sie auch noch so saß, wie seine Mutter sie am Morgen gebunden hatte. Früher hatte er mit den Kollegen in einem benachbarten Lokal zu Mittag gegessen, aber nachdem er einmal Nachhause gekommen war und seine Mutter vorwurfsvoll bemerkte, dass er einen großen Soßenfleck auf seinem weißen Hemd hätte, wollte er nicht mehr mit den anderen Essen gehen. Er aß jetzt die belegten Brote, die seine Mutter ihm eingepackt hatte. Anschließend ließ er seine empfindsamen Finger über sein Gesicht, sein Hemd und seine Hose gleiten, damit nur kein Krümel irgendwo hängen blieb und ihn für den Rest des Tages lächerlich machte. Immer wenn Kurt sein Gesicht abtastete, fragte er sich, wie er wohl für andere Menschen aussah. Da er blind geboren wurde, waren seine Hände die einzigen Informanten und manchmal zweifelte er an ihrer Zuverlässigkeit. Früher, in der Schule, hatte er Gelegenheit gehabt andere Gesichter zu ertasten, aber seiner Frage, welches der Kindergesichter nun schön sei, wurde ihm nie beantwortet. Noch heute hatte er die liebevoll beschwichtigende Stimme der Lehrerin im Ohr, die versicherte: ihr seid alle wunderschön.
Bisweilen, wenn er stundenlang untätig an seinem Schalter saß, überkam ihn die Angst, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Natürlich versicherte ihm seine Mutter immer wieder, er sei ein gut aussehender junger Mann, nur wenn er nachts vor dem Einschlafen immer wieder über sein Antlitz tastete, sich ein Bild zu machen versuchte von seiner Nase, seinem Mund, seinen Wangen mit den weichen Bartstoppeln, versagte seine Vorstellung von Schönheit. Dabei kannte Kurt viele Dinge die er schön fand: den Duft von Eisen und Gummi der aus Autowerkstätten wehte, feiner Sand der beim Schließen der Hand zwischen den Fingern hindurch rann, das sahnigweiche Leder von Mutters Handschuhen, die in ihrer Zartheit nur von der Haut seines Schwanzes übertroffen wurde.
Kurt versteckte seine Hand unter der Tischplatte um das Glas seiner Armbanduhr zu öffnen, noch zwei Stunden. Oft wünschte er sich hinten im Lager zu arbeiten, oder in einem der stickigen Büros, nur nicht diesen unsichtbaren Menschen gegenüber, deren entferntes Murmeln er ständig vernahm, die sich ihm aber fast nie nähern. So saß er noch eine weitere Stunde hörte den Stimmen zu, einmal hörte er ein kindlich lautes
„Warum gehen wir nicht an den Schalter zu dem ulkigen Mann?“
hierauf folgte eine leise gemurmelte Antwort.
Bei diesen Kinderfragen zuckte er immer zusammen, am häufigsten hörte er ein gekrähtes,
„Warum kuckt der Mann so komisch?“
Dabei hatte er schon alles Mögliche versucht, so hatte er einige Tage den Blick nicht einmal gehoben, abends schmerzte sein Genick von der reglosen Haltung. Auch hatte er seinen Vorgesetzten gebeten eine dunkle Brille tragen zu dürfen, aber dies wurde ohne Begründung abgelehnt. Kurt hatte zwar gelernt immer in die Richtung des Sprechenden zu sehen, aber wenn keiner zu ihm sprach gingen seine Augen auf Wanderschaft, folgten manchmal einem Geräusch oder blickten in sein Inneres wenn er nachdachte. Nicht nur Kinder hatten Angst vor ihm, auch Erwachsene begegneten ihm mit Scheu. Keiner lachte mit ihm, manchmal hätte er am liebsten gerufen,
„Lasst uns blinde Kuh spielen“
aber das ging natürlich nicht, schließlich war er Postbeamter. Kurt hatte immer Sorge, dass seine Finger schmutzig sein könnten, so ging er fast jede Stunde zur Toilette um sich die Hände zu waschen und die Nägel zu reinigen – vier Schritte bis zum Gang, dann zehn Schritte bis zur Tür, fünf Stufen hinunter, dann in scharfem Bogen um die Ecke und noch einmal 12 Schritte, hier war die Herrentoilette für die Postangestellten. Wer ihn so zielstrebig gehen sah, ahnte nicht, dass er sich an unsichtbaren Zahlengeländern durch seine Welt bewegte, nur wer ihn unterwegs mit einer Frage aufhielt, erlebte die plötzliche Hilflosigkeit wenn er seinen Weg fortzusetzen suchte. Kurt bedauerte seine Mutter, sie war so lieb, zwar streng aber doch sehr, sehr lieb; womit hatte sie ein blindes und etwas einfältiges Kind verdient? Mutter würde das zwar nie so sagen, aber er wusste wie sehr sie früher gehofft hatte er würde das Abitur machen und studieren. Er hatte sich auch Mühe gegeben, aber am Ende musste er sich mit einem Hauptschulabschluss zufrieden geben – und seine Mutter auch.
Bis die Post um sechs Uhr schloss kam zumindest noch eine alte Dame um zwei Briefmarken zu kaufen, sie war freundlich und sprach so unbeschwert mit ihm, dass seine Laune auf dem Heimweg viel besser war als sonst.
Vierzig Schritte bis zur Ampel, 18 über die Strasse, dann noch einmal fünfzig Schritte bis zur Bushaltestelle. Kurt trug keine Armbinde und seinen weißen Stock versuchte er immer so gut es ging zu verbergen – nur wohin verbergen wenn er nicht wusste, woher die Augen ihn anstarrten. Als er beim Betreten des Busses leicht stolperte, fühlte er wie sein Kopf heiß wurde. Er wusste dass er jetzt rot wurde, alle starrten ihn jetzt sicher an. Seine Lehrerin hatte ihm früher die Farben erklärt, rot war heiß, blau wie Wasser und braun die Erde. Er hatte es nie genau verstanden, außer dass alle sein Erröten sehen konnten. Verlegen, mit zitternden Händen zeigte er dem Fahrer seinen Ausweis und tastete nach einem Sitz. Gleich wäre er Zuhause, dann würde er erst telefonieren, später Abendessen und Fernsehen. Er lebte es Fernzusehen, wenn er etwas nicht verstand, erklärte seine Mutter ihm alles, aber selbst wenn er der Handlung nicht genau folgen konnte, liebte er die Geräusche, die Musik und die Stimmen.
Seine Mutter begrüßte ihn wie immer mit einer Umarmung und der Frage wie es ihm ergangen sei. Da es nichts zu erzählen gab, verschwand er erst einmal in sein Zimmer. Nachdem er seinen Anzug sorgfältig auf einen Bügel gehängt hatte, zog er seine alte Trainingshose und einen bequemen Pullover an, holte sein Telefon und legte sich auf sein Bett. Er wählte eine Nummer und wartete, als sich niemand meldete legte er wieder auf, so erging es ihm ein weiteres Mal, bei seinem dritten Versuch meldete sich eine Frauenstimme. Kurt hielt die Hand über die Muschel und flüsterte mit aufgeregt rauer Stimme,
„Ich kenne dich. Du…du bist ein Flittchen, treibst es mit jedem, einfach mit jedem…kannst einfach nicht die Beine zusammenhalten. So ist es doch, nicht wahr?....“
Atemlos lauschte er auf eine Antwort. Eine unsichere Stimme fragte,
„Was soll das, wer spricht da überhaupt? Hallo, wer ist da?“
Erregung ließ seinen Körper krampfhaft zucken und strampeln als er leise antwortete,
„Ich kenne dich ganz genau, ich kenne dich ganz genau du Flittchen….ich weiß wie du aussiehst, ich weiß wo du wohnst, alles weiß ich von dir. Du bist eine Schlampe, brauchst dich vor mir nicht zu verstellen. Ich kenne alles von dir, deine Augenfarbe, die Kleider die du trägst, ich kann dich sogar jetzt, in diesem Augenblick, sehen du….du…Vo….Vo…Vo...“
Kurt stammelte vor Erregung, zappelte mit den Füssen und rieb unbeholfen die harte Wölbung in seiner ausgeleierten Hose. Plötzlich wurde ihm der Hörer aus der Hand gerissen und die Stimme seiner Mutter fuhr ihn harsch an,
„Was machst du da schon wieder? Ich hatte dir doch verboten zu telefonieren wenn ich nicht dabei bin, hast du das vergessen?“
Dann hörte Kurt wie sie ins Telefon sagte,
„Hallo…. Hallo… sind sie noch dran?...Gott sei dank, jetzt kann ich sie hören. Ich bitte sie tausendmal um Entschuldigung….. ja ich verstehe,…. natürlich…aber bitte verfolgen sie den Anruf nicht weiter – wissen sie der Junge ist doch behindert, er ist blind und musste auf die Sonderschule….. natürlich werde ich dafür sorgen, dass es nicht wieder vorkommt, das verspreche ich ihnen….vielen Dank für ihr Verständnis…“
Kurt hatte sich vom Bett erhoben; ruhig, mit gesenktem Kopf hörte er dem Gespräch der Mutter zu. Seine Arme hingen leblos herab, nur in seinen Händen war Leben, die Daumen drehten immer neue Runden über die Fingerspitzen, zarte Fühler die sich begrüßten. Nachdem seine Mutter aufgelegt hatte, verließ sie mit den Worten,
„Komm jetzt, das Essen wird kalt!“
das Zimmer.
Etwas später saß er seiner Mutter gegenüber am Küchentisch, aus dem Wohnzimmer drang das leise Murmeln des Fernsehens. Kurts hatte die Augen geschlossen, behutsam rührte er in seinem Teller mit Eintopf, als er den ersten Löffel zum Mund führen wollte, meinte die Mutter freundlich,
„Du musst erst pusten, Kurt, die Suppe ist noch sehr heiß.“

 

Super Geschichte, aber warum hast du sie unter Spannung gepostet? Wie wäre es mit Gesellschaft oder Alltag?

Naja aber gar nicht schlecht beschrieben, die Gefühle und Gedanken dieses Mannes. Super Stil, finde ich.

 

Hallo Pain,

ich war mich einfach nicht so sicher wegen der Rubrik, aber stell sie ruhig um, unter Alltag etc.

Danke für Deine positive Meinung

Liebe Grüße

Kyra

 

Hallo Kyra,

diese Geschichte hat mich sehr berührt, wie auch schon die andere, "der Verschlag", die ich vor einigen Tagen gelesen habe.

Es scheint, dass du eine besondere Gabe hast, dich in das Bewusstsein behinderter Menschen hineinzuversetzen. Die vielen Detailbeobachtungen, die Wahrnehmungen, auch die Einzelgefühle, die aus der Perspektive des blinden Schalterbeamten geschrieben sind, sind sehr gut getroffen.

Das Raffinierte an der Geschichte besteht aber darin, wie du die totale Vereinzelung des Menschen beschreibst, die - wie könnte es auch anders sein - bei einem Menschen, der altersgemäß natürlich Kontakt mit dem andern Geschlecht sucht, in Richtung Sexualität geht. Als du die Feinheit der Haut beschreibst und dabei die Vokabel "Schwanz" verwendest, war ich zunächst schockiert, weil dieser Ausdruck so ganz und gar nicht zu dem bisherigen Stilniveau der Geschichte zu passen scheint. Am Ende des Textes habe ich indessen verstanden, warum du dieses Wort bewusst anderen Ausdrücken, die es durchaus ja gibt, vorgezogen hast. Der Wortlaut seines obszönen Anrufes, die Form der Befriedigung oder auch der gesellschaftlichen Rache, welche dieser bedauernswerte junge Mann sucht, geht genau in diese Richtung. Vermutlich ist es ein inneres Rebellieren gegen die wohlbehütete Erziehung, die ihm seine sorgende Mutter zuteil werden lässt und die er unbewusst als ein Gefängnis empfindet.

Ein toller Text, der von Anfang an spannend ist und mit dem Bewusstsein des Lesers ein listiges Spiel treibt.

Hans Werner

 

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