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Lebenswege

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20.06.2001
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Lebenswege

Christian Hartung - Simmerner Str. 18 - 55481 Kirchberg
WARTEN AUF DYLAN. Erzählung

Er hat jetzt schon richtig dazugehört. Ich finde, der Platz vor dem Theater ist irgendwie leer ohne Tom und die anderen. Passiert ja sonst nicht so viel. Wenn ich so meine morgendliche und abendliche Runde drehe, jeden Morgen und jeden Abend mehr oder weniger dieselbe und ich treffe auch jedesmal mehr oder weniger dieselben Leute, Svend, Poul und Erik, na, und die paar anderen - also, da war es doch richtig eine Abwechslung. Mit Tom, meine ich. Erst hab ich ja gedacht, ich seh nicht richtig. 'n Penner, hab ich gedacht. Was hättet ihr denn gedacht - sitzt im Schlafsack im Campingstuhl vorm Theater. Aber für 'n Penner sah er dann doch zu gut aus, also: hatte was Ordentliches an und so. Auch kein Arbeitsloser und kein Rentner wie wir, Svend, Poul, Erik und ich und die anderen, unsere Runde eben - was heißt Runde, unsere Lokalrunde ist 'ne Flasche Pilsner, an der man sich lange festhalten muss, am Monatsanfang gönnen wir uns ein Großes Tuborg - "Groß genug für zwei" - Poul hat irgendwann mal gesagt: "Groß genug für zwei - für mich und meinen Durst!" Seitdem heißt er nur noch "Der durstige Mann". Ist aber nicht so dick. Im Gegenteil, ist ganz elend, der Poul. Sie sagen, der machts nicht mehr lang. "How many roads must a man walk down before you call him a man?" Das hab ich von Tom. Na ja, man hat ja mal so 'n bisschen Englisch gelernt, früher, auf der Schule und so, als man noch bessere Zeiten hatte. Wie viele Straßen muss ein Mann gehen, bevor du ihn einen Mann nennst? Das ist gut, das ist wirklich gut. Wie viele Straßen - ja, da gehst du schon ein paar, sind schon ein paar, die du da gehen musst; und bist du hinterher wirklich ein Mann? Bild dir nichts ein, Henrik Carlsen, ein ziemliches Nichts bist du. Aber geh sie mal, deine Straßen, jeden Morgen und jeden Abend dieselbe Route. Und dann triffst du eines Tages Tom - oder wen auch immer, der alles irgendwie anders macht. Irgendwie verändert, obwohl er dann plötzlich abreist und alles ist wie immer. Du gehst deine Runde, triffst "Den durstigen Mann" und die anderen, machst deine Einkäufe für Mutter - "Heute gibt's Hähnchen im Angebot, Vater, im Brugsen, du gehst doch sowieso da vorbei!" - und du denkst dir: Henrik Carlsen, denkst du dir, gib dir 'nen Ruck, das Leben könnte auch ganz anders sein.
"Was machst'n hier?"
"Warten."
"Verabredet?"
"Kann man so sagen. Ein Termin mit Bob Dylan!"
"Kenn' ihn nicht."
"Was?! Mann, so hinterm Mond könnt ihr hier doch nicht sein! Bob Dylan kommt nach Horsens! Warum tut er das, wenn ihn hier keiner kennt?"
"Na ja, keiner; ich bin ja bloß einer von 50.000 oder so. - Wer ist denn das, dein Bob Dylan?"
"Ein Sänger. Quatsch: der Sänger. Aus Amerika."
"Na ja, kenn mich da nicht so aus. Ich hör ja eigentlich am liebsten Marschmusik, weißt du."
Dann haben wir eine Weile so vor uns hingeschwiegen. Natürlich hätte ich jetzt weitergehen können. Hab ich dem doch angesehen, dass das mit der Marschmusik irgendwie daneben war, und was geht mich Bob Dylan an, dachte ich. Und dem hätte man den Kopenhagener noch durch 'ne Nebelbank angemerkt. Also, Tom - nicht Bob Dylan. So hart und rasch, als wenn du einen Kipplader mit Kies auskippst. Also ich hätte weitergehen können. Warum ich da stehen blieb und Tom anguckte und wieder vor mich hinguckte, weiß ich nicht. Dann fing er an zu singen. How many roads must a man walk down. Da hab ich das zum ersten Mal gehört.
"Bist du von Kopenhagen?"
"Hvidovre."
"Na ja, ich war mal in Kopenhagen. Zwei-, dreimal. Natürlich im Tivoli; Nyhavn."
"Ja ja, ich kenn die Route. Fängt bei der kleinen Meerjungfrau an - oder hört da auf. Und bestimmt hast du auch den Wachwechsel gesehen."
"Ja, das hab ich!"
"Und tüchtig einen draufgemacht, in einem hübschen kleinen Etablissement, und viel zu viel bezahlt, aber dich königlich amüsiert."
"Na ja, ich weiß, das machen sicher alle, wenn sie mal in Kopenhagen sind."
"Und was macht Tom Nybro, wenn er mal in Horsens ist? Stellt sich 'ne Klappliege vor die Theaterkasse und wartet auf Bob Dylan! - Sag mal, habt ihr echt keine Ahnung von dem?" "Na ja, ich werd ihn dann ja wohl sehen."
"Sehen meinst du?"
"Na ja, und hören ja wohl."
"Bob Dylan hören?"
"Also wenn er kommt. Heute Abend?"
"Am 21. Mai, Mann."
"Am - wir haben heute den 27. März, glaub' ich."
"Stimmt. Montag, um genau zu sein. Und am Samstag gibts die Karten."
"Also nochmal: Am 21. Mai kommt dein Bob Dylan nach Horsens und du bist von Kopenhagen hierher gereist, heute, am Montag, um am Samstag eine Karte zu kaufen?"
"Ja."
"Hast du Angst, es gibt sonst keine mehr?"
"Mann, hast du eine Ahnung, was hier los sein wird! Im Internet laufen schon die Drähte heiß! Es gibt nur 250 Karten - und jeder darf höchstens zwei kaufen."
Ich überlegte.
"Was kostet denn so 'ne Karte?"
Ich hatte schon erwartet, dass er "200 Kronen" sagen würde. Das könnte ich mir überhaupt nicht leisten, aber dann hätte ich es wenigstens gewusst. Er guckte mich eine Weile nachdenklich an, zuckte dann mit den Schultern und sagte: "950."
"Kronen?", fragte ich. Er lachte. "Lire wär mir auch lieber. - Ach komm, vergiss es. Ich mein, das ist nicht deine Wellenlänge. Du hörst doch auch lieber Marschmusik, äh -"
"Henrik. Henrik Carlsen."
Wir unterhielten uns noch eine Weile, dann ging ich weiter. Mutter merkte direkt, dass was los war: "Was ist los, Vater? Du guckst so nachdenklich und du warst so lange weg!" Ja, schon, aber das konnte ich ihr irgendwie nicht erklären. Es gibt so Dinge, die kann man nicht erklären, auch nicht seiner eigenen Frau, mit der man schon bald vierzig Jahre verheiratet ist. Da passieren so Dinge in Hvidovre, die sind so ganz anders. Obwohl, jetzt passieren sie ja wohl in Horsens. Trotzdem sind sie anders.
Am Dienstag war er noch da. Ich denke mir, dass er eine kalte Nacht hatte. Irgendwie dachte ich mir: Wenn er das bis Samstag durchhält, dann ist das schon in Ordnung mit den 950. Kronen, nicht Lire. Ich meine, dass er so unverschämt viel dafür ausgibt. Mit 950 Kronen müssen wir so etwa einen halben Monat oder länger auskommen. Aber wir haben eine Wohnung, zwar eine ziemlich beschissene, aber immerhin eine Wohnung. Wir haben es trocken und einigermaßen warm und das hat Tom in Hvidovre zwar sicher auch, aber jetzt schläft er freiwillig draußen auf 'nem Campingstuhl.
"Willst du 'n Pilsner? Ich hab dir eins mitgebracht!"
"He, das wär nicht schlecht! Großartig! Was bekommst du?"
"Jetzt hör mal damit auf. Heute bist du mein Gast. - Auf die Königin!"
"Die Königin? - Ah, die Marschmusik! - Gut, auf die Königin! - Was Besonderes mit ihr?"
"Na ja, sie hat heute Geburtstag."
"Geburtstag? Wie alt wird sie denn?"
"Neunzig! Und ist noch gut dabei!"
"Neunzig?! Hui, dann hat sie sich aber wirklich gut gehalten! So alt hätte ich sie nun wirklich nicht geschätzt."
"Quatsch, du meinst Margrethe!"
"Na ja, die Königin!"
"Ingrid. Ich meine Ingrid, ihre Mutter!"
"Ach so. Das ist doch die alte Dame, die manchmal was mitgehen lässt! Und dann muss so 'n Dienstbote mitgehen, der das bezahlt, was Ihre königliche Hoheit unwiderstehlich gefunden hat."
"Ja ja, man erzählt sich so manches. Aber es bleibt doch die Königin!"
"Da hast du Recht. Also: auf die Königin!"
"Auf die Königin!"
Es wurde dann irgendwie zur Gewohnheit, dass ich ihn mit den Nachrichten versorgte. Von mir erfuhr er von der Lawine in Österreich und vom Schiffsuntergang vor Südschweden - der dänische Tanker "Martina", wir unterhielten uns auch in unserer Runde darüber. Das war am Mittwoch, ich brachte ihm wieder ein Pilsner mit und ich wollte es nicht bezahlt haben. Da war ich eisern. Ich rechnete: Vier Flaschen Pilsner, von Dienstag bis Freitag - am Samstag würde er ja seine Konzertkarte kaufen, da hätte er sicher damit genug zu tun - das würde gehen. Am Mittwoch sagte ich Mutter, dass der Speck nicht mehr im Angebot gewesen sei, sie wunderte sich, und ich hoffte, dass sie es nicht nachprüfen würde, das tat sie aber Gott sei Dank nicht, und die Zeitung mit den Lottoergebnissen kaufte ich mir nicht, so dass Svend sie schließlich kaufte und ich guckte nur ganz kurz mal rein, und am Samstag würde ich mir nur eine normale Flasche und kein Großes kaufen. Aber ich war eisern, ich wollte von Tom nichts wiederhaben und wollte, dass er sieht, wir wissen hier auch, was sich gehört, in Horsens. Außerdem hatte ich so irgendwie Anteil daran - Anteil daran, dass er durchhielt, bis Samstag. Die Nächte waren ja bestimmt noch ziemlich kalt. Und vielleicht fragte er sich ja auch manchmal, warum er nun so früh gekommen war. Erst am Donnerstag Morgen saß ein Zweiter hinter ihm und am Abend waren es schon vier, am Freitag kamen dann noch einige dazu. Aber von Montag bis Mittwoch saß er allein da. Nur ich leistete ihm etwas Gesellschaft, wenn ich auf meiner Morgen- und meiner Abendrunde vorbeikam. Bei der Abendrunde brachte ich ihm ein Pilsner und die Neuigkeiten mit.
"In Brüssel gab's Bombenalarm wegen 'nem Hundehaufen."
"Echt? Erzähl!"
"Na ja, verdächtiger Gegenstand auf 'nem Brunnen, hieß es, dann haben sie den Platz abgesperrt und zwei Polizisten sind auf dem Bauch hingekrochen. Na ja, und dann war's Hundescheiße!"
"Stark!"
Wir gewöhnten uns richtig aneinander, Tom und ich. Er erzählte mir von seinem Leben - "ach, was gibt's da schon groß zu erzählen" - und ich ihm von meinem (da gibt es nun erst recht nichts zu erzählen). Ich erfuhr aber, dass er schon als Junge von diesem Bob Dylan begeistert war - "1981 in der Bröndbyhalle, das werd ich nie vergessen, bei uns um die Ecke, weißt du! Ich komm von Hvidovre, wohnte damals schon dort, aber 'ne andere Straße. Mein Vater ging mit mir hin - also, wir mussten nicht im Schlafsack anstehen, aber einfach war's trotzdem nicht, Karten zu kriegen. Zwölf war ich damals. Mann, das war einfach - das kannst du dir gar nicht vorstellen, das war -".
"Dann bist du so alt wie unser Lasse. Der lebt jetzt in Odense. Macht was mit Computern und so. Internet, was du sagtest, das macht er auch."
Morgens, wenn ich meine Morgenrunde machte mit der Einkaufstasche und Mutters Liste, dann hörte ich ihn singen. Das hab ich auch von ihm gelernt: "Hey! Mister Tambourine Man, play a song for me, I'm not sleepy and there is no place I'm goin' to. Hey! Mister Tambourine Man, play a song for me in the jingle jangle mornin' I'll come followin' you." In the jingle jangle mornin'. Ich habs irgendwie noch gehört heute Morgen und gestern Morgen, da war Tom schon längst wieder in Hvidovre.
Am Samstag war dann wirklich ein Riesenaufstand. Da müssen aber auch Leute von Horsens dabeigewesen sein. Aber Tom kümmerte das alles nicht. Er hatte seinen Stuhl zusammengeklappt, den Schlafsack zusammengerollt und stand ganz ruhig vor der Kasse. Ich blieb stehen auf meiner Morgenrunde und guckte mir das alles etwas aus der Entfernung an. Die Kasse war noch nicht auf, aber die Leute prügelten sich fast. Später dann, als die Kasse geschlossen wurde, weil alle 250 Karten verkauft waren, da prügelten sie sich wirklich. Tom nicht. Der hatte wirklich seine Karte und winkte mir damit. "Ich hab sie, Henrik, ich hab sie! How many days must a man wait in Horsens...!" Ich winkte zurück. Irgendwie traute ich mich da nicht hin, in diesen Pulk. Er kam dann wirklich rüber zu mir. "Du kannst mir gratulieren, Henrik! So, und bevor ich fahre, geb ich dir einen aus!" Er kaufte ein Großes Tuborg für jeden von uns. Svend, Poul, Erik und die anderen guckten sehr neugierig zu uns hinüber. Ich musste Fragen über Fragen beantworten hinterher. Ich hatte ihnen das noch nicht erzählt, von Tom. Das war irgendwie alles so anders; wenn Mutter das nicht verstehen würde, warum sollte es "Der durstige Mann" verstehen? Aber nun hatten sie Tom ja gesehen. Sie meinten alle, der spinnt total, typisch Kopenhagen, aber ich weiß nicht. Ich glaube, es ist gut, sich irgendwas vorzunehmen und es dann einfach zu machen, egal, was die anderen denken. Wie viele Straßen muss ein Mann gehen, bevor du ihn einen Mann nennst. Tom war ein Mann geworden in dieser Woche, und ich dachte wieder daran, er ist so alt wie unser Lasse. Ich werd ihm davon erzählen, Lasse, meine ich, wenn ich ihn das nächste Mal anrufe. Aber eine Sache verstehen sie vielleicht noch weniger: Ich meine, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber na ja, also: Es ist, als ob Bob Dylan hier gewesen wäre. Mit Tom, meine ich. Na gut, ich weiß wirklich nicht, wie ich das ausdrücken soll. Aber irgendwas ist anders geworden. Und wenn er kommt, am 21. Mai, wenn sie beide kommen, dann werd ich auf dem Platz vor dem Theater stehen und mir das mal angucken.

 

Hallo Christian,

hat mir wirklich gefallen, deine Erzählung. Recht interessante Verknüpfung zweier Generationen und sogleich "Fremdstädter", die auf jugendlich-seltsame Weise Freundschaft schließen. Die amüsante Schreibweise, deren du dich bedienst, unterstreicht das Witzig-Lächerliche der Handlung.
Gehört dieser Tom eigentlich zu den Idioten, die das "Tage-davor-schlangestehen-vor-dem-Konzerteingang" erfunden haben?


Gruß, Hendek

 

Auch mir hat die Geschichte gefallen, wobei ich sie eigentlich weniger als "Erzählung" sehe... Eher als ganz normale Geschichte (Dialoge hat sie ja, die Story)... ;)

Griasle!
stephy

 

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