Leeres Papier
Leeres Papier. Staubige Tasten, auf denen schon lange niemand mehr gespielt hat, weil es niemanden gibt der spielen kann und will. Vertrocknete Stifte. Geöffnet, einer, die Kappe auf dem Boden, unter dem Tisch auf dem roten Teppich. Jemand wollte etwas schreiben. Einen Brief, wie zum Abschied, doch dazu kam er oder sie nicht mehr. Keine Zeit in der Angst, keine Ruhe, schon lange keine Ruhe mehr. Nur Verzweiflung.
Es ist Winter, so wie damals, und der Schnee fällt ganz sanft, unberührt von den Ereignissen. Auf den Strassen, den Fensterbänken, die wie von Puder bedeckt die Wimpern für die leeren, augenlosen Fenster bilden, aus denen nichts blickt als Dunkelheit. Keine Fußspuren unten auf der Strasse, keine Trippelschritte von kleinen Mädchen und Jungen, die zum Krämer laufen um sich Weihnachtsschokolade zu erbetteln, weil sie wissen dass der alte Herr so schlecht Nein sagen kann. Keine Frauen, die sich geschäftiger geben als sie eigentlich sind und zwischen der Wäscherei und der Blumenhandlung wie kopflose Hühner hin und her laufen. Keine Männer mit Pfeifen, die über ihre Aktien schimpfen und sich beklagen, weil man sie enteignet, zu Staatszwecken die sie nicht verstehen können weil sie so irrational sind, dass es nichts zu verstehen gibt. Niemand. Nur Schnee.
Eine Treppenstufe knarrt. Das wird niemand sein, eine Katze vielleicht, höchstens ein Hund. Kein Mensch. Menschen gibt es hier schon lange, lange nicht mehr. Alte Bücher im Schrank, große Schriftsteller, Philosophen. Denker, bedeckt mit einer silbernen Schicht Staub, der aufgescheucht zum Husten und wenn er so still liegt zum Weinen anregt. Ein alter Ohrensessel, eine gesteppte Decke, ein Bild an der Wand. Man wusste hier wohl die alten Meister zu schätzen. Wäre es nicht so kalt, es wäre gemütlich. Vaters Pfeife und ein silbernes Tabakdöschen auf dem kleinen Tisch neben der Lampe mit dem grünen Schirm, die so warmes Licht spenden würde, ginge sie noch.
Aus dem Arbeitszimmer weiter in die Küche, zu den Töpfen, Tassen, Tellern wo die Mutter bestimmt oft stand und Kinder ihr zwischen den Beinen herum sprangen. Ein Topf mit Blumen, altmodisch würde man sagen oder wenn man Geschmack hat klassisch, verlassen auf der Herdplatte. Nichts zu essen mehr da, nicht mal Kartoffeln, die es noch gab , am Ende, jeden Tag anders. Kartoffelstock, Kartoffeln mit ein wenig Kräutern, gebratene Kartoffeln. Ein Reigen aus Kartoffeln, und doch, man war dankbar. Die Küche führt ins Esszimmer. Man hatte Geld in dieser Familie, das ist sicher. Ein Tisch, Imperialstil, massiv und kunstvoll. Wie oft hatte man nach einem guten Essen hier bis in die Nacht herein diskutiert. Realistisch, wie man war, auch über die Zukunft und über drohende Schatten, um dann noch Kerzen anzuzünden und die Dunkelheit zu verscheuchen. Nur aus dem Raum, nicht aus dem Herzen. Dort saß sie schon zu tief. Nur keine Sorge, sagte man sich oft, noch war man jemand, noch könne man ein Schiff nehmen, nur um dann doch zu bleiben. Heimweh und Angst sind oft stärker als Rationalität. Noch war man jemand. Das hoffte man, doch glauben konnte man es nicht, egal wie oft man es wiederholte. Vom Küchenfenster sieht man den Hinterhof, das Schaukelgerüst. Wenn sie nur hoch genug kämen, so dachten die Kinder, würden sie es bis zum Mond schaffen. Schnee auch auf dem braunen Gras im Hof, und keine Lebenszeichen. Lachen wird hier wohl nie wieder jemand. Was so friedlich und still wirkt, wenn man sich nicht auskennt, wirkt so grausam und deprimierend, wenn man weiß. Weiß, was geschah.
Müde wippt eine Schaukel ächzend hin und her, dabei traut sich nicht einmal der Wind mehr in diese Strassen. Sogar die Ketten am Gerüst klagen.
Durch den Flur in das Zimmer des Großvaters. Wahrlich, das war ein Mann. So stolz, so voller Würde. Seine Enkel hatten geklopft, immer abends, damit er ihnen eine Geschichte erzählte. Und er konnte erzählen wie kein zweiter. Dann nahm er sie auf seinen Schoss, das Mädchen und den Jungen, und ließ sich nicht anmerken was er darüber dachte dass sie immer dünner wurden. Er erzählte von persischen Prinzen, Tausend und einer Nacht, von fernen Ländern, von Löwen die sich in der Savanne sonnen und ihre Macht genießen.
Von Menschen, die fremd und spannend aussehen, mit Haut so wie Schokolade oder so wie Marmor, und doch nur normale Menschen sind. Nicht anders als du und ich, pflegte der Alte dann zu sagen. Da muss man keine Angst haben. Angst vor Fremden ist gefährlich. Für die Fremden. Auf dem Schreibtisch liegt ein Teil der Memoiren von einem, der viel erlebt hat, zum Ende hin mehr negatives als positives. Man würde sich wundern, warum sie so jäh enden wo er doch kein Jahr ausgelassen hat, von seinem fünften Lebensjahr an. Man würde sich wundern, aber ach, man weiß ja, man weiß. Und man wundert sich nicht.
Hinaus auf den Flur, zu den Zimmern der Kinder, und die Holzbohlen knirschen und man hat Angst dass sie brechen so wie man selbst unter der Last der Vergangenheit. Unter der Schuld, die man trägt, unfreiwillig. Es gibt keine Gnade der späten Geburt für die, die nicht verdrängen.
Ein Holzpferd, schön und weiß, mit aufgemalten Zügeln. Bedächtig beugt es sich nach vorn und wieder nach hinten, ein letztes Aufbäumen vor langem Stehen in Ermangelung eines Reiters. Die Schränke geöffnet, die Scharniere zerstört. Kleider in aller Hast hinaus gerissen, auf dem Boden verteilt, in Koffer geworfen die dann doch stehen bleiben mussten.
Kleine Betten, das des Jungen in Blau, das des Mädchens in Pink. Vergilbter Lack auf altem Holz. Alles strebt zur Unordnung, physikalisch ist das längst bewiesen. In einem Jahrhundert, selbst wenn man hier nichts berührte, wäre das meiste schon aufgelöst. Nur die Gedanken bleiben. Man darf und kann nicht vergessen. Eine Bürde sollte man es nennen, eine die man sich selbst nicht auferlegt hat.
Die Garderobe kommt näher, man geht darauf zu und möchte schon nach der Türklinke greifen, möchte ach so gerne nach draußen an die frische Luft, wo man nicht so in die Enge getrieben wird von sich selbst. Und dann hängt da ein kleiner Mantel, ein Kindermantel. Man ist so an das Grau gewöhnt, an das Braun, an die Farblosigkeit. Das Gelb des aufgenähten Sterns sticht ins Auge, es schmerzt weil es so hell ist und so durchdringend. Fast fröhlich.
„JUDE“ steht auf dem Stern. Steht da gleichkommend mit einem Urteil, einem Todesurteil. Jude.
Es ist lange her. Sie kamen in Lastern, in Bussen wie zu Arbeit an Akten und Berichten. Sie kamen aber, um Leben zu nehmen. Dann gingen sie in die Wohnungen, die Gesichter verzerrt zu Fratzen, gespannt, voller Vorfreude. Sie liefen, und man konnte nur braune Hemden erkennen. Die Mutter stand am Herd, der Großvater sah aus dem Fenster während sein Sohn eine Pfeife rauchte. Die Kinder hielten Mittagsschlaf. Sie würden bestimmt aufwachen und weinen. Doch das störte kaum. Die Braunhemden waren ja daran gewöhnt, sie hatten Routine. Sie klopften, schrieen man solle sofort öffnen. Und natürlich öffnete man. Mitnehmen konnte man nichts mehr, man brauchte ja auch nichts. Da , wo man hinging.
Gerüchte bewahrheiteten sich. Man hatte sie schon fast erwartet, voller Furcht, und die Kinder verwöhnt, so gut es noch ging. Nur für alle Fälle wollte man alles getan haben was man noch so erfreuliches tun konnte, im letzten Atemzug eines zu kurzen Daseins.
Wohin sie gehen würden, fragten die barsch aufgeweckten Kinder. Ein Mann lachte, einer schwieg. Sie fragten noch einmal, verlangten nach ihrer Mutter, wollten sich losreißen. Schwiegen für immer. Der Mann lachte immer noch, und der andere jetzt auch. Judenbengel, sagten sie, Judenbengel, nichts wert. Einer setzte sich ans Klavier, er spielte nicht gut, er war noch jung. Grausam sein konnte er besser. Die Familie wurde hinaus ins Treppenhaus getrieben, dort standen bereits die Nachbarn und mehr Braunhemden, mit Hunden zur Einschüchterung als sei ihr Auftreten nicht schon einschüchternd genug. Sie rufen, schreien, weinen.
Stille. Wieder allein in der leeren Wohnung, im Dunkeln dass die Hoffnung verschluckt.
Niemand, bei dem man sich entschuldigen könnte. Eins der Fenster ist zerbrochen. Der Wind pfeift eine Schneeflocke hinein, weht Blätter vom Tisch, die Flocke landet auf einem. Auf den ersten Blick – leeres Papier. Auf den zweiten Blick ein Wort.
Jude.