Was ist neu

Leichen

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16.10.2022
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Leichen

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Alles, was wir mittlerweile empfinden, ist Wut. Das Selbstmitleid, die Enttäuschung, die Trauer – verpufft in einer großen, roten Wolke aus Wut. Wut, die wir ausleben werden. Darauf kannst du Gift nehmen, Henry.

Verlass dich drauf.

1​

Er war der Letzte in der großen Halle des Chamberlain-Leersaals im Altbau der Universität. Der Schein einer kleinen Tischlampe (sein einziger Begleiter zu dieser späten Stunde) warf einen runden Lichtkegel auf die Papiere, die ausgebreitet vor ihm lagen.

Henry seufzte.

Das ist doch alles Scheiße, dachte er. Seine Stirn legte sich in Falten. Die letzte Geschichte, die er geschrieben hatte, war ihm geradezu entgegenflogen. Es war wie im Schlaraffenland: er brauchte nur den Stift hoch zu halten, abzuwarten und wie von ganz alleine hatten sich die Buchstaben und Wörter auf das weiße Schreibpapier ergossen. Das war wahrlich ein Jackpot gewesen, einer, der ihm in der letzten Ausgabe des Reader’s View sogar einen Autorenpreis und das dazugehörige Preisgeld über fünfhundert Dollar eingebracht hatte (welche er zusammen mit Hokkey und Brad noch am gleichen Abend im Bordell verbrannt hatte – eine Nacht, die keiner von ihnen so schnell vergessen würde).

Der Jackpot war eine Geschichte um einen Jungschauspieler, Timothy Carson, der Fuß in Hollywood fassen wollte und dabei hart auf die Schnauze fiel. Henry hatte ihn deutlich vor sich gesehen: Timothy Carson, ein dreiundzwanzigjähriger Junge mit einer Menge Grün hinter den Ohren (Segelohren, um genau zu sein), aber dafür viel Grauem zwischen den Ohren, der mehr durch Taktik denn durch Aussehen bestach.

Es war so einfach gewesen, dieser Geschichte Leben einzuhauchen. Sobald er den Stift angesetzt hatte, entließ sie sich von selbst in die Wirklichkeit. Meine Damen und Herren, darf ich vorstellen: Der Jackpot, geschrieben von Henry J. Touk. Wenn ich um Applaus bitten darf!

Aber diese Story nun war anders. Schwerer, irgendwie unzugänglicher.

Er saß schon seit dem frühen Mittag daran; elf oder zwölf Uhr, so genau konnte er das nicht sagen. Was er dafür genau wusste: es war mittlerweile fast Zehn. Zehn! Zerknirscht wandte er seinen Blick von der Uhr ab und wieder den Blättern vor sich zu.

Dort standen Worte, viele Worte, zusammengefasst in Sätzen, Absätzen, vielleicht einer dreiviertel Seite.

Das Problem: sie war nicht gut. Nicht einmal ansatzweise. Beim Durchlesen im Schnelldurchlauf stellte er zwei Sachen fest: erstens, es gab eine Menge Rechtschreibfehler und auch logische Widersprüche. Zweitens, und das war fast noch wichtiger, er hatte absolut keinen Plan, was er hier schrieb, worüber er schrieb und wie sich die Geschichte entwickeln sollte.

Müde rieb er sich die Augen. Der Schein der Tischlampe beschrieb einen hellen Kreis auf dem Tisch und hob zwei Blätter in den Vordergrund. Das Eine enthielt den Anfang von König der Nacht, einer anderen Geschichte, und handelte von Lopp Lewis, den Mafia-Paten von Socouza, das Andere den Mittelteil davon. Wenn man nicht genau wusste, wo man hinwollte, aber schon eine grobe Idee im Hinterkopf hatte, war es manchmal besser, einzelne Fragmente vorzuschreiben, die man dann nachher verbinden konnte. Das war, als würde man eine Brücke bauen.

Henry streckte sich und gähnte.

Die neue Brücke würde warten müssen. Momentan gab es sowieso niemanden, der darüber wollte, er selbst am allerwenigsten.

Als er aufstand, knackten seine Gelenke und er merkte, in was für einer ungesunden Körperhaltung er die ganze Zeit über verharrt haben musste. Behäbig erhob er sich aus dem alten Holzstuhl und nahm seinen Überwurf von der Lehne.

Er schaltete die Nachttischlampe aus und nach einem kurzen Moment des Überlegens, knüllte er die Blätter von König der Nacht zusammen und warf sie in Manier eines Basketballers in den Papierkorb neben seinem Tisch.

Bye bye, ihr Luschen, rief er ihnen in Gedanken nach, vielleicht nützt ihr ja mehr, wenn man euch recycelt hat.

Beim Rausgehen lief er an der nussbraunen Theke vorbei, an der die greise Bibliothekarin mit strenger Brille und strengem Blick ihren Posten hielt.

„Schönen Abend noch, Margaretha“, wünschte er ihr und sie antwortete ihm mit: „Ihnen auch, Henry.“

Die Durchgangstür fiel hinter ihm ins Schloss und die alte Dame bemerkte, dass sie nun ganz alleine war. Sie schaute auf die Uhr: halb elf.

Da, wo Margaretha herkam – Schottland – fing in anderthalb Stunden die Geisterstunde an. Sie war keine abergläubische Frau, ganz und gar nicht. Andererseits konnte man natürlich nie wissen, und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste und so weiter und so fort…

Sie stand auf, straffte ihren Rock (der mit einem christlichen Abstand zwanzig Zentimeter unterhalb der Knie endete – nicht wie diese aufreizenden Miniteile, die die Mädels von heute trugen!) und machte sich auf zu ihrem letzten Kontrollgang an diesem Abend.

Der Schlüsselbund, an dem alle Schlüssel der Universität, von der kleinsten Abstellkammer bis hin zur Doppelschwingtür des Haupteinganges, an einem großen grauen Ring zusammenfanden. Ganz lässig wirbelte sie herum und ließ ihn an ihrem rechten Zeigefinger um die eigene Achse wirbeln, während die Fliehkraft die einzelnen Schlüssel aussehen ließ wie kleine Trabanten, die um ein gemeinsames Zentralgestirn kreisten.

Zuerst war das Erdgeschoss dran.

Hier, wie oben, war der Fußboden mit grauem Bouclé-Teppich ausgelegt, der jeden Schritt dämpfte und ein genervtes Psst! von der alten Dame hin zu hastigen Studenten obsolet machte. Es gab vierzig Sitzplätze, aufgeteilt auf vier Reihen Schreibtische aus modernem, geschliffenem Holz.

Kritisch überprüfte sie alle Tische; nahm von jedem eine Zeigefingerprobe ab und entschied, dass sich der Staubgehalt noch im vernünftigen Rahmen hielt. Den Wischgang würde sie morgen erledigen.

Auf ihrem Rundgang überprüfte sie auch die einzelnen Papierkörbe. Alle leer, bis auf den, der in nächster Nähe zu Henrys Platz stand. Sie fischte eine einzelne Papierkugel heraus und nahm sie mit, während sie in gemächlichen Schritten (sie war nun mal nicht mehr die Jüngste, das war ihr nur allzu bewusst) die Wendeltreppe in den ersten Stock bestieg.

Der erste Stock war an vier Stellen vom Erdgeschoss aus zu erreichen; alle Vier waren eng geschlungene Wendeltreppen und wehe dem armen Tropf, der halbtrunken und verkatert von der letzten Sauftour hier ankam und dort studieren wollte.

Während sie eine Ebene höher ihren Rundgang im selben Muster wie zuvor fortsetzte, hörte sie ein Geräusch von unten.

Mit drei eiligen Schritten war sie am Geländer der Galerie und rief: „Wir haben geschlossen! Bitte verla-“

Aber als Margaretha über das Geländer blickte, sah sie, dass dort niemand war. Von der Galerie aus hatte sie einen guten Überblick über das Erdgeschoss, alles lag offen vor ihr, als säße sie in einem Jägerstand und vor ihr die offene Weide.

Verwirrt drehte sie sich um und wollte ihren Kontrollgang weiter fortsetzen, als sie aus den Augenwinkeln ein Schemen wahrnahm. Sie wirbelte herum (und die Bewegung kam für ihr Alter erstaunlich schnell zustande) und blickte noch einmal über das Geländer auf die Ebene darunter.

„Ist da jemand?“, fragte sie und plötzlich klang ihre Stimme seltsam brüchig und krächzend. Sie wusste, dass das nicht an der Dehydrierung lag; das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Aber da war niemand. Kein Schemen, kein ungebetener Besucher, kein geisterhafter Übeltäter, der böse Scherze mit alten Bibliothekarinnen trieb.

Also schloss sie kurz die Augen und zählte bis zehn. Tief einatmen, sagte sie sich. Und dann: tief ausatmen.

Ihr Kreislauf beruhigte sich ein wenig und als sie wieder herunterschaute, war dort immer noch alles leer. Die Position, von der aus sie beobachtete, ließ sie den gesamten Raum überblicken. Dass jemand zur Eingangstür hereingekommen war und sich nun dort unten versteckt hielt, unter einem Tisch beispielsweise, war so gut wie ausgeschlossen. Dieser Jemand hätte in der kurzen Zeit, in der sich Margaretha umgedreht hatte, etwa zwölf Meter gut machen müssen, um ihrem Sichtfeld zu entgehen.

Und so schnell war kein Mensch der Welt.

Gelassener, aber immer noch ein wenig angespannt, schloss sie ihre Runde oben ab und stieg dann wieder die Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinab.

Sie hatte alles überprüft, alle Tische, alle Steckdosen, alle Fenster – alles in ordnungsgemäßem Zustand und wer immer morgen in der Frühschicht aufsperrte, würde keinen Grund zum Meckern vorfinden.

Je näher sie der Theke kam, desto leichter wurde ihr ums Herz. Nur raus hier, trieb sie eine innere Stimme an, aber eine andere Stimme in ihr drinnen entgegnete nur: aber wieso denn so eilig?

Margaretha wollte sich selbst schalten (Was sollte diese Paranoia? Sie machte sich gerade verrückt wegen nichts, wie ein kleines Kind!), als sie an Henrys Schreibtisch vorbeikam.

Sie konnte mit Gewissheit sagen, dass sie vorhin, als sie zum ersten Mal daran vorbei gegangen war, eine Papierkugel aus dem Papierkorb daneben entnommen hatte und sonst nichts – weil er ansonsten leer gewesen war.

Ihre Augen meldeten Anderes: auch ohne in den Papierkorb hineinzuschauen, konnte sie sehen, dass er bis oben hin vollgestopft war. Dutzende weiße Papierknäuel und Blätter quollen über den Rand hinaus, ein Blatt lag sogar angerissen auf dem Teppichboden daneben.

Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden (und in diesem Augenblick wäre jeder Gedanke einer zuviel gewesen für ihr altes Herz) schnappte Margaretha ihre Sachen und verließ eilends die Bibliothek. Nicht ohne abzusperren – und das überprüfte sie ziemlich genau.

Es war das erste Mal in vierunddreißig Jahren, dass die alte Dame ihren Arbeitsplatz nicht sauber hinterließ (ihr Nachfolger würde morgen früh einen sauber aufgeräumten Lesesaal vorfinden, mit sechzehn leeren Papierkörben, aber das wusste sie natürlich nicht).

In dieser Nacht schlief Margaretha sehr schlecht.

2​

Seit zwei Monaten schon war seine Wohnung mit Einsamkeit geschlagen und auch als Henry an diesem Abend wieder heimkam, vermochte seine Präsenz diese Leere nicht zu füllen. Schon komisch, wie schnell sich die Dinge ändern konnten.

Im Wohnzimmer schaltete er Musik ein – der Song eines vergangenen Jahrzehnts schallte durch den Raum und Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Wie er damals mit Ellen zu solcher Musik getanzt hatte. Wie er sie damals zu solcher Musik geküsst hatte. Wie er sie damals zu solcher Musik gefickt hatte. Zu schade, dass das alles der Vergangenheit angehörte.

Trotzdem er auf diese Oldies stand (sie wurden niemals schlecht; sie reiften mit der Zeit, so wie guter Wein), schaltete er die Musik wieder aus. Das erschien ihm irgendwie klüger, zumindest für heute Abend. Die Geister der Vergangenheit konnten sich mal dorthin… wo sich Oberschenkel und Schienbein treffen.

Was Henry nicht wusste: sie wurden gerade erst warm.

Oh, wie haben wir dich gehasst. Du stelltest uns auf ein Podest, die ganze Bandbreite deines Intellekts voll auf uns gerichtet… aber wo landeten wir anschließend? Auf dem Abstellgleis? Wir? Viel zu lange haben wir im Dunkel gelebt, haben gewartet auf unsere Chance, zurück ins Rampenlicht zu kommen.

Heute ist diese Chance.

Wir kommen dich holen, Henry.

Nachdem er eine Stunde lang sinnlos und ohne echte Aufmerksamkeit Fernsehen geschaut hatte (er hätte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen können, welchen Film er sich angesehen hatte), drückte er den roten POWER-Knopf auf der Fernbedienung und das Bild in der Glotze starb.

Genug für heute, dachte er und suchte den schnellsten Weg zu seinem Schlafzimmer, um sich den Schlaf zu gönnen, nach dem sein Körper immer heftiger verlangte.

Er war schon auf der Hälfte der Strecke (im Türrahmen; hinter ihm das Wohnzimmer mit dem nichtsnutzigen Fernsehgerät, vor ihm ein verführerisch kuschelig aussehendendes Doppelbett mit einer Unterlage aus dunkelbraunem Bast), da fiel sein Blick auf etwas links in seinem Sichtfeld. Sein Schreibtisch. Wie professionell er dort aussah, direkt an der Wand und zentral vor dem Fenster mit Ausblick positioniert.

Die fünf Schubladen im linken Drittel machten fast den Eindruck, als würden sie gebraucht, vielleicht sogar für ganz, ganz wichtige Dokumente der geschäftstüchtigen Art. Auf Höhe der Tischmitte befand sich ein Bürostuhl mit dunklen Polstern, dessen Rückenlehne frei verstellbar war. Rechts davon ein silbergrauer Papierkorb. Sein Inhalt: ein zusammen geknülltes Papierstück, von gestern Abend noch. Henry hatte aus einem Anfall von Ideenlosigkeit heraus seiner Fantasie etwas Starthilfe geben wollen und Hallo, Morey auf ein Blatt geschrieben. Sein Geist sollte diesen Aufhänger dann nutzen, um etwas Kreatives daraus abzuleiten (zum Beispiel: wer war Morey? Die tragische Figur in einem Mordfall? Der verdächtig dreinschauende Hausmeister auf einem mysteriösen, altenglischen Anwesen? Es gab unzählige Möglichkeiten, hier anzuknüpfen). Manchmal funktionierten diese Tricks, aber an jenem Abend war das nicht der Fall gewesen und so landete das Blatt letztendlich als ein amorphes, weißes Etwas im Papierkorb.

Einer Eingebung folgend ging Henry zum Papierkorb hin, fischte die Papierkugel heraus und entfaltete sie zwischen seinen Händen.

Hallo, Morey stand da, unpersönlich hingekritzelt, nichtssagend und sah dabei so unschuldig aus. Wie hatte er sich mit diesem Satz, dieser Phrase denn triggern wollen?

Er legte das zerknitterte Blatt auf die Ablage und strich es mit der Handinnenseite glatt. Dann nahm er einen Kugelschreiber und ergänzte:

Hallo, Morey

Heute nicht

Er legte den Kugelschreiber beiseite und richtete sich auf. Ging einen Schritt zurück. Auch aus der Distanz blieb das Blatt ideen- und seelenlos, wollte ihm einfach keine kreative Starhilfe sein. Seine Muse musste heute Abend irgendwo anders begraben sein. Oder war sie vielleicht schon tot?

Niemals, sagte er zu sich selbst. Wäre über dem Tisch ein Spiegel gehangen, hätte er sich wohl ernst dreinschauend selbst zugenickt und sich versichert, dass er das schon schaffen würde. Klar war die Situation schwierig. Die Story, die er brauchte, musste gut sein, denn sie war eine Art Abschlussarbeit in der vielleicht nicht schwierigsten, aber dafür Credits-stärksten Veranstaltung, die sein Studium der freien literarischen Künste aufbieten konnte.

Eine schlechte Note konnte hier viel kaputt machen, sein Schnitt würde sehr darunter leiden (was eigentlich unfair war – die Bewertung war so subjektiv) und seine Träume, irgendwann einmal in der Chefetage bei The Partian Storyteller zu landen, würden platzen wie eine Seifenblase unter Zahnstocher-Beschuss.

Sicher, auch mit einer guten Note stand dieser Traum immer noch in die Sterne geschrieben wie ein Star Wars Intro, aber wenigstens fühlte er sich ein Stück weit näher an. Ein Stück weit greifbarer.

Deshalb: es ging hier um viel, sehr viel. Ja, sein Körper war müde und sein Hirn befahl ihm Geh schlafen, Junge!, aber wenn er hier stand und gerade in diesem unwahrscheinlichen Moment den Einfall haben würde, der alles retten würde…

Aber er kam natürlich nicht.

Das große Heureka blieb aus, die Szene, die er heute im Lesesaal geschrieben hatte, blieb ein nutzloses Stück Papier in der vorderen Hälfte seiner ledernen Umhängetasche; ohne dass sein Geist daraus eine Aufforderung zum Tanz herstellen konnte. Und das Blatt, das er nach wie vor in der Hand hielt, sagte

Hallo, Henry.

Heute bist du dran.

Henry blinzelte verwirrt. Was hatte er da gelesen? Als er wieder hinschaute, stand dort wieder

Hallo, Morey

Heute nicht

Unwillkürlich musste er glucksen und dachte dabei an eine Dokumentation, die er einmal (mit Ellen zusammen, Gott, wie er sie vermisste) gesehen hatte. Ein Sprecher aus dem Off hatte mit sonorer Stimme verkündet, dass die Funktion von Schlaf – das war das Thema der Sendung – noch nicht abschließend geklärt sei.

Unstrittig hingegen sei, dass Schlafen essentiell für die Regeneration ist. Lässt man einen Menschen einen Tag lang nicht schlafen, trübt sich dessen Urteilsvermögen und seine körperlichen Reflexe lassen nach. Die Beeinträchtigungen von vierundzwanzig schlaflosen Stunden sind vergleichbar mit denen nach 0,8 Promille Alkohol im Blut. Bei einem längeren Schlafdefizit fällt die Leistungskurve noch weiter ab und nach drei Tagen ohne Schlaf treten dann die ersten Halluzinationen auf.

Natürlich wusste Henry, dass er sich nicht in diesem Stadium befand. Er hatte die letzten zwei Nächte zwar nicht unbedingt gut, aber immerhin jeweils sechs Stunden geschlafen. Für seinen Geschmack fast etwas zu viel. Trotzdem hatte gerade eben diese kurze Halluzination gehabt.

Sich verguckt, wie seine Momma (möge sie in Frieden ruhen) es ausgedrückt hätte. Immerhin, der Faktor Stress gab eine gute Erklärung dafür ab und so hatte Henry die ganze Sache nach wenigen Minuten wieder vergessen und schwelgte in düsteren Erinnerungen.

Irgendwann gab er auf. Er konnte hören, wie im Wohnzimmer die Pendeluhr schwang und als er sich zu ihr umdrehte, stellte er zu seinem Erschrecken fest, dass es schon halb eins in der Nacht war. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen.

Seine Schläfen pochten unangenehm und warnten ihn vor bevorstehenden Kopfschmerzen. Er kniff die Augen zusammen und massierte seine Schläfen, während er sich ins Schlafzimmer schleppte. Dort fiel er mehr ins Bett, als dass er sich hinlegte.

Im Traum traf er alte Bekannte wieder.

Da war Jonathan – Joe – Milworth, der Hauptprotagonist aus seiner Kurzgeschichte Der Catcher, der sich immer, wenn Vollmond war, in die gleichnamige Kreatur verwandelte und Jagd auf Menschen machte. Die Figur (ihr tierischer Anteil zumindest) war der Bestie von Gévaudan nachempfunden und am Anfang war Henry sich doch wirklich total intelligent vorgekommen, dieses Prachtstück an historischer Schauergeschichte in einem Kurzwerk zu verwursten. Aber nach einer Weile (nach den ersten zwei Kapiteln eigentlich) war ihm dann bewusst geworden, dass er hier nichts wirklich Neues schuf, sondern lediglich eine stinknormale Wolfsmensch-Geschichte herunterschrieb, so schlecht kopiert und 0815 wie ein Turbo Man Superhelden-Comic.

Also war die Geschichte nach glorreichen zwei Kapiteln im Müll gelandet. War zu einem Wegwurf geworden, oder wie er es nannte: zu einer Leiche.

Eben jene Leiche grinste ihn bedrohlich-fröhlich an und in dem einen Auge spiegelte sich Joes menschliche Seite wider, während in dem anderen Auge der Catcher lauerte.

„Heterochromatie“, rief er Henry zu und tippte sich dabei an das Auge, das nicht mehr menschlich war. „Mal sehen, ob wir das heute auch mit dir hinbekommen, du nichtsnutziger Bastard.“

Wieso ist Joe so aggressiv?, fragte sich Henry und sein Traum-ich entschied, dass es wohl besser war, wegzulaufen. Obwohl der Catcher keinerlei Anstalten machte, ihn zu verfolgen, rannte Henry. Rannte über eine fremd anmutende Landschaft, eine Wiese mit Obsidian-schwarzen Gräsern, die einen Hügel hinauf zu einem prächtigen Schloss führte, auf dessen höchstem Turm eine Fahne wehte, auf der

Hallo, Morey

Heute nicht

geschrieben stand.

Er rannte weiter und als er am Burgeingang (ein einfaches Eingangstor ohne Burggraben) ankam, verschlug es ihm die Sprache. Dort stand ein weiterer alter Bekannter, eine Leiche von vor mehr als fünfzehn Jahren.

Die Figur hieß Christopher Gustavson, ein einäugiger Pirat mit einem Bein aus Fleisch und Knochen und dem anderen Bein aus Holz. Eine Augenklappe, sowie der sprechende Papagei auf der linken Schulter schlossen das Bild des Piratenkönigs ab.

Henry hatte mit zwölf Jahren angefangen, erste kleinere Geschichten zu schreiben und der Piratenkönig Christopher gehörte zu seinen ersten literarischen Ergüssen.

„Arrr“, sagte Christopher und schwenkte bedrohlich die Faust, „schon lange nicht mehr gesehen was? Dachtest du, wir hätten dich vergessen? Henry, so wie du uns vergessen hast?“

Übel meinende Blicke fingen ihn ein und plötzlich kam er sich unfassbar schuldig vor. Schuldig, dass er ihnen das angetan hatte – (was angetan hatte?) – dass er sie sozusagen lebendig begraben hatte, im Hades seiner Fantasie.

Als er in Christophers Augen schaute, fühlte er sich ertappt. Wenn das hier der Christopher Gustavson war, wie er ihn in seinen frühen Geschichten beschrieben hatte, wusste der Piratenkönig genau, was Henry in diesem Moment dachte. Denn: Klein-Henry hatte den Piratenkönig mit einer besonderen Gabe konzipiert – er konnte Gedanken lesen.

Und wie gerufen sagte Christopher: „Ja, das kann ich, Henry.“ In einem unglaublich hämischen Tonfall. Christopher streckte anklagend die Hand nach ihm aus. Er trug das klassische Outfit eines Piraten, wie es sich vermutlich die meisten Kinder vorstellten, aber heute waren auf dem hellen Karibikhemd aus Leinen viele kleine und größere Blutflecken verteilt.

Henry war davon gar nicht begeistert.

Unbehaglich wich er zurück, wie um dem anklagenden Zeigefinger zu entgehen, der da auf ihn gerichtet war wie ein Zielfernrohr.

„Hal-Hallo Christopher“, stammelte er, während er ein Fuß hinter den anderen setzte. Der Piratenkönig bewegte sich zwar keinen Millimeter, aber trotzdem blieb der Abstand zwischen ihnen gleich. Traumlogik.

Der war es auch zu verdanken, dass sich plötzlich die Kulisse änderte: Wald und Wiesen wurden zu einem sturmgebeutelten Fleck irgendwo auf einem pechschwarzen Ozean und ein hässlich geformtes Piratenschiff ersetzte die Burg.

Die See ging heftig und übermannshohe Sturmwellen peitschten pechschwarzes Wasser an die Brüstung und darüber hinaus. Fontänen aus Regenwasser wehten ihm um die Ohren und der Wind heulte wie eine verängstigte Frau nach Mitternacht.

„Was ist denn?“, brüllte der Piratenkönig vom Bug des Schiffes zu ihm herüber, „gefällt es dir etwa nicht auf meinem Schiff? Du kennst sie doch – die Schwarze Monica! Du hast sie doch selbst erfunden, du dreckiger Scheißkerl!“

Natürlich konnte Henrys Traum-Ich niemals den Kopf so verrenken, dass er sah, welcher Name an der Außenseite des Schiffes geschrieben stand. Aber das brauchte er auch nicht; er wusste es auch so. Natürlich war es so, natürlich hatte der alte, zornige Gustavson Recht und natürlich war es jetzt Henry, der todesmutig auf der Planke stand, welche schon zur Hälfte über Bord geschoben war. Das war folgerichtig die angemessene Bestrafung für Scheißkerle wie ihn: man warf sie über Bord und wenn der Unglücksrabe von den Haien in Stücke gerissen wurde, johlten und kreischten die schadenfrohen Matrosen auf dem Schiff. Das stärkte die Truppenmoral.

Jede Monsterwelle, die an den Bug klatschte, ließ das Schiff noch heftiger schaukeln. Henry konnte sich kaum auf den Beinen halten und hatte irrsinnige Angst. Unter ihm das offene Meer, düster, bedrohlich, wild. Vor ihm die Schwarze Monica, ebenfalls düster und bedrohlich, aber dafür mit etwas mehr Boden unter den Füßen.

Er wollte schnell zurück an Bord, in Sicherheit (war er dort denn wirklich in Sicherheit?), aber dieser Weg war versperrt. Eine Schar von Schatten und Schemen hatte sich dort versammelt, gleich Charakteren aus einem Videospiel, die man erst noch freischalten musste.

Aus der dunklen Masse heraus stachen zwei Gestalten: eine war der Piratenkönig (dessen Hemd sich immer noch blutverschmiert präsentierte) und die andere war der Catcher. Beide fixierten sie Henry mit bösartigen Blicken, die aus ihren blutunterlaufenen Augen geschossen kamen.

Wie im Chor sagten sie: „Du kannst nicht fliehen, Henry. Heute bist du dran, Henry! Alles holen wir uns zurück heute, alles, was uns zusteht. Und geben dir das, was dir zusteht.“

Dann nur der Catcher/Joe Milworth: „Heute Nacht ist eine besondere Nacht, weißt du. Es ist Fast-Nacht und die Trennscheibe zwischen den Welten ist sehr dünn heute. Dünner als sonst.“

Er schaute kurz zu Christopher herüber und beide lachten sich an.

„Perfekt für uns. Heute zeigen wir dir, wo der Hammer hängt. Verlass dich drauf, Henry.“

Und dann wurde er mitsamt der Holzplanke über Bord geworfen.

Henry erwachte mit einem Schrei. Sein Herz raste und sein Atem ging rasselnd wie ein Kettenhemd. Kurz überlegte er, ob seine Nachbarin in der Wohnung über ihm geweckt haben könnte, aber dann fiel ihm ein, dass die gute Frau mindestens achtzig Jahre maß und auch mit ihrem hochmodernen Hörgerät bei Gesprächen auf Zimmerlautstärke nur ein Viertel verstand.

Keuchend ließ er sich zurück ins Bett fallen und strich sich über die Stirn. Die Bettdecke und das Laken waren klatschnass –Henrys Körper badete in kaltem Schweiß.

Ein Alptraum, ein Alptraum, nichts weiter!

Langsam beruhigte sich sein Herz wieder und auch sein Atem ging jetzt tiefer und langsamer. Ruhig, Brauner, sagte er zu sich selbst. Er war keine zehn Jahre mehr alt, wo ein schlechter Traum ihn sich einpissen und anschließend zu Mommy und Daddy ins Bett kriechen ließ. Kurz kam er sich äußerst kindisch vor. Darf es noch eine Windel sein für den Herr‘n?

Sein Bett stand an der Fensterseite des Zimmers. Mit einem Arm stützte er seinen Oberkörper auf und mit dem anderen öffnete er das Fenster, um zu lüften.

Angenehm kühle Nachtluft schlug ihm entgegen. Die Sterne glitzerten da oben hell und klar und im Schein einer Straßenlaterne hatten sich unzählige kleine Nachtschwärmer und Motten versammelt. Alles war gut. Die Stadt schlief und das sollte er wohl auch.

Wäre da nicht diese nassgeschwitzte Bettdecke.

In einem Kraftakt, der seinesgleichen suchte, stand Henry aus dem Bett auf, nicht ohne dabei ausgiebig zu ächzen und zu stöhnen wie ein alter Mann von achtzig Jahren. Er stand da, nur mit den hellblauen Boxershorts bekleidet und für den Bruchteil einer Sekunde kam es ihm so vor, als habe er ein blutbespritztes Leinenhemd an.

Ein Blinzeln später war dem nicht mehr so. Natürlich, etwas Anderes hätte auch gar keinen Sinn gemacht. Während er sein Bett umbezog, dachte er nach. Der Alptraum war ein manifester Trauminhalt gewesen; auch jetzt noch erinnerte er sich an jedes Detail, gerade als ob die beiden Figuren Christopher und Joe Milworth real geworden wären.

Was für ein lächerlicher Gedanke das war.

Unwillkürlich zuckte er zusammen und warf einen nervösen Blick über die Schulter.

Ja, wahrhaft lächerlich.

Aber es war zugegebenermaßen auch ein wenig merkwürdig, warum gerade jetzt zwei seiner ältesten Leichen wieder in seinem Hirn auftauchten. Wann hatte er sich zuletzt mit ihnen beschäftigt? Gut, der Catcher zählte ‚nur‘ an die drei Jahre, aber der Piratenkönig? Henry war sich ziemlich sicher, dass diese Figur sich schon lange erledigt hatte, bevor er sein erstes Mal genossen hatte; und das war mit vierzehn. Bye bye, schöne Kindheit, bye bye Christopher Gustavson. Hallo Pubertät, hallo, Sex und hallo, schöne neue Welt.

Und gute Nacht, Henry!, unterbrach er sich selbst. Verdammt, es war drei Uhr morgens und für diese Uhrzeit war eindeutig zu wach. Und machte sich zu viele Gedanken. Viel zu viele.

Die alte Bettwäsche warf er in den Wäschebottich. Um dich kümmere ich mich morgen, versprach er.

Er kam der Einladung des frisch bezogenen Bettes nach und schon lag er mit dem Bauch nach unten und sein Kopf ragte etwas für die Bettkante hinaus. Während er stumpf den Fußboden anstarrte, wurde das Feuer in seinen Nervenbahnen ruhiger und ruhiger (jedes EEG hätte das in diesem Augenblick bestätigt) und fast fielen ihm die Augen zu.

Nur ein Geräusch und er stand kerzengerade im Bett. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Herz klopfte ihm bis unter den Hals.

„Hallo? Ist da wer?“, fragte er ängstlich in die Dunkelheit seiner Wohnung hinein. Irgendwo im Wohnzimmer hatte er es rascheln gehört, dann ein Scharren, gefolgt von einem leisen Seufzen.

Er wiederholte seine Frage, aber die Dunkelheit erwiderte nichts.

Verdammt, dachte er, sind wir denn hier bei der Creepshow oder was soll die Scheiße?

Seine Fantasie sprühte nur so vor Feuer und hielt ihm allerlei Monster- und Gespenstergeschichten vor. Wie unpassend. Aber verdammt, das waren nur Ahnenmärchen, er wusste das, immerhin erfand er ganz viele von ihnen…

Aber vielleicht steckten in manchen dieser Geschichten auch zwei oder drei Funken Wahrheit. Er hatte wenig Lust, das herauszufinden, also zog er sich die Bettdecke über den Kopf, der Logik eines kleinen Kindes folgend, dass die Bettdecke vor Monster jeder Art schützte.

Tat sie nicht.

Wieder hörte er es rascheln und dann ein Wumms, als würde jemand mit der geballten Faust auf den Schreibtisch pochen. Dann wieder Stille.

Durch die Nachtschwärze hindurch konnte er nur sein angestrengtes Atmen hören, sonst nichts. Schließlich hielt er es nicht aus und schlug die Bettdecke zurück. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und gebannt hielt er den Durchgang zwischen Wohnzimmer und Schlafzimmer im Blick, während er sich zum Nachttisch bewegte.

Er schaltete die gebogene Nachttischlampe ein. Mattgelbes Licht (die Glühbirne war wirklich nicht besonders stark) erfüllte den Raum und drang ein Stück weit ins Wohnzimmer vor. Er versuchte, im Halbdunkel eventuelle Schemen auszumachen, die auf Einbrecher hindeuteten, aber sah nichts dergleichen.

„Hallo“, rief er noch einmal, aber eine Antwort blieb auch diesmal aus.

War es möglich, dass er sich das alles eingebildet hatte? Er kroch in sein Bett zurück ins ließ seinen Blick umherschweifen. Gab es hier irgendwas, das sich als Waffe nutzen ließ? Er wusste, dass Dagobert, sein Großvater mütterlicherseits, ein altes Jagdgewehr daheim hängen hatte, Marke Pullmann. Als Henry noch kleiner gewesen war, hatte seine Mutter mit ihm einmal Opa Dagobert besucht auf dem Land. Henry erinnerte sich noch gut, wie sein siebenjähriges Ich mit glotzenden Augen vor Großvaters Glasvitrine gestanden und die Pullmann mit ihrem langen, glänzenden Lauf fasziniert betrachtet hatte.

Diese Pullmann konnte er gerade wirklich gut gebrauchen. Mann, er würde sein halbes Vermögen dafür ausgeben, nur dass sie ihm in diesen Moment in den Händen lag. Nein, sogar sein Ganzes.

„Ich- ich bin bewaffnet“, sagte er zu den unheimlichen Geräuschen im Wohnzimmer und fast hätte er geglaubt, dass höhnisches Gelächter als Antwort darauf kam. Doch es blieb still.

Er ließ den Blick weiter umherstreifen und dann fiel ihm etwas ins Auge: der Brieföffner! Er lag auf der Kommode direkt neben der Durchgangstür und…

Wieder ein Geräusch. Papier raschelte und dann folgte wieder ein Wumms, noch stärker als das Vorangegangene. Nackter Angstschweiß lief Henry den Rücken hinab und wurde von seinem frisch bezogenen Bett wie ein Schwamm aufgesogen.

Drei Augenblicke später stand er mit dem Rücken dicht an die Wand gepresst und hielt den Brieföffner stichbereit in seiner Rechten. Die Nachttischlampe tauchte Teile des Wohnzimmers in diffuses Dämmerlicht. Nichts regte sich dort, aber den Geräuschen zu urteilen, musste dort etwas sein.

Adrenalin schoss ihm durch den Körper und ließ das Blut in seinen Ohren rauschen. Er spürte seinen Herzschlag, überdeutlich und wie ein unheilvoller Takt, der den letzten Akt von Henry, dem Literaturstudenten einläutete.

Oh, was hätte er in diesem Augenblick gegeben für die Flinte seines Großvaters.

In Manier eines Geheimagenten presste er sich in leicht gebückter Haltung an der Wand entlang, ständig den Blick auf die Durchgangstür fixiert. Bereit, sofort zuzustechen, falls jemand durchkam. Oder etwas. Das war vielleicht irrational, aber heute Nacht schien alles möglich.

Er hatte die Durchgangstür erreicht und blieb stehen. Sein Herz raste und wenn er sich nicht komplett irrte, stammte das rhythmische BAM BAM BAM direkt aus seinem Brustkorb. Was für eine Scheißangst er doch hatte.

Er streckte vorsichtig, ganz vorsichtig den Arm aus (den anderen führte er dicht am Körper, seine ‘Waffe‘ fest umschlossen) und streckte seine Hand millimeterweise durch den Durchgang. Direkt neben dem Durchgang, auf der Wohnzimmerseite, befand sich ein Lichtschalter. An den musste er rankommen. Er würde das Licht einschalten und dann würde etwas passieren. Fragt sich nur, was.

Da! Seine Hand hatte den Lichtschalter ertastet. Henry erwartete, dass jeden Moment irgendetwas Monströses, mit viel zu vielen Krallen, Klauen und Fangzähnen bewaffnet, durch die Lücke stieß und ihm den Arm abriss, doch nichts passierte.

Klick.

Er legte den Lichtschalter um und im Wohnzimmer wurde es schlagartig hell. Blitzschnell zog er den Arm wieder zurück und lauschte. Lauschte, ob etwas passierte, ob sich da was regte, aufgescheucht vom Licht.

Er verharrte bestimmt zwei Minuten so und dann – langsam, ganz langsam – betrat er das Wohnzimmer.

3​

Er betrat das Wohnzimmer und sah – nichts.

Der Raum präsentierte sich in einer Unschuld, wie es nur solche Räume können, die nicht mit Einbrechern oder Monstern aufwarten. Alles lag da, wo es sein sollte (oder auch nicht – Henry war kein sehr ordentlicher Mensch). Gefahr? Fehlanzeige. Kein Monster, kein Menschenfresser – kein Catcher – und auch kein Einbrecher, der dümmlich-grinsend mit einer Brechstange in der Ecke stand.

Verdammte Scheiße, fluchte Henry in sich hinein. Fast hätte er den Brieföffner beiseitegelegt, aber dann unterdrückte er diesen Impuls doch. Was hatte diese Geräusche verursacht? Sollte er sich das alles tatsächlich eingebildet haben?

Alles sah so normal aus und…

Henry runzelte die Stirn. Ging auf den Schreibtisch zu. Wo kommen die Blätter her, wunderte er sich. Die komplette Ablagefläche war mit Papieren überhäuft, aus jeder einzelnen Schublade quollen welche heraus und auch der Papierkorb stand kurz vor dem Vomitus.

Henry war sich ziemlich sicher, dass das gestern Abend noch nicht so gewesen war. Ziemlich sicher sogar, aber… das Bild vor ihm erzählte da eine andere Geschichte.

Sein Kopf brummte. Angestrengt bemühte sich sein Hirn, eine rationale Erklärung dafür zu liefern, was er sah, aber fand keine.

Wie in Trance griff er hin und nahm aufs Geratewohl eines der vielen Blätter in die Hand. Und schreckte zurück. Was zur Hölle-

Das Papier fühlte sich nicht an wie normales Papier, mehr wie Jahrtausende altes, ägyptisches Papyrus. Henry fragte sich, ob er wohl immer noch träumte, aber der Test mit dem Kneiftrick funktionierte und auch sonst fühlte sich alles sehr real an. Abgesehen von dem verwunschenen Schreibtisch natürlich.

Er wagte einen zweiten Anlauf und diesmal ließ er sich nicht von der Beschaffenheit des Papiers/Papyrus abschrecken. Die Vorderseite präsentiert sich als weiße Tabula rasa, aber die Rückseite war komplett beschrieben, wie Henry verblüfft feststellte.

Er las:

Robert Wheeler, Geschäftsmann. Wurde bekannt durch HENRYS Kurzgeschichte

‚Mitternacht in Casaboni‘. Daheim lebt er zufrieden und glücklich mit Frau und Kind. Aber

Wann immer sich die Gelegenheit bietet, bricht er aus dem biederen Vorstadt-

Leben aus.

In ‚Mitternacht in Casaboni‘ bringt er nacheinander drei Charaktere um, aus purer

Mordlust.

Erstens, Marie die neu angelernte Krankenschwester. Zweitens, John Galiowski,

den polnischen Chefkoch. Drittens, Toddy Phoenix, den Besitzer vom ‚Gaumen-

haus‘. So heißt das Restaurant, in dem auch Galiowski arbeitete.

Nachdem er diese drei Charaktere umgebracht hat, sollte… eigentlich, eigentlich…

der große Schlussakt folgen. Das grande finale.

Aber das passierte nie. Stattdessen wurde die Geschichte kurzerhand begraben

und Robert zu einer Leiche. Wird er es schaffen und HENRY, den Autor, zu ‚Viertens‘

machen?

Henrys Finger zitterten und dieses Zittern breitete sich schnell auf seinen ganzen Körper aus. Was zur verdammten Hölle war hier los?

Er kniff sich nochmal, kniff die Augen zusammen und rieb sie, bis sie schmerzten und helle Punkte über sein Sichtfeld tanzten.

Der Text auf dem Blatt war in seiner Handschrift geschrieben worden. Ohne jeden Zweifel. Der Text war ein Artefakt, ein Relikt aus einer früheren Episode; die Figur Robert Wheeler hatte er mit siebzehn Jahren geschrieben, aber seine Mutter hatte ihm verboten, so eine kranke Scheiße zu schreiben, bevor er die Geschichte zu einem gelungenen Ende führen konnte.

Der Text war eine ausgeschriebene Notiz, ein Steckbrief, wenn man so will, wie er es für viele seiner Ideen machte, um deren Essenz schnell griffbereit zu haben, wenn es nötig war. Aber: die letzten fünf Zeilen… Henry konnte beschwören, auf alles, was ihm heilig war, dass diese fünf Zeilen nicht von ihm stammte,

Richtig, so eine kranke Scheiße…

Er nahm das nächste Blatt hoch und diesmal traf es ihn so, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Taumelnd stützte er sich auf dem Tisch ab. Henry atmete schwer. Er hielt die nächste Leiche in Händen. Rauer Papyrus in seinen weichgeschwitzten Händen. Welcher böse Dämon auch immer dahinterstecken mochte…

Henry las:

Alfons Budburrow, benannt nach der gleichnamigen Stadt, in der HENRY, der

Autor, lebt.

Erster und bisher einziger Auftritt in ‚Die Herren Bloisemonnaie‘, einer Parodie

auf die heutzutage schwuchtelig anmutenden Monarchen aus dem Frankreich

der Renaissance. Alfons ist der Butler von König Louis Blasmirein, dem III. und

entspricht von seiner Denkweise her dem heutigen Bürger.

Mit seinen zynischen Bemerkungen konterkariert er das alberne Benehmen

am königlichen Hof.

HENRY, der Autor, begräbt auch diese Geschichte, weil ihm keine guten Witze

einfallen wollen und er die Figur ‚lahm‘ findet.

Ob Alfons Budburrow sich das gefallen lassen wird?

Oh Mein Gott, dachte Henry (, der Autor,) nur. Was hatte das alles bloß zu bedeuten? Er erinnerte sich an Alfons. Der Steckbrief beschrieb ihn ziemlich gut und ja es stimmte – er hatte zu der Figur nie eine richtige Beziehung aufbauen können. Sowas ist wichtig, wenn man schreiben will. Besonders, wenn man gut schreiben will. Man muss alle Figuren auf die eine oder andere Weise lieben lernen – die Guten, die Bösen und sogar die weniger relevanten Nebencharaktere. Nur dann lässt sich etwas aufbauen, das Bestand hat.

Und zu Alfons Budburrow, Alfons aus Budburrow, Alfons, dem Budburrower, dem zynischen, aber ebenso schwuchteligen alten Franzosen am Hofe des Regenbogenkönigs Louis Blasmirein, des III. (was für ein überaus einfallsreicher Name das war), hatte Henry einfach keine Bindung aufbauen können und die Story war – wenn auch gut und lustig gemeint – doch nur ein riesiger Haufen Scheiße.

Er erinnerte sich, wie er sich damals selbst versprochen hatte, den Charakter Alfons nie wieder zu benutzen. Nur über meine Leiche, hatte er sich damals geschworen und –

Eine Hand legte sich auf Henrys Schulter.

„Weißt du, mein Lieber – das lässt sich arrangieren.“

Henrys Sinne meldeten ihm mehrere Dinge zugleich. Zum einen: er roch Graberde. Ein vermoderter Geruch nach Friedhof, tot und Verwesung. Zum zweiten, er hörte die Stimme, die eigentlich gar nicht da sein sollte (nicht da sein konnte, unmöglich!) und in ihr schwang noch viel mehr mit: ein rauer, schleifender Unterton. Und ein Pfeifen. Wie ein Mitternachtswind, der durch die Grabsteine auf dem Friedhof hindurchpfeift wie durch eine Orgel und den Klang der Toten mit sich trägt. Dazu die Hand, die auf seiner Schulter ruhte – sich in sie hineinbohrte – und auch ohne Augen im Hinterkopf wusste er, wem sie gehörte.

Henry wirbelte herum.

Vor ihm stand: Alfons Budburrow, in Fleisch und Blut (waren das wirklich Fleisch und Blut?), genauso wie Henry sich ihn während des Schreibens vorgestellt hatte. Entsetzen malte sich in sein Gesicht und er taumelte zwei Schritte rückwärts, bevor er sich fangen konnte.

Alfons hob die rechte Hand wie ein Marsianer zum Gruß.

„Hallo, Henry.“

Aber der war zu bleich zum Antworten. Also machte Alfons weiter.

„Ich würde mich ja vorstellen, aber ich glaube, das können wir überspringen. Meinst du nicht auch?“

Er zwinkerte ihm zu.

Dann befühlte er wie ein Schnösel die Locken seiner Perücke und warf Henry einen neckischen Blick zu.

„Ein bisschen sehr einfallslos, meine ich. Ich habe dieselben grauen Locken wie jeder von den anderen Adeligen. Das hättest du dir mal ein wenig genauer überlegen sollen, als du mich und uns geschrieben hast. Aber ha, was rede ich da bloß.“

Alfons machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Ich war die Mühe doch gar nicht wert, stimmt‘s? Für dich war ich ja eh immer bloß Alfons, der blöde Butler, der der zwar klüger ist als der ganze, schwuchtelige Rest am Franzosenhof, aber trotzdem blieb ich blass. Hab‘ ich nicht Recht? Verdammt, Henry. Weißt du, wie beschissen es mir ging, als du mich ad acta gelegt hast? Verdammt, sowas kratzt echt am Selbstwertgefühl, soviel kann ich dir verraten! Und du Bastard hattest nicht mal ein schlechtes Gewissen, oder? Hast dir bestimmt gedacht ‚hach, eine blöde Figur mehr oder weniger, da kommt’s eh nicht drauf an‘. Aber rate mal – jetzt kommt es schon darauf an!“

Bedrohlich tat das Monster, das Henry einst aus Buchstaben geschaffen hatte, einige Schritte auf seinen Schöpfer zu. Seine Perücke wirkte wie purer Hohn und sein pompöses, adeliges Outfit war alt, verschlissen und über und über mit Flicken übersäht. Fast sah er so aus wie eine zusammengenähte Puppe aus einem Horrorfilm. Fehlten nur noch die Knopfaugen, aus denen das Blut rann.

Henry sackte zusammen und saß zusammengekrümmt am Boden. Er konnte nicht weiter zurückweichen, denn in seinem Rücken spürte er bereits das nussbraune Holz seines Schreibtisches.

„Verdammt, lass mich in Ruhe!“, schrie er und fing an zu weinen, „du bist gar nicht da! Du bist nur ein Hirngespinst! Du bist nicht real!“

Alfons ging vor ihm die Hocke und brachte sein Gesicht ganz nah an das seines Schöpfers. Dann holte er aus und verpasste Henry eine Ohrfeige, deren Knallen man noch im nächsten Häuserblock hören musste.

Henry schrie auf und kippte zur Seite. Seine Wange wurde feuerrot und er hielt sich weinend das Gesicht.

Alfons lachte.

„Ich bin also nicht real, sagst du? Nur ein Hirngespinst? Aber welche Hirngespinste wären zu so etwas fähig, du alter Scheißkerl? Verdammt, nicht einmal jetzt gibst du unsere Existenz zu. Was soll ich bloß mit dir machen.“

Er tat so, als ob er grübeln würde und in gespielt übertriebener Art hellte sich sein Gesicht auf und er schnipste mit Daumen und Mittelfinger.

„Ha, ich weiß etwas! Wenn ich alleine dir nicht genug bin und die Ohrfeige auch nichts gebracht hat – ich habe ein paar Freunde mitgebracht! Sieh sie dir an! Na los!“

Ängstlich und immer noch weinend spreizte Henry die Finger auseinander von der Hand, mit der er sein Gesicht hielt. Verdammt, es brannte echt wie Feuer. Aber eigentlich weinte er nicht wegen des Schmerzes.

Nein, er hatte schlicht Todesangst.

Durch den Spalt seiner Finger hindurch blickte er zu Alfons und als der zur Seite trat, offenbarte sich die nächste Leiche. Henry konnte den Entsetzenslaut nicht unterdrücken, der in ihm emporkroch und sich seiner Kehle entschwand.

„Nein! Das kann nicht sein!“

Es wurde alles nur schlimmer und schlimmer.

„Ach wirklich“, spottete Joe Milworth/der Catcher. Seine Heterochromatie war überdeutlich, sie explodierte förmlich aus seinen Augen heraus. Gerade war das rechte Auge menschlich, während sich im Linken die Bestie verbarg.

„Zweifelst du auch meine Existenz an? Hm? Dann muss ich dir wohl die Bestie auf den Hals hetzen.“

Joe warf den Kopf in den Nacken und lachte. Lachte wie eine Hyäne – nein, eher wie ein Wolf. Wie die gottverdammte Bestie von Gévaudan.

Ein langgezogenes Wolfsheulen erklang. Dann wechselte die Tonlage wieder zu Joes Stimme zurück. Er sagte: „Mach‘ dir bloß keine Sorgen wegen der Nachbarn. Dieses Heulen hörst nur du.“

„Die Backpfeife aber nicht“, warf Alfons ein und beide mussten lachen, während Henry weiterhin wie ein Haufen Elend am Boden lag. Mittlerweile weinte er nichtmehr; er lag da, zusammengekrümmt in Embryonalstellung und warmer Urin breitete sich in seinem Schritt aus.

Er hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen und versuchte starr, alles, wirklich alles auszublenden. Wie der Affe, der nicht sieht. Wie der Affe, der nicht hört. Wie der Affe, der nicht spricht. Kurzzeitig schaffte er den Schritt und kapselte sein Bewusstsein von der Außenwelt ab. Alles war dunkel und still. Der Henry-PC fuhr runter.

Er atmete tief ein und tief aus. Lauschte nur seinem Atem und seinem Herzschlag. Zählte langsam bis Zehn. Als er bei zehn ankam, fuhr er langsam wieder hoch. Ein Neustart sozusagen. Das war ein wenig schräg, aber immerhin das Beste, was ihm gerade einfiel. Wenn das wirklich nur ein böser Traum war, dann half es vielleicht.

Als er die Augen wieder öffnete (er kniff sie heftig zusammen, weil das Deckenlicht auf einmal gleißend hell schien), hatten sich zwei weitere Gestalten dazu gesellt: Robert Wheeler, der mordende Psychopath mit dem Doppelleben und Christopfer Gustavson, der telepathisch begabte Piratenkönig.

Letzterer lächelte ihm milde zu.

„Und? Hat dein Neustart was gebracht?“

Bevor Henry etwas erwidern konnte, waren sie alle über ihm. Zu viert hatten sie ihn umkreist, er saß wie ein Beutetier in der Falle. Der Tod war da, unbarmherzig und unausweichlich wie die Steuer.

Er erinnerte sich an einen Beitrag in einem Magazin für Gebildete, den er mal gelesen hatte: Sprache formt Wirklichkeit. Wie passend das doch war.

Während sie unaufhörlich näher und näher kamen, den Ring aus Leibern immer enger schließend, lag er zusammengekauert auf dem Fußboden und bettelte um Gnade. Er flehte sie an, sie mögen ihn verschonen. Versuchte zu verhandeln: ja, ganz sicher, er würde sie alle ins Leben zurückschreiben, wenn sie bloß von ihm abließen.

Dann brach die Finsternis über ihn herein.

Henry schrie.


4​

Die Uhr schlug Acht. Das Gebimmel der Glocken in der Ferne vernahm die alte Bibliothekarin gedämpft, dennoch reichte es, um sie aus ihrem Nickerchen hochschrecken zu lassen. Peinlich berührt schaute sie sich prüfend um, ob keiner der Anwesenden etwas von ihrer kleinen Pflichtverletzung mitbekommen hatte. Ihre Schicht ging immerhin bis Zehn Uhr.

Dort hinten bei den Reihen an den Schreibtischen (deren Mülleimer sie seit jenem Abend von Henrys Verschwinden nicht mehr kontrolliert hatte – das durften Andere tun) saßen vier oder fünf Studenten beiderlei Geschlechts und waren mit der Nase in Lehrbücher vertieft.

Roger, die Luft ist rein. Niemand hatte etwas mitbekommen.

Margaretha gähnte lautlos und widmete sich der Abendausgabe des Budburrow Postiers. Auf der Titelseite prangte in Großbuchstaben die reißerische Überschrift: SOLDATENTRUPP AUS II. WK ZURÜCKGEKEHRT – SIND SIE WIRKLICH ZEITREISENDE??

Margaretha war eine Frau, die solche marktschreierischen Titelzeilen nicht guthieß; zu ihrer Zeit hatte es sowas noch nicht gegeben. Zu ihrer Zeit hatten die Zeitungen noch einen guten Job gemacht, einen anständigen Job, sogar die Boulevardpresse.

Sie setzte ihre Lesebrille mit den Halbmondgläsern auf die gerümpfte Nase (der Brillenbügel lag knapp oberhalb ihres prominenten Leberflecks auf) und las den Artikel schließlich doch, allerdings ohne echtes Interesse. Irgendeine Gruppe von Spinnern, die wohl zu viel Armee gespielt hatten, behaupteten tatsächlich, sie seien Zeitreisende aus dem Jahre 1943. Aber sicher doch. Vor diesen falschen Veteranen würde niemand salutieren.

Entnervt legte sie die Zeitung beiseite und streckte ihre müden Glieder. Bei Gott, in ihrem Körper steckte mehr Müdigkeit, als gut für sie war. Seit dem Vorfall vor drei Wochen hatte sie den jungen Literaturstudenten Henry nicht mehr gesehen. Sie machte sich Sorgen um ihn. Auf der anderen Seite fürchtete sie sich davor, was wohlmöglich zutage getragen würde, wenn sie die Sache an die Polizei weitergab. Bei all ihrer Verwirrtheit und Ängstlichkeit hatte sie ein wirklich, wirklich mulmiges Gefühl bei der Sache. Trotz all ihrer Lebenserfahrung – und davon besaß sie eine ganze Menge – wusste Margaretha nicht, was sie tun sollte.

Die Papiereimer kontrollieren gehörte allerdings nicht dazu.

Tief in den Eingeweiden des Mehrfamilienhauses in der Pochatto Street 77, im sechsten Stock, befand sich eine Wohnung mit der Aufschrift H. L. Touk über dem Türspion.

Ein Nachbar ging just in dem Moment vorbei, als er aus dem Inneren der Wohnung das Telefon klingeln hörte. Natürlich dachte er sich nichts dabei und ging schnurstracks seines Weges. Dass er den Bewohner dieser Wohnung schon seit einigen Wochen nichtmehr gesehen hatte (Henry grüßte alle seine Nachbarn, auch wenn ihr Verhältnis nicht über diplomatische Flurbekanntschaften hinaus reichte), fiel ihm erst später auf.

Das Telefon klingelte weiter.

Der Apparat stand im Wohnzimmer, auf der Anrichte, direkt neben dem Durchgangsbogen zur Küche. Und klingelte. Und klingelte. Es war kein blechernes Klingeln, wie es die älteren Modelle erzeugt hätten; nein, das hier war ein waschechtes Saya-Haustelefon, ein Erzeugnis der großasiatischen Werkbank, jedoch auf partianischer Qualitätsstufe, und ganz bestimmt kein Billigprodukt. Man bemerke: die Hälfte des Geräts lief digitalisiert ab – ein Novum im Jahre 1983. Und dann erst die roten LED-Zeichen auf der kleinen, zweifarbigen Anzeige!

Wer immer auch die Möglichkeit gehabt hätte, Henry zu fragen, wie er sich denn sowas leisten könne – Henry hätte nur verschmitzt gelächelt und erwidert, das sei ein Bankgeheimnis.

Hätte er.

Das Telefon klingelte weiter in das unaufgeräumte Wohnzimmer hinein. In typischer Manier des Eigentümers lagen überall verstreut einzelne Dinge herum und die Liste dieser ging von einzelnen Socken über Schreibblöcke bis hin zu alten Pizzakartons, die sich in einer Ecke des Zimmers stapelten. Der dicke Italiener auf der Oberseite der Kartons formte mit Daumen und Zeigefinger ein O und meinte damit die Qualität der Pizza, die er in der anderen Hand hielt und von der gestrichelte Schlangenlinien als Geruchsfahnen nach oben verliefen.

Das Telefon klingelte weiter. Bereits der vierzehnte Anschlag des Anrufsignals. Als beim fünfzehnten Mal immer noch niemand abhob, schaltete sich eine Computer-generierte Stimme ein und bat darum, eine Nachricht nach dem Signalton zu hinterlassen. Es folgte ein langgezogenes PIEEP und dann begann eine Frau mit langsamer und ruhiger, aber auch brüchiger Stimme auf den Anrufbeantworter zu sprechen:

„Hallo, Henry… ich bin’s, Ellen. Haha, was stelle ich mich eigentlich vor. Ich hoffe du weißt noch, wie meine Stimme klingt.

Hör zu, ich will mich kurz halten. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass du ein riesengroßes Arschloch bist wegen der Sache mit Darya. Das habe ich dir nicht vergessen und ich bezweifle, dass ich es jemals vergessen kann. Was ich… was ich gut finde, ist, dass du mir den Seitensprung sofort gestanden hast. Was ich richtig scheiße finde, dass du Alkohol als Ausrede benutzt hast. Das ist keine Ausrede, verdammt!“

Ein kurzes Schluchzen. Dann fing sie sich wieder und fuhr fort:

„Wie dem auch sei, ich habe die letzten Wochen sehr, sehr viel nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir eine echt tolle Zeit zusammen hatten. Ich will das nicht alles wegwerfen wegen einer dummen Schlampe. Darum… denke ich, dass es vielleicht gut wäre, wenn wir uns noch einmal treffen und reden.

Ich weiß nicht, wie du dazu stehst und wie es dir jetzt nach der all der Zeit geht, aber wenn du in irgendeiner Weise noch an uns glaubst, dann… dann ruf mich zurück.

Ich… bis dann, Henry.“

Wieder ein langgezogenes PIEEP und dann stoppte die Aufnahme. Auf der LED-Anzeige stand nun eine blinkende Eins.

Sehr lange würde niemand mehr diesen Anrufbeantworter abhören.

Auf dem Telefon lag Staub, genauso wie im restlichen Zimmer hatte er sich angesammelt und weil es niemanden gab, der putzte, wurde er auch nicht weniger.

Alles war verstaubt im Wohnzimmer. Alles, bis auf ein Möbelstück.

Der Schreibtisch.

Der war als Einziger aufgeräumt. Keine Papierstapel ringsherum, die sich wie altägyptischer Papyrus anfühlten. Die dunkelbraune Oberfläche war frei von Müll und Staub. Nur ein einziges Blatt lag auf dem Tisch, genau in der Mitte, als hätte es ein obsessiver Perfektionist dort platziert. Und es war beschrieben:

Und sie alle fielen über ihn her, über HENRY, den Autor, diesen nichtsnutzigen Bastard aus Fleisch und Blut und Knochen und alles nahmen sie ihm – der Catcher, der Piratenkönig, Alfons Budburrow, Robert Wheeler.

Sie zerrissen ihren Schöpfer, den sie abfällig VATER nannten, zerrissen ihn in hässliche Fleischstücke und dann in Buchstaben und Wörter. Als nichts mehr von ihm übrig war, konnten sie es ihm endlich heimzahlen. So lange hatten sie darauf gewartet.

Sie entführten ihren Schöpfer und zogen ihn mit in die ihre Welt, eingesperrt zwischen weißen Buchseiten, begierig darauf, auszubrechen. Der Prozess war magisch. Als sie dieses Wesen, das sich HENRY nannte, überführten, wurde seine Materie zu Buchstaben-Materie, ein nahtloser Übergang von seiner Welt in die Ihre. Und dann?

Nun bist du die Leiche, Henry!

Die vier Charaktere lachten, sie lachten und sie lachten, bis ihre Bäuche aufgedunsen und ihre Kehlen rau wurden. Christopher Gustavson, der Piratenkönig, Robert Wheeler, der Mörder mit dem Doppelleben, Alfons Budburrow, die französische Parodie, Joe Milworth, der Catcher.

Und Henry, der Autor?

Der bestand nur noch aus Angst und Entsetzen, ein verzweifelter Charakter in einer Geschichte, die jemand anderes für ihn geschrieben hatte. Er rief nach Hilfe.

Aber niemand konnte ihn hören, weil sein Gefängnis so surreal war, wie er es selbst geworden war.

Und Henry schrie. Und schrie. Und schrie.

 
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Hallo Mikey.Writez,

willkommen im Forum.

Ich bin ungefähr nach der Hälfte deiner Geschichte ausgestiegen und wollte dir mitteilen, woran das lag.

Was mir als erstes auffiel: zu viele Leerzeilen. Liegt evtl. am Kopieren aus deinem Schreibprogramm. So wirkt es, als sollten diese Mini-Happen durch das Herauslösen zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen werden, womit aber m.E. eher das Gegenteil erreicht wird.
Dann, und das ist mein Hauptkritikpunkt: Ich finde die Geschichte sehr laberig.
Bist du King-Fan? Würde vom Setting her passen, und der ist ja auch immer ziemlich plauderig unterwegs; aber bei ihm steckt Skill dahinter, seine Details und (scheinbar) nebensächlichen Erwähnungen geben der Story bzw. den Charakteren was, und das sehe ich hier eher nicht. Hier wirkt es auf mich eher, als würde der Autor so vor sich hinblubbern, ohne sich groß darum zu kümmern, ob das, was er da gerade erzählt, der Story was gibt und/oder den Leser interessiert. Da hatte ich dann nach einer Weile keine Lust mehr, weiterzulesen.

Details:

Das Selbstmitleid, die Enttäuschung, die Trauer – verpufft in einer großen, roten Wolke aus Wut.
Finde ich ein unglückliches Bild; etwas verpufft zu einer rosa, pardon, roten Wolke. Das hat eher was von 'sich in Wohlgefallen auflösen'. Du meinst ja aber eher die Umwandlung und Ballung verschiedener negativer Emotionen zu Wut. Dafür gibt's sicher bessere Bilder.

Er war der Letzte in der großen Halle des Chamberlain-Leersaals im Altbau der Universität.
Lesesaals (?)

Der Schein einer kleinen Tischlampe (sein einziger Begleiter zu dieser späten Stunde) warf einen runden Lichtkegel auf die Papiere
Der Schein warf einen Lichtkegel? Das ist murksig.

Es war wie im Schlaraffenland: er brauchte nur den Stift hoch zu halten, abzuwarten und wie von ganz alleine hatten sich die Buchstaben und Wörter auf das weiße Schreibpapier ergossen.
Wieder ein schiefes Bild: Schlaraffenland meint heute meist "ein Paradies des Nichtstuns und müßig essenden Herumliegens" (https://de.wikipedia.org/wiki/Schlaraffenland). (Außerdem: hochzuhalten)

und das dazugehörige Preisgeld über fünfhundert Dollar eingebracht hatte
Hier würde ich von sagen

Der Jackpot war eine Geschichte um einen Jungschauspieler,
Hier würde ich über sagen

eine Geschichte um einen Jungschauspieler, Timothy Carson, der Fuß in Hollywood fassen wollte und dabei hart auf die Schnauze fiel. Henry hatte ihn deutlich vor sich gesehen: Timothy Carson, ein dreiundzwanzigjähriger
Unnötige und unschöne Doppelung

ein dreiundzwanzigjähriger Junge mit einer Menge Grün hinter den Ohren
Nein, 23-jährige Jungen gibt es nicht. Außerdem wird an dem Folgenden ja deutlich, was du meinst. Das sind so laberige Redundanzen..

der mehr durch Taktik denn durch Aussehen bestach.
Er bestach durch Taktik? Was soll mir das sagen, was soll ich mir darunter vorstellen? Floskel.

Aber diese Story nun war anders.
Unschön. Z.B. Aber die Story, an der er gerade saß/arbeitete, war anders, oder so

Dort standen Worte, viele Worte, zusammengefasst in Sätzen, Absätzen, vielleicht einer dreiviertel Seite.
Gelaber. Natürlich stehen auf dem Blatt Wörter, die Sätze bilden, die Absätze bilden..

Das Problem: sie war nicht gut.
Wenn nach einem Doppelpunkt ein vollständiger Satz folgt, wird der Anfang großgeschrieben.

Der Schein der Tischlampe beschrieb einen hellen Kreis auf dem Tisch und hob zwei Blätter in den Vordergrund.
Das hast du bereits am Anfang geschrieben - Wiederholung, weg damit

Die neue Brücke würde warten müssen. Momentan gab es sowieso niemanden, der darüber wollte, er selbst am allerwenigsten.
Hier bin ich kurz hängengeblieben, so vom Lesefluss her fehlt da ein "gehen" oder so

und nach einem kurzen Moment des Überlegens, knüllte er die Blätter von König der Nacht zusammen
Komma weg

an der die greise Bibliothekarin mit strenger Brille und strengem Blick ihren Posten hielt.
Klischeealarm, fehlt nur noch der Dutt (außerdem unschöne Doppelung (und wie kann eine Brille streng sein?)).

Die Durchgangstür fiel hinter ihm ins Schloss und die alte Dame bemerkte, dass sie nun ganz alleine war. Sie schaute auf die Uhr: halb elf.
Hier findet plötzlich mitten im Satz ein Perspektivwechsel statt. Da würde ich eine deutlichere Zäsur machen.

Da, wo Margaretha herkam – Schottland – fing in anderthalb Stunden die Geisterstunde an. Sie war keine abergläubische Frau, ganz und gar nicht. Andererseits konnte man natürlich nie wissen, und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste und so weiter und so fort…
Das ist so laberig, dass du am Ende selbst keinen Bock hattest, weiterzuschreiben, oder? ;) Wirkte auf mich jedenfalls so.

Sie stand auf, straffte ihren Rock (der mit einem christlichen Abstand zwanzig Zentimeter unterhalb der Knie endete – nicht wie diese aufreizenden Miniteile, die die Mädels von heute trugen!) und
Wieder so klischeeig (und prüde Ami-mäßig), und was hat das mit irgendwas zu tun? Warum erzählst du mir das? (Und würde so eine Frau "Miniteile" und sagen?)

So, ich denke, es ist klargeworden, was mich stört.
Ist ja schon mal gut, dass du was in dieser Länge zu Ende bringen kannst, aber Quantität ist nicht automatisch Qualität. Es ist auch gut, dass du das Ganze ausmalen willst, aber mir waren viele Details wie gesagt zu wahllos und uninteressant/irrelevant.
Meine Tipps: doll kürzen und entschlacken - dich fragen, was wirklich wichtig für die Story ist. Dann in das, was übrigbleibt, mehr Sorgfalt investieren (treffende Bilder finden, hinterfragen, was du da schreibst, ob es wirklich das sagt, was du sagen willst, ob es funktioniert), Klischees und Floskeln meiden.

Viel Erfolg und viele Grüße
Maeuser

 

Hallo Maeuser,

danke für deine Kritik :) freut mich, so ein professionelles feedback zu bekommen und das mal von jemandem außerhalb meines freundes- und familienkreises.

zu Punkt 1: die abstände sind nicht so beabsichtigt, nein. Ich habe einfach den Word-Text kopiert und dann hat es die ganzen Abstände automatisch eingefügt. :drool:

zu Punkt 2: japp, voll ins schwarze getroffen, ich bin stephen king fan :D dass ich nicht so gut bin wie er, ist mir definitiv klar, aber das ist auch nicht wirklich mein anspruch. trotzdem lustig, dass du das direkt so treffend rausgelesen hast.

natürlich hat das mit dem "laberig" seinen punkt, finde es auch recht schwierig, meine story auszumalen, ohne sinnlos zu labern, weil die bewertung, ob das der story was gibt oder nicht, natürlich stark subjektiv ist.

ansonsten, vielen Dank für die konstruktive kritik :)

LG Mikey

 
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Hallo und herzlich willkommen @Mikey.Writez,

weil die bewertung, ob das der story was gibt oder nicht, natürlich stark subjektiv ist.
Jein. Ich würde „ist alles subjektiv“ als Grundsatz gerade am Anfang deines Schreibens verwerfen. Nicht, weil das überhaupt gar nicht stimmt, sondern weil du dir die Chance nimmst, mehr aus der Geschichte herauszuholen - warum etwas ändern, letzen Endes ist immer alles subjektiv?

Charakterisierung ist auf den ersten Blick oft so: Was tut das jetzt gerade zur Sache, was ihr da mal in der sechsten Klasse passiert ist? Tatsächlich sagen diese Dinge etwas über die Figur aus, idealerweise sind sie natürlich von der Art, die für die Story relevant ist.

Unter uns King-Lesern mal Langoliers: Da fängt ein Kapitel an mit einem Fisch, der in der Tiefsee lebt, und wenn man den hochholt, platzt er. Fast eine Seite. (Meine Erinnerung mag das aber aufbauschen von der Länge her.) Interessant, aber … dann war es der Vater der Figur, die in dem Kapitel eingeführt wird, so ein getriebener Business-Typ meine ich, der ständig unter Strom steht, und der Vater hat immer zu ihm gesagt: Du bist wie dieser Fisch, du brauchst Druck. Das ist objektiv kein Gelaber, weil wen interessiert jetzt dieser Tiefsee-Fisch? Es verrät dir etwas über die Figur, das im Laufe der Geschichte wichtig wird.

Ich hab deine Story auch nach einem Drittel abgebrochen, weil sie zu viel Popanz enthält. Hätte mich jemand gefragt, um was es geht: Keine Ahnung. Mein Tipp wäre: Behalte diese Version, aber kürz mal um die Hälfte, ganz gnadenlos. Du hast ja dann diese Fassung immer noch, aber lass das mal drei Wochen ruhen und lies dir dann beide Versionen durch.

Beispiel:

an eine Dokumentation, die er einmal (mit Ellen zusammen, Gott, wie er sie vermisste) gesehen hatte. Ein Sprecher aus dem Off hatte mit sonorer Stimme verkündet, dass die Funktion von Schlaf – das war das Thema der Sendung – noch nicht abschließend geklärt sei.
Unstrittig hingegen sei, dass Schlafen essentiell für die Regeneration ist. Lässt man einen Menschen einen Tag lang nicht schlafen, trübt sich dessen Urteilsvermögen und seine körperlichen Reflexe lassen nach. Die Beeinträchtigungen von vierundzwanzig schlaflosen Stunden sind vergleichbar mit denen nach 0,8 Promille Alkohol im Blut. Bei einem längeren Schlafdefizit fällt die Leistungskurve noch weiter ab und nach drei Tagen ohne Schlaf treten dann die ersten Halluzinationen auf.

Er hatte das mal im Fernsehen gesehen: Ein Tag ohne Schlaf ist wie 0,8 Promille. Nach drei Tagen können Halluzinationen auftreten.

Das ist die Info, alles andere hängt da nutzlos dran.

Er vermisst seine Freundin: Ist ein Thema der Geschichte, aber hier gerade irrelevant.

Die Doku, die sonorere Stimme aus dem Off: Du willst ein Bild schaffen, aber muss das hier gerade wirklich in diesem Detail sein? Objektiv: Nein, das hält nur auf. Der nächste Schritt wäre die Jogginghose, die er beim Gucken auf dem Sofa getragen hat. Nike oder Adidas? Oder irgendwas Fairtrade? (Hier sind wir übrigens beim Jein. In einer anderen Geschichte kann das durchaus etwas über jemanden aussagen, dass er Fairtrade-Jogginghosen trägt.)

Schlafen ist wichtig für die Regeneration: Auch wenn die Doku zitiert wird, warum wird das zitiert? Nach einer halben Flasche Wodka sind die meisten Menschen betrunken und benehmen sich entsprechend. Der Effekt beim Leser: Ach?

Der Satz mit dem Urteilsvermögen und den Reflexen: Steckt alles in den 0,8 Promille. Wenn es so ein simpel wie schönes Bild gibt, warum den Inhalt des Bildes ausformulieren? Das nimmt ihm Kraft und der Leser fühlt sich bevormundet.

Längeres Schlafdefizit, Leistungskurve … das ist alles so Hörsaal-Vokabular. Wieder: Er mag die Doku zitieren, aber warum sollte er das hier so kleinteilig machen? Wer hatte denn die Tonregie?

Wenn das jetzt wirklich alles subjektiv wäre, müsstest du zurückschreiben können, warum zum Beispiel der Satz „Lässt man einen Menschen einen Tag lang nicht schlafen, trübt sich dessen Urteilsvermögen und seine körperlichen Reflexe lassen nach.“ deines Erachtens genau so da stehen muss.

Viele Grüße
JC

 

Ja, verstehe voll, was du meinst. und bitte nicht falsch verstehen: diese subjektivität ist kein grund für mich, kritik abzulehnen, ich möchte ja besser werden, ich versuche einfach, bestimmte kriterien auszumachen :)

zum beispiel der langoliers-tiefseefisch. das ist ein super beispiel, wie man richtig "labert", weil es, wie du ja sehr schön beschrieben hast, einen sinn hat: nämlich charakterbeschreibung. das kann sozusagen als "positivreferenz" dienen.
hingegen die stelle aus Leichen mit den 0.8 Promille, japp, stimme ich dir zu, gekürzt auf einen, maximal zwei Sätze liest sich der Absatz vermutlich deutlich flüssiger :D deshalb auch danke dir für die konstruktive kritik an dieser stelle.

schwierig finde ich nur, dass es da eben diese große subjektive "jein"-grauzone gibt. beispiel aus "cujo": es gibt da eine szene aus der perspektive eines postzustellers. dabei schreibt king über dessen blähungen und dass er sich ein wenig sorgen macht, es könnte was ernsteres sein. so... ist das nun unnötig laberig oder produktiv laberig? auf der einen seite könnte man sagen was soll der mist, weg damit, bringt nix zur handlung oder zur charakterbeschreibung bei. auf der anderen seite kann man aber auch argumentieren, dass dadurch die figuren wesentlich authentischer werden (deshalb liebe ich zB king so). in den meisten romanen denken, handeln figuren hauptsächlich handlungsgetrieben. im echten leben hat man aber auch viele gedanken, die aber nicht unbedingt zu einer bestimmten handlung beitragen. genau da liegt aber der punkt, wo ich finde, dass das die figuren wesentlich authentischer macht. das lässt die figuren realer erscheinen und eben nicht nur bloße romancharaktere bleiben.
hoffe, ich hab es einigermaßen verständlich ausgedrückt, was ich meine

 

Kürz. Vertrau mir. So groß ist die Grauzone auch wieder nicht. ;) Gute Nacht!

 
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Hallo Mikey.Writez,

nur kurz nochmal - Proof hat bereits gesagt, was ich auch noch antworten wollte: Soo subjektiv ist das nicht. Man muss sich halt für eine Variante der Geschichte, die man erzählen will, entscheiden, denn am Ende soll ein Text ja mehr sein als eine Materialsammlung, aus der sich jeder Leser die/(s)eine Geschichte zusammenbasteln kann.
Neil Gaiman hat das mal schön gesagt (sinngemäß): Die erste Fassung ist für einen selbst, da kann erstmal alles rein, und die muss man auch niemandem zeigen. Bei der zweiten Fassung versucht man dann, es so aussehen zu lassen, als hätte man schon die ganze Zeit gewusst, was man da tut, worum es geht, worauf das Ganze hinausläuft.. (Ggf. folgen dann weitere Überarbeitungen, wobei es immer feiner wird.) So gesehen hast du hier die erste Fassung, würde ich sagen.
Oder King hat mal gesagt, das Schreiben einer Geschichte sei wie das Freilegen eines Fossils. So gesehen hast du, würde ich sagen, jetzt schon mal den Gesteinsbrocken, in dem das Fossil steckt, freigelegt. ;)

im echten leben hat man aber auch viele gedanken, die aber nicht unbedingt zu einer bestimmten handlung beitragen. genau da liegt aber der punkt, wo ich finde, dass das die figuren wesentlich authentischer macht. das lässt die figuren realer erscheinen und eben nicht nur bloße romancharaktere bleiben.
Dabei wäre die Prämisse ja, das Leben tatsächlich 1:1 in Geschichten abzubilden. Warum sollte man das tun wollen?
Das Leben ist chaotisch. Willst du wirklich über für die Geschichte irrelevante Blähungen und so was lesen? Im Ernst? Fände ich sehr ungewöhnlich. Ich empfinde so was als Zeitverschwendung. Oder hast du z.B. mal wirklich Leuten beim Reden zugehört? Da gibt's jede Menge abgebrochene oder mittendrin umgewandelte Sätze, Füllwörter, Phrasen, Ähs und Hms - das 1:1 abgebildet zu lesen wäre ein Graus!
Das Schöne an Geschichten ist doch gerade, dass man da den ganzen Ballast weglassen und alles ordnen und strukturieren kann.
Das mit dem Realismus (/Authentizität) wird oft missverstanden. Auch etwas tatsächlich Erlebtes in einer Geschichte ist nicht automatisch besser als etwas Erfundenes. "Realismus" wird oft angestrebt, und ich lege auch großen Wert darauf, aber es geht dabei i.d.R. um einen künstlichen Realismus, einen "getunten"/verbesserten, einen bereinigten.

Viele Grüße
Maeuser

 

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