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Lisboa
Ich bin Autor und sitze im Nachtzug nach Lissabon.
Jaja, das gab’s schon mal, ich weiß – aber ich bin keiner, der Ideen klaut. Es entspricht der Wahrheit und deshalb kann ich nicht schreiben, dass ich im Frühzug nach Paris sitze.
Außerdem kann ich’s beweisen: Fahrkarte und Platzreservierung bewahre ich vorsichtshalber in meiner Brieftasche.
Die trage ich immer am Herzen. Besonders jetzt, denn meine Reise nach Lissabon ist eine Herzensangelegenheit.
Lissabon oder Lisboa? Nie kann ich mich entscheiden. An gewissen Tagen gefällt mir Lisboa besser, an anderen Tagen Lissabon. Vielleicht sind es die Tage mit oder ohne ‚r’. Aber wenn ich es recht überlege, dann ist es wohl wie mit Hedwig und Anja.
Hedwig steht am Bahnsteig, zuverlässig wie immer, hilft mir beim Gepäckschleppen und fährt mich in selbstloser Weise zu meiner Adresse. Klingt komisch, aber bei ihr will ich nicht logieren – sie hat es schon so oft angeboten.
Ich schlafe lieber bei Anja. Die steht nie am Bahnsteig.
Der Grund für diese Reise ist sentimentaler Natur.
Eventuell - bei Lust und Laune - will ich einen Text über die Stadt schreiben, wie sie mir heute erscheint. Vielleicht geht’s auch nur darum, statt Venedig noch einmal Lissabon zu sehen und dann zu sterben.
Aber das ist doch Blödsinn! So schnell stirbt man nicht in Lissabon. Hier ist man lieber lange traurig als schnell tot. Der prall gefüllte Raum zwischen Leben und Tod verwischt, fast unmerklich gehen die beiden Extreme ineinander über. Ein Traum ist in dieser merkwürdigen Atmosphäre keine Halluzination, sondern steht gleichberechtigt neben der Realität - die hier oft weniger real erscheint als anderswo. Aber vielleicht werde ich das selbst erfahren?
Ich möchte noch einmal dort sein, wo ich mich früher herumgetrieben habe - an den zugigen Haltestellen der Aufzüge, bei den Docks und den schwarzen Mädchen, an den endlosen Treppen im geheimnisvollen Licht. Will mich an Ort und Stelle erinnern an bemerkenswerte Momente - ganz besonders an ‚mein’ heiß geliebtes Kaffeehaus. Wie hieß das doch?
Irgendwas mit ‚Gloria’.
Aber egal, es ist abgerissen worden, wie das restliche Barockviertel. Bald wird sich die Welt auch nicht mehr an meinen Namen erinnern. Was macht das schon?
Und doch kommt leises Sehnen auf, fast höre ich die Geburtswehen der adlergekrönten Kaffeemaschine, wenn sie meinen kleinen Schwarzen, die Bica, mit Keuchen und Schnaufen aus sich herauspresste.
Eine leichte Melancholie kommt über mich, einer dieser Lissabonner Momente, in denen man allein ist, auch keine Gesellschaft braucht, nur etwas Alkohol. Und wie durch Zauber stehe ich einen Augenblick später an der Liliput-Theke von „A Ginjinha“ im Zentrum des Zentrums, so zentral gelegen, dass es schon wieder ein Geheimtipp ist, aber das hängt mit der Winzigkeit des Lädchens und des Angebots zusammen: Auch wer keinen Kirschlikör mag, muss ihn hier trinken – oder wieder gehen, denn es gibt nur den. Aber gut ist er, dafür leg’ ich meine Hand ins Feuer. In meinem Fall beschert mir dieses kleine Stimulans noch ein amüsantes Wiedersehen, denn mir fällt die Rua do Loureiro ein. Ja, da will ich noch mal hin!
Nach unvorstellbar langer Zeit betrete ich diesen Antiquitätenladen, in dem ich bei meinem ersten Lissabon-Besuch eine faszinierende Waage sah – ein prächtiges Stück, wie es in Apotheken stand - ehrfurchtheischend mit Mahagonisockel, zwei blinkenden Messingschalen und einem kunstvollen Zünglein in der Mitte des Waagebalkens.
Ich musste es beim Anschauen belassen, hatte weder genügend Geld noch eine Transportmöglichkeit. Als Trost kaufte ich mir eine hübsche Briefwaage.
Der junge Verkäufer, blass, mit Moustache, einem Berg schwarzer Locken und kessem Blick, sagte beim Einwickeln meines Lissabonner Souvenirs: „Da haben sie etwas Gutes gekauft. Das ist Qualität aus Deutschland“, und zeigte mir das gravierte D.R.P.
Jedenfalls hat es mich noch mal hierher gezogen. Ein freundlicher Mann legt sein Buch zur Seite, steht auf und sagt: „Guten Tag, der Herr. Womit kann ich dienen?“
„Guten Tag, darf ich mich ein bisschen umsehen bei Ihnen?“
„Aber selbstverständlich doch. Bitte sehr.“ Er macht eine weit ausholende Geste, als würde er mir die ganze Welt zu Füßen legen, hält abrupt inne, der ausgestreckte Arm bleibt wie bei einer Statue steif in der Luft stehen. Ist er plötzlich versteinert? Er macht große Augen und findet dann die passenden Worte: „ Ich hab’s gewusst, dass Sie zurückkommen. Ich hab’s gewusst! Sie haben damals Tiagos Waage gekauft!“
Ich verstehe nicht so recht und muss mich sammeln: „Eine Briefwaage – ja, das stimmt. Aber woher wussten Sie, dass ich zurückkommen würde?“
„Von meinem Vater. Der sagte immer: ‚Jeder kommt irgendwann zurück nach Lisboa.’ Und natürlich – je jünger einer ist, desto sicherer ist das.
Oh, Verzeihung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt - Nuno Carvalho.“
„Freut mich. Klaus Lorenz - aber ich kann nicht glauben, dass Sie sich an mich erinnern! Das sind doch locker an die zwanzig Jahre?“
„Mais o menos, kommt so ungefähr hin. Die meisten Gesichter vergisst man nach einiger Zeit, aber Ihres habe ich mir eingeprägt wegen Tiagos Heft. Und einprägsam ist ja auch Ihre Körpergröße.“
So langsam erkenne ich meinen Verkäufer wieder. Moustache und Lockengebirge sind grau geworden. Es ist kein vornehmes Grau, kein nobles Platin, es ist eher die Farbe schmelzender Gletscher. Sein Blick jedoch hat nichts an lustiger Wachheit eingebüßt.
Erst einmal will ich etwas klären: „Wer ist Tiago?“
„Ach, das ist ein alter Bekannter, ein ehemaliger Seemann, der hier in der Nähe gewohnt hat und ein paar Mitbringsel aus Übersee verkaufen wollte. Aber das waren Sachen fürs Kuriositätenkabinett - Antiquitäten waren keine dabei, bis auf Ihre Briefwaage. Für die hab ich ihm einen Preis gemacht und er hat sie hier gelassen.“
Er durchsucht eine Schublade und wird fündig: „Dieses Heft hat er dazugelegt und mir einen Eid abgenommen, diese beiden Sachen nur zusammen zu verkaufen.“
Er reicht mir ein blau eingebundenes Schulheft.
„Als Sie hier waren“, fährt er fort, „hatte ich das Geschäft gerade von meinem Vater übernommen. Ich habe Ihnen die Waage versehentlich ohne das Heft gegeben. Mein Fehler. Ob Sie damit wirklich etwas anfangen können, kann ich mir nicht vorstellen, aber jetzt hat ja alles seine Ordnung“.
Ich bedanke mich und frage: „ Aber wieso gehört das Heft zur Waage?“
„Das war Tiagos Idee: Der Käufer seiner Waage könnte viel mit Schriftlichem zu tun
haben“, erklärt Nuno Carvalho. „Beim Lesen würde der vielleicht Tiagos Gedanken verstehen, seinen Freunden davon erzählen, sie möglicherweise sogar veröffentlichen. Tiago litt unter der Angst, umsonst gelebt zu haben. Er wollte etwas hinterlassen, müssen Sie wissen.“
„Das versteh’ ich. Haben Sie mal einen Blick hineingeworfen?“
„Ja, hab ich.“
„Und?“, bohre ich weiter.
„Na ja, ist schon interessant. Vieles hab ich nicht verstanden, aber einiges hat mir gut gefallen. Der Tiago war ein Philosoph. Bisschen eigenbrötlerisch, ja, und ziemlich ernsthaft.“ Er holt viel Luft, wie vor dem Tauchgang: „Seine Worte haben etwas Drängendes, ich verspüre beim Lesen ein Unbehagen – als wenn man die Schminke vom Leben kratzt.“
Wir tauschen noch einige Höflichkeiten aus und ich stehe in der Nachmittagssonne. Carvalhos Worte hallen nach. Die Zugabe zu meiner Waage ist wohl mehr als ein Poesiealbum.
Ah, der Tejo! Der große Spiegel, der meistens funkelt und glitzert und auch über und neben sich alles aufwertet, fast veredelt. Der Himmel glänzt, die Stadt glänzt.
Die glänzt mehr, als sie wert ist.
Wer weit über den Strom schaut, das andere Ufer zu erfassen versucht, versteht mit einem Mal die großen Seefahrer. Der Fluss selbst ist schon Meer in seiner Mächtigkeit, fasziniert die Unzufriedenen, Chancenlosen und Verzweifelten. Schiebt und drückt alles hinaus aus dem engen, kleinkarierten Land in die Unwägbarkeit - hinaus ins Ungewisse, aber Mögliche.
Tiagos blaues Heft nehme ich überallhin mit, nutze jeden Augenblick, darin zu blättern. Seine Bildhauerschrift trifft mich mit Intensität und Wucht. Sein Text beeindruckt mich nicht nur, nein – er fesselt mich.
Ich wollte von Lissabon schreiben, von dieser alten Kuh mit den Triefaugen. Aber daraus wird nichts, denn Tiagos Leben wird meine Geschichte füllen. Ich muss von ihm schreiben, von einem Mann berichten, der sagt, was er denkt – und weil er Portugiese ist, sagt, was er empfindet.
Ich lese: ‚Ich kann hier nicht bleiben. Die ganze Welt lebt nach ihren Plänen und Zielen, aber ich kenne so etwas nicht.
Was sollte ich denn planen und worauf zielen, mit schiefen Absätzen und ohne Geld? Ich muss fort.
Denn bliebe ich hier, müsste ich mir im Alter sagen, dass ich mein Glück in der Ferne nicht gesucht und damit nicht gefunden habe. Ich habe gar keine andere Wahl als wegzugehen.’
Jede Nacht piesacken ihn Träume von einer schöneren Welt - weit weg von hier. Er würde reich sein, reich und glücklich.
Hundertmal größere Ländereien würde er haben als Don Vincente, mit Dienern, einem Koch, Gärtnern und einem weißen Bentley.
Tiagos Hände reißen auf, vom Salzwasser genässte Taue vervielfachen den Schmerz seiner Wunden. Der Fraß aus der Kombüse ist fürchterlich.
Das gelobte Land entdeckt er nicht.
Wohin er kommt, ist alles schon verteilt, besetzt, reserviert.
Eleanora, seine große Liebe, beachtet ihn nicht – und kann bei seiner Ungeschicklichkeit auch gar nicht wissen, was er für sie empfindet. Er verzehrt sich immerzu nach ihr, träumt von ihr, tagsüber und nachts, träumt, dass sie am Hafen steht, wenn er heimkommt, wie die Frauen der anderen, träumt, dass sie ihm über den Kopf streicht und ihn küsst.
Je länger er auf den Schiffen schuftet, desto realistischer wird sein Weltbild. Dem Land entfremdet er sich immer mehr, doch sein Leben auf den Schiffen ist ebenfalls freudlos.
Wie schnell so ein Menschenleben vorbei ist! Wie lange liegt das zurück, als er noch dachte, unbegrenzt Zeit zu haben, um all seine Wünsche und geheimen Vorstellungen zu leben.
Mir ist, als wäre ich dabei gewesen. Tiago hatte nur die Wahl zwischen Enttäuschungen. Ich wäre zerbrochen.
Er nicht. Er ist Portugiese! Für ihn scheint über einem ungerechten Planeten mild ein Stern mit tröstenden Strahlen. Die tasten über seine Seele und massieren sanft sein Herz. Langsam lösen sich die Verkrampfungen und die Verbitterung.
‚Saudade’ heißt das Zauberwort - eine milde Betäubung, die sich barmherzig auf den Leidenden senkt und ihn zwischen ihren Brüsten wärmt und liebkost.
Geräuschlos lässt sich Tiago neben mir nieder. Es überrascht mich nicht. Anstandshalber rücke ich ein wenig zur Seite.
Er sagt: „Danke“.
Ich weiß nichts zu sagen.
Wir schweigen.
Ein feiner Sprühregen geht nieder. Aus einer Tür in Rot und Grün quillt ein schwermütiger Fado. Er winkt ab, sein Leben ist ihm Fado genug. Schwaden dieser sentimentalen Musik verfangen sich in unseren Kleidern. Wir wollen uns befreien von dieser Traurigkeit und stehen wieder bei „Ginjinha“.
Kirschen und Alkohol gehen mit unserem Blut eine innige Verbindung ein.
Melancholische Stadt an Fluss und Meer.
Liegt sein Schiff in Lisboa, geht Tiago von Bord, streicht durch die Straßen, durch die Bars. Fremde Leute rempeln ihn an, grässlich geschminkte Frauen zeigen mit kalten Augen ihre Zähne und Brüste.
Er hofft, der Abschiedsschmerz beim Hinausfahren werde aufgewogen durch das Glücksgefühl bei der Rückkehr. Doch die Stadt kümmert sich nicht um ihn, hat für Gefühle keinen Sinn, geht lieber ihren Geschäften nach.
Ha – seine Stadt! Wie sie ihn verwöhnen will mit der gemauerten Symbolik der Größe. Wie sie versucht, ihn zu korrumpieren mit der Großartigkeit ihrer Avenues, mit der Aufeinanderfolge der beeindruckenden Plätze. Ein Pappmachétheater für die kleinen Leute.
Seine Stadt? Aber nein, das ist sie schon lange nicht mehr. Trotz der vielen gemeinsamen Jahre haben sie sich auseinander gelebt. Er ist die meiste Zeit auf See, sie gefällt sich in Erinnerungen an eine mondäne Zeit. Beflissen versucht sie, ihre Schäbigkeit zu verbergen, will Verfall als pittoresk verkaufen. Tiago kennt sie genau.
Oberhalb der Alfama finden wir ein billiges Lokal.
Er kramt einige Münzen aus seiner Tasche, nimmt eine Bica und einen Schnaps. Ich entscheide mich für einen eiskalten Rosé.
Die Sonne bricht durchs Gewölk und wir treten hinaus auf die kleine Terrasse.
In der Kurve hinter uns quietscht die alte Tram, unter uns staffeln sich die Dächer der Altstadt. Ein Irrgarten von krummen Gassen. Gemurmel wie Meeresrauschen dringt herauf, verzerrte Musik, der Gestank gegrillter Sardinen. Der breite Fluss ist kein Magnet mehr. Der hat nur enttäuscht. Gibt vor, den Weg zum Glück zu kennen und lässt uns dann im Stich. Daran ändert auch sein Aufscheinen im Glanz der durchbrechenden Sonne nichts. Diese silbernen Blitze – einfach lächerlich.
Tiago stellt die Getränke auf die Mauer, es stehen ein paar Stühle herum. Über die Tische ist eine hässliche Plane gezurrt. Ich greife zu meinem Schreibzeug. Er zieht begierig an seiner Zigarette.
das alles ist so hoch und tief und weit und breit.
Und niemand weiß rein gar nichts und kann’s auch gar nicht wissen.
Nicht einmal ich selbst weiß,
wer ich bin oder war.“
Ich bin Tiago etwas schuldig. Meine Macht als Autor wird mir plötzlich bewusst.
Zwar kann ich sein Leben nicht mehr ändern, aber ich werde ihm ein Denkmal setzen.
Er soll nicht umsonst gelebt haben. Die Welt wird sich an ihn erinnern. Bessere Zeiten werden kommen.
In den Lokalen des Bairro Alto werden Frauen mit schwarzer Stola und durchdringender Stimme von seiner unglücklichen Liebe, seinen Entbehrungen und Sehnsüchten singen – begleitet von der guitarra portuguesa, die unnachahmlich jedes Gefühl verstärken kann.
Die Zuhörer werden sich öffnen, mit feuchten Augen jedes Wort auf sich wirken lassen. Sie werden ergriffen sein von seiner Entschlossenheit, der Misere zu widerstehen, sich zu behaupten, den Kopf hoch zu tragen.
Seine Verehrer werden ihn San Tiago nennen. Auch die Fremden werden, ohne portugiesisch zu sprechen, seine Botschaft verstehen und mit in ihre Länder nehmen: Lass Dich nicht unterkriegen!
Zum Schluss wird er von seiner rosafarbenen Wolke noch einmal herunterschauen auf seine große Liebe – nicht auf Lisboa, auf Eleonora!
Gerade bereitet sie für ihre Enkel das Abendessen: fette Kohlsuppe und warmes Maisbrot.