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L'Isolée
Mitten in der Nacht. Warum wecken sie mich? Ist es Nacht? Ich sehe das Licht durch die geschlossenen Augenlider. Ich öffne die Augen. Taghell ist es. Ich habe geträumt, dass Nacht ist, dabei ist es Tag. Ganz nah sehe ich Natalies Gesicht, unscharf, wie durch einen Schleier. Vielleicht habe ich die Augen auch nicht richtig geöffnet, die Lider noch nicht ganz hochgezogen. Aber das ist sie, ganz sicher, sie hat mich geweckt. Sie will mir etwas sagen. Vielleicht hat sie es bereits gesagt. Ihre großen Augen sehen mich besorgt an. Bin ich krank? Natürlich bin ich krank. Das weiß ich doch. Mein Bett ist ein Krankenhausbett. Es steht im Wohnzimmer. Unsere Wohnung liegt im Erdgeschoss, und das Wohnzimmer liegt zur Straße hin. Ich weiß genau, wo ich bin. Das Licht fällt von links ins Zimmer. Da sind die Fenster, die ich sehen würde, wenn ich den Kopf drehen könnte. Ist nicht nötig. Ich sehe das Licht. Ich kenne die Fenster. Und es ist doch nun schon lange so, dass hier das Bett steht. Dass ich hier liege. Vielleicht stehe ich jetzt auf. Ich will aufstehen. Sie hält meinen Arm fest, sie berührt meine Lippen mit der anderen Hand. Das ist angenehm. Ich weiß, wer sie ist. Wenn ich ihren Namen sage, freut sie sich. Ihr Name. Ich will ihn sagen. Ich weiß ihn. Ich weiß den Namen, eben noch habe ich ihn gedacht, nicht wahr? Aber ich weiß nicht, wie ich ihn von dem Ort in meinem Kopf, an dem ich ihn weiß – und ich weiß, dass ich ihn weiß – wie ich ihn von da herüberbringe in den anderen Teil meines Kopfes, in dem ich die Wörter sehen kann, und von da, wo ich den Namen sehen könnte, wiederum hinunter in den Teil des Kopfes, in dem der Mund mit der Zunge und die Zunge mit den Lippen die Laute formen, die zu deinem Namen gehören, während ich dabei ausatme und den Kehlkopf nach hinten drücke. Vielleicht drücke ich ihn nach oben? Ich atme aus. Tatsächlich: ein Laut. Wie ein Schnurren, findest du nicht? Ich lächle. Ich drücke ihre Hand mit meinem Arm.
Nein, das kann nicht sein. Das habe ich mir vorgestellt. Mit dem Lächeln bin ich mir auch nicht sicher. Aber geschnurrt habe ich. Deine Augen sind ganz groß und nah. Nicht ganz so große Augen machen, ich bitte dich. Etwas liegt auf meiner Zunge. Ja, ich erinnere mich. Sie hat etwas auf meine Zunge gelegt, damit ich ihren Namen nicht vergesse. Danke. Es löst sich auf. Es geht etwas besser. Danke.
Ich stoße die Tür auf. Ich sehe die Nacht draußen wie eine dunkle Wand, ich spüre die Kälte. Ich trete hinaus. Kalt ist es. Aber nicht wirklich dunkel. Der Schnee leuchtet, die Gletscher hinten am Gran Paradiso leuchten. Sie schlafen unter dem Mond. Die Lampe kann ich gleich ausmachen. Ich höre Stefan hinter mir, ich drehe mich zu ihm, nehme das Seil von meinem Gurt aus auf in zehn ruhigen Schlaufen. Ich weiß, dass er es ist, dabei sehe ich sein Gesicht nicht, der Helm reicht ihm tief ins Gesicht und die Sturmhaube hat er auch auf. Wir setzen uns auf die Bank, legen die Steigeisen auf den abgeschabten Holzboden. Ich höre meinen Atem, ich sehe ihn aufsteigen. Schnell, die Handschuhe zur Seite, die Steigeisen angeschnallt, den Riemen festgezogen, auf die Uhr geschaut: Viertel nach drei. Gut. Schnell zurück mit den Händen in die Handschuhe. In der linken Hand den Stecken, in der rechten den Pickel. Ich gehe los. Das Seil strafft sich kurz, dann höre ich Stefans Schritte hinter mir. Das Seil entspannt sich.
Wir gehen über einen schmalen Weg zu den Felsen, und über die Felsen bergauf. Den Weg auf den Gletscher sind wir gestern auch gegangen, rote und weiße Markierungen alle paar Meter auf dem schwarzen Felsen. Wir gehen zügig, das Seil locker, gerade, dass es den Boden nicht berührt. Und wie wir aufsteigen, wird erst vor uns, dann um uns herum das Eis sichtbar, die große, weiße Fläche, der Gletscher des Riesen, so heißt er: Glacier du Géant. Auf dieser Seite schmiegt sich das Eis an den Felsen. Nur eine feine Schneeschicht liegt darauf, wir sind die Ersten, die sie betreten. Unsere Steigeisen hinterlassen kaum Spuren, zwölf winzige Kratzer bei jedem Schritt, und ein leichtes, trockenes Knirschen. Um uns und unter uns das tiefe Weiß. Wer weiß, ob nicht im Gletscher, weit unter uns, bei den Knochen sehr alter Tiere, vor langer Zeit gestorben, ob dort unten nicht ein Zittern durchs Eis geht, mit jedem Schritt, den wir hier oben tun, ob nicht ein Riss, feiner als ein Haar, sich auftut, ob die Tiere unten im Eis wirklich tot sind, oder ob sie nur schlafen, und ob nicht, durch unser Wandern, durch das Kratzen der Steigeisen und des Pickels auf dem Eis, eines aufwacht, tief unten, und das Auge öffnet, nach Hunderten oder Tausenden von Jahren, von Jahrmillionen. Es gibt Haie, die können drei- vierhundert Jahre alt werden. Vielleicht bin ich auch so ein Tier. Ich gehe langsam. An meinem Gurt spüre ich das Gewicht des Seiles, und zehn Seilschlingen hinter mir höre ich Stefan gehen, kratzende Schritte und das Klingeln der Eisschrauben an seinem Gurt. Nur das. Das Kratzen der Steigeisen auf dem Eis. Links von uns die Nordwand der Tour Ronde, sie scheint von uns fortzustreben, nach Süden oder hinunter ins Tal. Klein sind wir, Schiffchen auf einem Meer, und langsam. Und doch werden wir über den Gletscher der Riesen in den verfluchten Zirkus aufsteigen, so heißt die höchste Stelle, Cirque Maudit, und von dort auf die Spitzen des Teufelsgrates. Teufelshorn, Chaubert, Mittelspitze, Carmen, und als letzte: l'Isolée. Die Einsame. Fünf Türme, eine Festung im Eis. Fünf Finger an der Hand des Teufels, fünf Krallen, die sich dem Himmel entgegenstrecken. So lange habe ich darauf gewartet. Der Markus, hieß es, wird ein guter Bergsteiger. Wenn er's überlebt. Wer hat das gesagt?
Was hast du gesagt? Natalie sitzt neben mir. Sie hält einen Löffel. Ich soll etwas essen. Ich lächle. Ich setze mich auf. Der Löffel, hier. Ich liege flach in meinem Bett. Aber ich habe mich doch aufgesetzt. Aber ich liege flach in meinem Bett. Vor mir Natalie. Ich lächle sie an. Sie ist ganz nah mit ihren großen Augen und verzieht keine Miene. Der Löffel. Ich öffne den Mund, spüre die kühle Luft an den Zähnen. Geht doch. Der Löffel zwischen den Zähnen, eine Flüssigkeit, und schlucken. Schlucken. Schlucken. Natalies erwartungsvolle Augen, ich sehe an ihrem Gesicht, dass ich nicht geschluckt habe. Was auch immer es ist, das ich schlucken soll. Ich habe es ja noch im Mund: eine Flüssigkeit, die bräunlich schmeckt, süß und falsch wie Medizin. Schlucken! Ihr Gesicht entspannt sich. Medizin. Weißt du noch, möchte ich sagen, denn ich möchte von etwas Schönem sprechen, etwa: Weißt du noch, wir beide, irgendwo, in der Sonne, oder im Regen, oder drinnen, oder draußen. Lachend oder weinend oder glücklich oder streitend, weißt du noch: vorher. Aber sie will vielleicht lieber von den Ärzten sprechen, was die Ärzte sagen. Ja, was sagen sie, deine Ärzte! Ich habe alles geschluckt, diese riesigen Tabletten, angeblich Vitamine. Und die kleinen Tabletten, die gemeinen. Nicht wahr, man merkt kaum, dass man sie geschluckt hat, bis einem schlecht wird davon. Und das komische Heizbett, weißt du noch, bei dem dicken Onkel. Eine Stunde warten, eine Stunde schwitzen, und dann kommt man heraus und ist fertiger als je zuvor, aber das ist gut, es soll ja getötet werden, das ist der Sinn der Therapie. Der Krebs soll getötet werden, und nur manchmal geht der Mensch mit drauf. Onkel Onkologe, haben wir gesagt, und die Schnecke hat gelacht. Wo ist die Schnecke?
„Mila spielt heute mit Flo.“
Ich nicke, und jetzt lächelt Natalie. Ich lächle auch, mir egal, ob sie es sieht. Die Ärzte haben ja keine Ahnung. Wenn ich mich konzentriere, auf eine bestimmte Weise, kann ich lächeln, und auf eine bestimmte Weise kann ich auch gesund werden, das verstehen die nicht, die Ärzte. Ich blinzel Natalie zu, sie blinzelt auch. Jetzt muss ich mich ausruhen. Hinter den Augenlidern ist das Dunkel so gut.
Wir ziehen über die mit Eis gefüllten Abgründe. Das ewige Eis, so hieß es früher. Und jetzt ist nichts daran ewig, es schmilzt, es verschwindet, manchmal heimlich und still, dann wieder mit Krach und Brimborium, ein Eissturz, der, von Touristen gefilmt, über Tage in den Nachrichten gezeigt wird, auf dem ganzen Kontinent. In den Skigebieten legen sie Plastikplanen auf das ewige Eis, damit es noch eine Saison hält oder zwei. Das Eis erinnert sich, dass es Wasser ist, es folgt der Schwerkraft und stürzt zum Meer. Hier oben bleibt ein karger See, von Felsnadeln umstellt. Aber auch die Felsen werden verschwinden. Der Wind hobelt Sand von der Oberfläche, der Frost bricht die größeren Stücke ab und der Regen schwemmt alles talabwärts, in die Bäche und Flüsse bis hinunter in die Poebene. In Turin fließen die Wände des Mont Blanc in den Po, und von dort treiben sie langsam und schwerfällig an den Reisfeldern vorbei, vorbei an den Schinken von Parma und dem Essig von Modena bis ins Meer, bis zur Adria, um südlich von Venedig neues Land zu schaffen, das das Meer wieder aushöhlt und verschlingt. Der Himmel verfärbt sich hinter uns ins Bläuliche, der Mond wird schwächer: Vor uns treten schwarz die Felsenspitzen hervor, die unser Eismeer umgeben. Da geht es hin, einen Schritt nach dem anderen. Bevor es hell wird, müssen wir bei den Felsen sein. Bei Sonnenaufgang einsteigen. Ich gehe schneller, nur nicht gemütlich werden, auf dem Gletscher herumträumen und dann mitten in den Felsen von der Nacht überrascht werden. Ich höre Stefans Schritte hinter mir.
Feste Schritte auf dem Holzboden. Das kommt vom Flur her. Es ist dunkel. Nur ein rosa Schimmer, das Nachtlicht für die Schnecke, damit sie sich nicht fürchtet, damit sie sich in ihrem Zimmer wohlfühlt und dort schläft und damit sie nicht mitten in der Nacht über den Flur in das Schlafzimmer der Eltern stapft und sich zwischen uns legt, die ganze Bettdecke und den größten Teil des Bettes in Beschlag nehmend. Das Schlafzimmer ist nicht mehr unser Schlafzimmer, es ist Natalies Zimmer. Das Baby schläft da auch und in den meisten Nächten die Schnecke, die irgendwann in der Nacht aufwacht und in Natalies Zimmer schleicht. Am Wohnzimmer, das allenfalls ein ehemaliges Wohnzimmer ist, geht die Kleine vorbei. Warum sollte sie hineingehen, hier liege ich mit meiner Krankheit, wir füllen das Wohnzimmer aus, die Krankheit und ich, da ist kein Platz für Kinder. Sie zieht die Tür leise hinter sich zu, um mich nicht zu wecken oder damit ich das Baby nicht wecke mit meinem Stöhnen in der Nacht. Da sind sie jetzt, alle drei, atmen und wärmen sich. Das ist gut. Ich liege hier und passe auf, dass nichts passiert. Ich halte die Augen weit geöffnet, das Licht im Zimmer ist grau, das kommt von der Straßenlaterne, wahrscheinlich regnet es.
Vor mir und über mir Geröll, graubrauner Schutt, der Staub hat das Eis schwarz gefärbt. Nur noch dieses Stück hinauf, dann sind wir am Grat. Ich beginne den Anstieg über das steile Eis, die Welle hinauf, die sich an den Felsen bricht. Den Pickel halte ich nicht mehr von oben wie einen Spazierstock: Ich nehme ihn am Schaft und schlage die Haue auf der Höhe meiner Schulter ins Eis. Ich schlage die vorderen Zacken meiner Steigeisen gegen das Eis, eine angenehme, immer wieder überraschende Sicherheit, während meine Fersen über dem Eishang schweben. Ich drehe mich zu Stefan: Hält! Er grinst, soweit ich das im Halbdunkel erkennen kann. Pickel. Schritt, Schritt, Pickel. Schritt, Schritt. Das Seil spannt sich kurz. Dann höre ich ihn hinter mir gehen, höre, wie sein Pickel ins Eis schlägt und dann seine Steigeisen: Pickel. Schritt. Schritt.
Und dann höre ich meinen Atem. Ich höre die Anstrengung, gehe weiter. Es ist jetzt schon hell, ich sehe die Farben: die gelben Riemen der Steigeisen. Das Dunkellila meiner Hose. Der hellblaue Stiel des Pickels. Hinter dem Felsgrat der Weiße Berg. Die Bergsteiger, die den Mont Blanc heute besteigen, sind jetzt auf dem Grat, noch eine Stunde zum Gipfel. Sie sind hunderte von Metern über uns, eine lange Reihe von Menschen, in buntes Plastik gewickelt, gemeinsam keuchend in der dünnen Luft. Eis und Felsen haben keine Farben, aber wenn ich jetzt stehen bleibe, den Kopf hebe und verschnaufe – hinter mir bleibt Stefan stehen, hebt den Kopf und verschnauft – dann sehe ich den sehr tiefblauen Himmel, und am östlichen Rand das Rosa, Pink, Lila und Orange mit dem Gelb und schon der ersten Spur weißen Lichtes, das den Sonnenaufgang vorbereitet. Links, weit über uns die Kuppel des Mont Blanc, als winzige Punkte stehen da tatsächlich schon die ersten Bergsteiger unter dem riesigen Himmel. Ich gehe weiter, noch ein letztes Stück auf dem Eis, dann trete ich auf das lose Gestein, das sich unter meinem Gewicht verschiebt. Nur noch ein paar Meter bis zum Grat. Hier liegt wieder Schnee, weich und frisch, kein Eis darunter. Ein Luftzug, und leise Stimmen, Frauenstimmen, sie wispern, fast kann ich sie verstehen.
Natürlich, sie reden, die Frauen reden miteinander, Natalie und diese Ärztin. Wie heißt sie gleich. Ich glaube nicht, dass sie Ärztin ist, sie behandelt mich gar nicht richtig, guckt mich abwartend an, als hätte sie mich etwas gefragt. Oder als erwarte sie meine Fragen. Ich habe keine Fragen, Madame! Keine Fragen an Sie, soviel ist sicher. Ich höre die beiden sprechen, Natalie und diese Frau, aber sie sind nicht hier im Zimmer, die Stimmen kommen auch nicht vom Flur, sondern von der anderen Seite, der Fensterseite. Das Fenster ist halb geöffnet, und die beiden stehen draußen vor der Tür. Es ist also Sommer. Man steht vor der Tür und unterhält sich. Sie sprechen leise, worüber sprechen sie? Na, worüber wohl? Sie sprechen über mich. Sie wissen nicht, dass ich gesund werde, dass ich daran arbeite, inwendig. Ich darf nicht darüber sprechen, sonst funktioniert es nicht. Das war schon immer so, wenn ich etwas sehr, sehr gewollt habe, und ich habe viel davon gesprochen, dieses Filmprojekt zum Beispiel, wenn ich zu viel davon rede, dann wird es nichts. Dann bekommt man kein Geld oder die Produzentin springt ab. Also halte ich die Klappe. Auch Natalie gegenüber. Sie würde sich ja verplappern. Dieser Ärztin gegenüber zum Beispiel, und ich weiß nicht, was das für eine Ärztin sein soll. Hauptsache, ich werde gesund, ohne die, das ist am besten. Ohne Natalie, aber vor allem ohne die Ärzte. Ich muss mich konzentrieren.
Ich ziehe mit einem Ruck an der Schlinge. Hält. Mit der linken Hand fädele ich das Seil, das von meinem Gurt hinunter zu Stefan läuft, durch den Karabiner. Die erste Sicherung, und ich spüre schon den Schweiß im Gesicht. Ich blinzele in die Sonne. Nicht innehalten, weitergehen, wo geht es weiter, über dem Haken auf der Wand rechts halten, dort sind die Granitplatten. Der Rucksack zieht mich nach hinten, weiter, kurzer Blick zu Stefan, er sieht mich an, nickt, hält das Seil, bereit, es einzuziehen, wenn ich falle. Hier. Meine Finger greifen den oberen Rand der nächsten Platte, ich ziehe mich hoch, trete gegen den Fels, das hält, der schöne graue Granit, fest und zuverlässig, ich greife nach oben, stelle die Füße auf den Rand der Kante, wo eben meine Hände waren. Jetzt sehe ich den nächsten Haken, drei Züge, ich greife, ziehe, drehe mich, steige hoch. Haken.
Schmerzen? Wieso reden sie von Schmerzen? Ich habe keine Schmerzen. Ich muss nur gesund werden, das ist schwer, mit diesem schweren Körper, sehr schwer. Ich kann nicht einmal die Hände heben, um meinen Umfang zu fühlen. Wie viele Kilo sind das? Hunderte! So schwer sind allein die Hände! Und mich aufzurichten, daran ist nun nicht mehr zu denken. Es war auch zu schlimm, das Aufrichten, damals, als wir das noch machten. Erst das Dreieck fassen, mit beiden Händen. Wie heißt denn das, dieses Dreieck? Triangel? Es hängt, Moment, das weiß ich noch, es hängt vom Bettgalgen. Der heißt wirklich so. Vielen Dank dafür. Und dann auf drei zählen, jemand hält meine Füße und Natalie zieht mich am Oberkörper hoch, während ich mit aller Kraft versuche, mich aufzurichten. Zwei Menschen und ein Galgen, anders kam ich schlicht nicht hoch. Gut, dass das vorbei ist. Das war gar nicht der Tumor, der mich so schwer gemacht hat, das waren doch die Ärzte mit ihren sogenannten Medikamenten. Wie hieß das Zeug doch gleich? Haben die das jetzt abgesetzt? Cortison. Aber schwer bin ich geblieben, aufgedunsen, wie ein Ballon. Fettauge, sagte die Schnecke zu mir. Bruder Fettauge. Und du, Schnecke, wer bist du? Regenbogen, sagt sie und schwingt sich auf ihr Pferd. Prinzessin Regenbogen! Sie schwingt vor und zurück, in großer Eile, wohin reitest du, Regenbogen, wohin?
Der Grat wird schmaler, der Berg wird zum Finger. Hier kann ich einen Keil in einen Riss legen, schnell fest gezogen – hält! Ich kann Stefan nicht mehr sehen, das Seil verschwindet hinten unter mir um die Ecke. Es ist schwer geworden, es zieht mich nach hinten. Ich zerre, um es durch den Karabiner zu schlaufen. Ob Stefan es zu straff hält? Seil! Stefan, ich brauche Seil! Ich reiße am Seil, Zentimeter für Zentimeter kommt es nach, warum ist das so schwer, vielleicht klemmt es. Ich kann aber jetzt nicht zurück, ich kann das nicht abklettern, dazu bräuchte ich mehr Seil. Ich darf die Zeit nicht verlieren. Immerhin, wir könnten noch umkehren. Zurück zur Hütte. Mittags säßen wir bei Massimo, der um die Zeit nichts zu tun hat, der sich zu uns setzt, auf einen Tee, und wir erzählen, wie unser Traum, den Teufelsgrat zu klettern, an einem ums Eck gelegten Seil gescheitert ist. Ob Stefan mich hört? Stefan? Von weit unten höre ich ihn, höre seine Stimme. Verstehe kein Wort. Weiter jetzt. Mit Kraft. Am Riss entlang, zwischen den Platten, und dann in leichtem Gelände, Hunderte von Metern kalter Luft unter meinen Füßen, in leichtem Gelände also, zum Stand auf der Spitze, dem ersten Finger des Teufels. Ich ziehe mich mit einem Ruck am Karabiner vorbei. Hoch greifen. Aufsteigen. Aufsteigen! An der Hüfte das Gewicht des Seils. Nach hinten, nach unten zieht es und droht mich aus der Wand zu reißen. Weiter! Der Gurt drückt mir den Atem weg. Hoch. Schnell die eine Hand hinauf, bevor die zweite mich nicht mehr halten kann. Warum zieht das, zieht das so nach hinten? Stefan, ich brauche Seil, kann mich nicht halten, so nicht, die Abgründe links und rechts unter mir bewegen sich, drehen sich um mich herum, was ist das, stürze ich etwa, ich muss mich halten, festhalten.
Augen auf! Natalie sieht mich an. Sie hält mich an der Schulter. Meine Hände sind in die Bettdecke verkrallt. Sie ist wieder da. Das ist gut. Die Ärztin ist weg. Ich bin hier. Atmen. Das ist es, was sie gesagt hat, ich soll atmen. Ich atme. Sie fährt mir mit der Hand durchs Haar. Was hatte ich Sorgen um mein Haar, als sie mit der Chemo anfingen! Und dann hat sich mein ganzer Körper zur Unkenntlichkeit verändert, und das Haar ist mir geblieben! Die Chemo habe ich gut vertragen. Mein Tumor hat die Chemo auch gut vertragen, sehr gut sogar, danke der Nachfrage. Aber diese kleinen weißen. Nehme ich das noch? Sie haben fast alles abgesetzt, auch die Infusionen mit dem Warten in der Ambulanz, mit der Blutabnehmerei, Warten, bis die Infusion durch ist. Der Krankenwagen, ich bin mit einem Krankenwagen gefahren. Das ist lange her, es ermüdet, so weit zurückzudenken. Als wir noch mit dem Auto fuhren. Als wir abends im Garten saßen, du hattest diese kleinen weißen Plastikblumen im Haar, das war unsere Hochzeit. Ich habe es nicht vergessen. Ich habe ein Bier getrunken, im Garten.
Jetzt kommt Stefan über die Kante zu mir geklettert, sein blondes Haar schimmert in der Sonne. Du siehst aus wie ein Engel, rufe ich. Er lacht. Dabei trägt er seinen Helm, die Haare sieht man eigentlich gar nicht. Er hakt seinen Karabiner in die Sicherung. Ich nehme das erste Seil auf: von Süden sind wir gekommen, nach Norden seilen wir in die Scharte ab. Von dort aus geht der Weg nicht mehr zurück. Wir werden, haben wir uns einmal abgelassen, die Médiane besteigen müssen und die Carmen und den Mont Blanc du Tacul. Und dann in der Dunkelheit, werden wir zur Hütte gehen. Refuge des Cosmiques. Zuflucht der Kosmischen. Wenn wir es zum Abendessen schaffen, sind wir gut. Stefan verknotet die Seile. Ich halte die Seilschlaufen in der Hand, schwinge den Arm zurück und vor, zurück und vor schwingt das Seil, zurück. Und im dritten Schwung öffne ich die Hand, das Seil entrollt sich vor mir und fällt lang und gleichmäßig die Wand hinunter. Das Seilende liegt in der Scharte. Guter Wurf. Ich nehme das zweite Seil.
So still. Es ist dunkel. Es muss Nacht sein. So ist es gut. Ich kann nachdenken. Sie geben mir keine Medikamente mehr. Sie lassen mich in Ruhe. Ich weiß, was das heißt. Ich werde sterben. Das heißt es. Und ich weiß das. Weiß Natalie es? Natürlich weiß sie es. Und die Ärztin draußen an der Tür? Die weiß es auch. Darum treffen sie sich draußen, nicht, weil es ein heller Sommernachmittag ist, an dem man draußen in den Hauseingängen steht und schwatzt. Und wir, Natalie? Müssen wir reden? Nicht reden, bitte. Bitte nicht mir die Briefe vorlesen, die Untersuchungsergebnisse, Umfang des Tumors heute und vor einer Woche, vor einem Jahr. Früher hat sie mir die Briefe hingelegt. Es ist ein Brief vom Krankenhaus, sagte sie so, beim Frühstück, ich hatte mich kaum hingesetzt. Ah. Habe ich gesagt. Die Untersuchungsergebnisse. Hm, mache ich. Es sind keine guten Nachrichten. Ich sage gar nichts. Sollen wir es zusammen lesen? Ich hole Atem, schwer, schwer ist das: lieber nicht. Der Brief liegt auf dem Frühstückstisch, Natalie stellt mir mein Müsli hin, die Schnecke rutscht auf dem Stuhl herum, während sie an einem Honigbrot nuckelt. Sie soll endlich anständig essen, ist doch kein Kleinkind. Besser, ich kümmere mich um meine Sachen. Besser, jeder kümmert sich um Seins. Und Natalie kümmert sich um alles. Ich bin sehr lange nicht in der Küche gewesen. Seit ich nicht mehr aufstehe, wie lang mag das sein? Wie lange. Die Zeit ist aus Gummi, mal ist Tag, dann wieder Nacht.
Während ich mich am Seil hinunterlasse, hier, im Schatten, in der Kälte, denke ich: ob wir es schaffen? Ist es nicht schon spät? Wie lange habe ich in der ersten Wand gebraucht, eine Ewigkeit! Wie spät mag es sein? Meine Füße berühren den Boden, schnell das Seil freimachen. Die Seilenden auf dem Boden bewegen sich, Stefan bindet sich oben ein. Ich wende mich der Méridiane zu, die Wand liegt in der Sonne, Schnee auf den Felsstufen am Rand. Ich taste nach den ersten Griffen. Strecke mich etwas, trete hoch. Nur jetzt nicht fallen, vor der ersten Sicherung. Unter mir Felsspitzen, die sich von mir wegbewegen, und weit darunter das steile Eis des Grates und noch weiter unten und hinter mir, die breiten weißen Gletscher.
Im Übrigen kann ich gar nicht sterben, ich muss doch die Schnecke zur Schule bringen. Ich muss mich jetzt konzentrieren.
Plötzlich sitzt Natalie neben mir. Da bist du ja. Wo ist die Schnecke? Ich habe ihr etwas Wichtiges zu sagen. Sie schaut mich wieder so an. Habe ich etwas gesagt? Ich kann gar nicht mehr sprechen, ist es das? Ich kann nicht mehr sprechen. Ist das schon lange so? Habe ich vergessen, dass ich nicht sprechen kann? Ist mir gar nicht aufgefallen. Natalie. Es ist wichtig, dass ich den Namen nicht verliere. Auch wenn ich ihn nicht sage. Sie hält meinen Arm. Sie sieht mich an. Weiter.
Die kalte Luft in meinen Lungen. Das herrliche Licht. Auf dem Band rechts halten zur Verschneidung, die ist gut abgesichert, Genusskletterei nannte man das früher, naja, vielleicht nicht in dieser Höhe. Ich drücke die Füße gegen den Fels, hier kann ich die Hände loslassen. Ich drehe mich um. Unter mir steht Natalie, sie sieht mich erwartungsvoll an. Ich hatte vergessen, wie mutig sie ist, sie lässt das auch nicht gelten, wenn man es ihr sagt, aber hier ist sie, und gibt das Seil aus für mich, während ich den Karabiner in den Haken einhänge, und zieht es ein, wenn ich zum Haken aufsteige, und gibt es wieder aus, den Blick fest auf jede meiner Bewegungen gerichtet.
Die Silhouette bei der Tür kenne ich. Das ist doch, natürlich, ich kenne den Namen. Wo kommt die denn her? Ich öffne die Lippen und ich sage: "Na?" "Na und selbst?", antwortet sie. Das ist schön, wir haben Besuch. Bald werden wir wieder zusammen sitzen, nicht im Garten, es ist ja Winter, aber in der Küche oder in einem Zug. Wir könnten mit dem Auto wegfahren, alle zusammen. Das muss ich Natalie vorschlagen. Die Schnecke huscht durchs Zimmer. Die wird auch immer schneller. "He, Schnecke," rufe ich. Aber sie hat mich nicht gehört. Wahrscheinlich habe ich nichts gesagt. Ich denke, dass ich etwas sage, und keiner hört mich, weil ich es in Wirklichkeit gar nicht gesagt habe. Nur das "Na, und selbst", von dieser Person, die ich gut kenne, das habe ich klar gehört. Ich werde es mitnehmen. Ich werde es zu den Dingen räumen, die ich weiß.
Stand! Ich ziehe vorsichtig das Seil ein, an dessen unterem Ende Natalie klettert. Vorsichtig, dass ich sie nicht aus der Wand reiße. Mein Rücken lehnt am warmen Fels auf diesem winzigen Gipfel, weit unter mir die Gletscher, dazwischen Felsspitzen, Trümmer und Schutt. Das Seil verschwindet vor mir zwischen zwei großen Felsplatten. Letterbox nennen die Engländer diese Stelle, man zwängt sich mühsam hindurch. Jetzt hat Natalie angehalten, das Seil gibt nicht mehr nach, sie steht vermutlich am unteren Ende der Verschneidung. Ich höre das Klingeln der Karabiner: Sie hat den Keil aus dem schmalen Riss gezogen. Jetzt hält sie inne. Nicht lange fackeln, Natalie! Sie klettert wieder. Sehr gut.
Ein Gemurmel aus der Küche, ist es nicht Nacht? Es ist Nacht. Frauenstimmen, die sehr leise sprechen, wie ein Bach, ein Gebirgsbach. Sie lachen, dann sind sie plötzlich still. Warum lachen sie? Und warum hören sie so plötzlich auf? Jetzt höre ich Schritte. Sie schauen nach mir. Ich muss ein Geräusch gemacht haben, ich mache Geräusche, unabsichtlich, aber reden kann ich nicht. Das bilde ich mir ein, wenn ich glaube, etwas gesagt zu haben, ist es nur eingebildet. Besser, ich schlafe.
Da ist Natalies Helm, darunter ihr Gesicht, taucht auf, verschwindet wieder, das ist eine schwere Stelle, die enge Passage zwischen den Platten. Und hinter ihrem Kopf, der jetzt zum zweiten Mal verschwindet, sehe ich die Kleine, die Schnecke, Mila! Was macht sie hier? Natalie, hast du die Schnecke mitgenommen? Ich höre Natalie fluchen, man muss sich ganz in die Schmalstelle hineindrücken, das ist der einzige Weg. Es ist schwierig mit dem Rucksack, aber mit einem Kind auf dem Rücken! Ich sehe Natalies Gesicht unter ihrem Helm, sie sieht so erschöpft aus. Ich schaffe das nicht. Du musst es schaffen, Natalie, hier müssen wir durch. Haben wir wirklich die Kleine hier hochgebracht? Ich ziehe, ziehe am Seil, ich muss die beiden hochbringen, sie müssen hier, zu mir herkommen, es geht nicht anders, Natalie, hörst du?
Ich muss geträumt haben. Ich habe geträumt, ich wäre sehr krank. Das habe ich am Anfang gedacht: Ich wache auf, und dann werde ich geträumt haben. Dass ich sehr krank war. Ich werde geträumt haben, dass ich im Sterben lag, während leise Stimmen, wie ein Gebirgsbach, in der Küche murmeln. Was murmeln sie? Sie murmeln, dass sie mich einem Bestatter übergeben werden, sie murmeln, dass jemand eine Rede halten wird. Sie murmeln, dass mein Sarg offen stehen wird oder geschlossen, dass ich ins Feuer komme oder unter die Erde. Sie murmeln von Blumen und Karten und von Musik, Cello wäre schön. Musik. Musik ist schön. Wie ging doch gleich die Melodie, welche Melodie, egal, irgendeine Melodie. Ich summe eine Musik, ob sie es hören, egal, ich muss mich ausruhen, wenn ich mich gut ausruhe, wache ich auf.
Meine Füße berühren den Schnee. Hoch oben, hinter mir, auf der Pointe Carmen, sitzt Stefan und winkt. Ich ziehe das Seil ab. Nein! Ich kann doch die Seile nicht abziehen, und Stefan bleibt oben. Das Seil windet sich, es schlägt nach links und rechts aus. Was macht er da oben? Wieso kommt er nicht herunter? Einen Moment hält es still. Stefan? Dann, mit einem Schlag, fallen die Seile, beide, mir vor die Füße.
Stefan, oben auf seinem Gipfel, winkt. Er macht mir Zeichen: Ich soll weiterklettern, er zeigt zur Sonne: Ja, es ist Nachmittag. Vor mir liegt der letzte Felsturm: l'Isolée. Die Einsame. Die soll ich allein besteigen, und dann herüber über den Mont Blanc du Tacul, über die Gletscher hinunter zur Hütte. Allein kann ich es schaffen. Aber zu zweit sind wir zu langsam, wir würden den Weg verlieren, würden abstürzen. Ab hier muss ich allein gehen. Was wird aus Stefan? Hinter Stefan sehe ich Natalies Gesicht, sie hat den Helm abgenommen, und hält die Schnecke hoch. Was wird aus euch? Sie winken mit aller Macht, wenn ich es zur Hütte schaffe, kann ich die Bergrettung verständigen, das ist es, ich muss weiter, muss Hilfe holen, den Hubschrauber für die Schnecke, bevor es Nacht wird. Ich binde mir das blaue Seil auf den Rücken, das rote lasse ich liegen. Etwas nimmt mir den Atem, es ist sehr warm, ich ziehe meine Jacke aus. Ein ausgeblichenes Pink mit gelbem Dreieck auf der Brust. Mit Schwung werfe ich sie ins Tal. Die drei werden sehen, wie schnell ich sein werde, ein Hubschrauber wird kommen, dann wird die Schnecke fliegen, Natalie und Stefan werden mit dem Hubschrauber fliegen und wir werden uns in der Hütte wiedersehen. Meine Jacke fliegt auch, die Ärmel weit ausgebreitet, ein großer rosa Vogel. Sie dreht ihre Kreise über den Felsen, über dem Schutt und dem Eis, langsam lässt sie sich talabwärts sinken. Wohin fliegst du? Ich höre die Schnecke lachen. Keine Zeit verlieren! Ohne die Sicherungen bin ich schneller, Stefan hat recht. Nur stürzen darf ich nicht. Wenn ich nach unten schaue, fangen die Felsnadeln an, sich zu drehen, nein, sie verschieben sich gegeneinander, sie streben nach oben, sie türmen sich auf, neben und hinter mir. Das sind die Kontinente, das sind die großen Platten, Afrika und Europa, die hier aufeinanderstoßen, die sich ineinander verkeilt haben, die immer weiter noch sich ineinander, übereinander verschieben, dass die Erdkruste aufbricht, dass der Boden des alten Ozeans senkrecht aufsteht und hoch über den alten Stränden zu liegen kommt. Wie das ferne Schieben von Steinen, ein Knirschen, Rollen und Reiben: So höre ich den ununterbrochenen, den langsamen Zusammenstoß des Gesteins, das sich höher schiebt und auftürmt, während gleichzeitig der Wind die Felsspitzen abträgt und dem Regen, der ins Tal und in die Ebene strömt, überlässt.
Es regnet, nicht wahr, es riecht nach Regen, ich höre Regen. Die Schnecke schreit, dass sie nicht zum Kindergarten will. In meinem Kopf ist eine große Unordnung, ich muss mich beruhigen, sortieren, muss mir Klarheit verschaffen. In meinem Kopf ist nicht genug Platz, ist kein Platz für einen Tumor. Wäre mein Schädel größer, ich könnte mit dem Tumor leben, wir könnten uns die Schädeldecke teilen, aber wie die Dinge liegen, war mein Kopf schon vorher voll, und jetzt drückt der Tumor, das hat der Arzt gesagt, mein Gehirn drückt er an die Wand, an den Schädel, und drückt und quetscht so lange, bis eine – und wir werden bis zuletzt nicht wissen: welche – lebenswichtige Funktion nachgibt. Dann höre ich vielleicht auf zu atmen, oder das Herz bleibt stehen. Und das ist es, worauf wir warten.
Die Gipfel liegen in der Sonne. Das Licht wechselt die Farbe. Die Bergsteiger, die zum Sonnenaufgang auf dem Gipfel des Mont Blanc standen, sind längst wieder in ihrer Hütte, Goûter oder Tête Rousse, oder sie sind bis nach Chamonix hinuntergekommen, mit der Bahn. Sie haben ihren Tee getrunken und dann ein Bier, sie haben ihren Lieben mitgeteilt, dass alles gut gegangen ist, und ihren Freunden haben sie Fotos vom Gipfel geschickt. Unter dem verlassenen Gipfel des Mont Blanc greife ich hoch in den Fels, der schon auskühlt, meine Arme sind schwer, besonders der linke, ich kann ihn kaum heben. Was ist das? Ich muss doch weiterklettern, muss weiter, aber wie soll ich, ich kann den linken Arm nicht bewegen, er ist zu schwer oder etwas Schweres liegt auf ihm. Dort ist der Griff, gerade über mir, eine schöne Kante, ich muss mich nur strecken.
Auf meinem Arm, das muss ihre Hand sein, und wenn ich die Augen öffne, sehe ich ihr Gesicht. Ich sehe ihr Gesicht vor mir, ob ich die Augen öffne oder schließe. Auf meiner Zunge liegt etwas, eine Tablette. Sie liegt vorne auf der Zungenspitze. So kann ich sie doch nicht schlucken. Man müsste sie zuerst in den hinteren Teil des Rachens befördern, dann könnte ich wohl schlucken, aber mit einer Tablette auf der Zungenspitze, wirklich, wie soll das gehen?
Ich darf nicht einschlafen. Es wird dunkel, der Himmel so tiefblau, so ein Blau habe ich noch nicht gesehen, es ist weich und samtig, ich kann es anfassen. Der Mond. Es ist Nacht, ich gehe über den Schnee, den Grat entlang. Ein Gipfelkreuz ist tief im Schnee versunken, weich und warm, ich streiche mit den Händen darüber, fühle die Bettdecke unter den Fingern, ihre Hand auf meinem Arm. Sie werden in der Hütte auf mich warten, Stefan auch, sind mit dem Hubschrauber geflogen. Den Pickel brauche ich jetzt nicht mehr, die Handschuhe lasse ich im Schnee zurück. Verschwommen erkenne ich ihre Gesichtszüge, sie schweben vor meinen Augen leicht auf und ab. Da: ihre Hand. Auf meinem Arm. Das Gewicht ihrer Hand. Von allem, was da war, nur dies: ein leichter Druck auf meinem linken Arm. Von allem. Und was alles war! So viel! Wie sonderbar. Wie klein. Ein letzter Schimmer Licht fällt durch eine halb geschlossene Tür. Dann schließt die Tür sich ganz.
Ich habe keine Eile mehr. Ich gehe allein durch die Nacht. Um mich herum breiten sich die Gletscher auf, große Tiere gleiten durch das Eis, sie schauen mich aus der Tiefe an. Ich spüre das Beben der Felsen, die sich in die Höhe schieben, das Rieseln des Sandes, den der Wind von den Gipfeln trägt. Das Tal liegt in einem grauen Licht, es entfernt sich von mir, auch die Gletscher des Gran Paradiso treiben davon. Früher einmal reichte das Eis bis zu den Bergen dort im Osten, Matterhorn, Monte Rosa, eine riesige Masse, eine Eisbrücke, die die Gipfel überspannte und verband. Jetzt gehe ich auf einem schmalen Grat, der hinter mir zerfällt. Es wird dunkel. So still hier. Kein Licht im Flur. Wo ist Milas kleine Lampe? Ich greife die Klinke. Ich stoße die Tür auf. Die Nacht draußen, wie eine dunkle Wand. Ich gehe barfuß über den Schnee, mir ist nicht kalt. Ich brauche auch nicht zu atmen, so still ist es, die Berge sind still, sie halten in ihrer Bewegung inne. Das Auf und Ab, das Schieben und Drücken der Platten endet, das Schleifen des Windes, das Fließen des Eises. Der Himmel verändert seine Farbe nicht mehr. Sternschnuppen halten an, mitten im Flug. Ich bleibe stehen. Mit mir bleiben die Berggipfel stehen und der Himmel, die Kontinente, ineinander verkeilt. Es hält an, mit mir. Ich stoße die Tür auf.