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Look into my eyes

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13.07.2015
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Look into my eyes

Denken Sie bitte kurz über etwas nach: Wenn Sie ein Lied aussuchen dürften, das gespielt wird, während Sie sterben, welches würde das sein? Oder wenn Ihnen kein Lied einfällt, fällt Ihnen vielleicht eine Musikrichtung ein? Schlager, Techno, Rock oder vielleicht Reggae?
Hätte man mir diese Frage gestellt, ich hätte ohne zu zögern geantwortet. „Everything I do“, hätte ich geantwortet. „Wissen Sie noch? Bryan Adams Anfang der 90er.“
Tja, letztendlich wurde es bei mir „Rock around the clock“.

Das erste, das ich hörte, als ich aufwachte, war das Radio.
„Als nächstes hören Sie einen absoluten Klassiker“, verkündete Thomas Eddin vom örtlichen Radiosender gerade. „Bryan Adams mit Everything I do!“
Ich verzog das Gesicht. Schlechter konnte ein Tag gar nicht beginnen. Man wacht auf und das erste, was man hört ist das wohl kitschigste Liebeslied des letzten Jahrhunderts.
Genervt schlug ich meine Decke zur Seite und setzte mich in meinem Bett auf.
Look into my eyes, you will see
Ich gähnte noch einmal herzhaft, dann stellte ich meine Füße auf den Boden neben meinem Bett und stand auf. Direkt vor mir stand mein Kleiderschrank. Er war aus rot gefärbtem Holz, so wie alle anderen Möbel in meinem Zimmer auch. Das Bett, der Schreibtisch in der Ecke, und das Regal, das direkt neben dem dem Schrank stand. Ich hatte keine Ahnung woher das kam, aber ich hatte eine Vorliebe für rotes Holz.
Everything I do, I do it for you
Ich öffnete den Schrank und holte eine Jeans und ein graues T-Shirt heraus. Ich hatte in den letzten zwei Monaten acht Kilo verloren, weshalb mir beides zu groß war, doch da ich zu faul war neue Sachen zu kaufen, hatte ich keine andere Wahl, als diese Kleidungsstücke anzuziehen.
Don´t tell me it´s not worth fightin´ for
Doch vorher hatte ich noch etwas Dringendes zu erledigen. Meine Fische mussten gefüttert werden. Ich ging um mein Bett herum zu meinem Schreibtisch. Dort schwammen in einem kleinen Aquarium fünf Goldfische.
Look into your heart, baby
Ich nahm die Pappschachtel mit Fischfutter, die neben dem Aquarium stand, hielt dann aber inne.
Einer der Fische trieb unnatürlich regungslos auf der Wasseroberfläche.
„Verdammt!“, fluchte ich. Erst ein schlechter Song, dann ein toter Fisch. Was kam als nächstes? Ein kaputtes Auto?
Walk the wire for you, yeah I´d die for you
Ich lief wieder zurück zum Schrank, öffnete ihn erneut und holte einen kleinen Kescher hervor. Dann ging ich zurück zum Aquarium und nahm mit dem Kescher den Fisch heraus.
Was sollte ich jetzt damit machen? Der Katze konnte ich ihn nicht zu fressen geben, schließlich konnte der Fisch auch an einer Krankheit gestorben sein. Auch der Mülleimer war keine Option, denn dort war er für die Katze erreichbar, wenn ich nicht vor hatte den Mülleimer in ein Regal zu stellen.
Ooooh I do it for you
Ich konnte den Fisch auch nicht vergraben, schließlich hatte ich keinen Garten.
Plötzlich hatte ich eine Idee. Ich konnte den Fisch einfach vom Balkon werfen. Dort war sowieso nur Wald, da würde sich keiner beschweren.
Ich ging also, den Kescher in der Hand, zur Balkontür, während im Radio Bill Haleys Rock Around the Clock angekündigt wurde.
One, Two, Three O´clock, Four O´clock, rock
Ich öffnete die Tür und trat hinaus auf den Balkon. Kalter Wind pfiff mir um die Ohren.
„Scheiß Winter“, fluchte ich. Ich trat dicht an das gelbe Geländer des Balkons heran. Für einen kurzen Moment versuchte ich die Aussicht zu genießen. Doch da war nichts zum Genießen. Da waren nur Bäume. Unbelaubte, farblose Bäume. Nur wenn man seine Augen anstrengte und ganz weit in die Ferne blickte, konnte man ein paar Häuser sehen. Doch auch die waren nicht weiter sehenswert.
We´ll have some fun when the clock strikes one
Ich beschloss, es hinter mich zu bringen. Ich hielt den Kescher über das Geländer und drehte ihn um, sodass der Fisch herausfiel. Für wenige Sekunden sah ich ihm nach, wie er fiel und fiel und schließlich in einem Baum hängen blieb. Dann drehte ich mich um und ging wieder rein.
We´re gonna rock, gonna rock around the clock tonight.
Was musste ich als nächstes machen? Ach ja, ich hatte ja meine Fische noch gar nicht gefüttert.
Ich ging wieder zu meinem Aquarium, doch bevor ich die Futterschachtel in die Hand nehmen konnte, ließ mich ein Geräusch, das von der Decke kam, aufschrecken. Ein lautes Knacken.
We´re gonna rock, rock, rock, `broad daylight,
Ich schaute nach oben. Genau in diesem Moment löste sich ein großes Stück der Decke. Blitzschnell sprang ich zur Seite, prallte mit dem Kopf gegen einen Pfosten meines Bettes und blieb mit dem Gesicht auf dem Boden liegen. Stöhnend rappelte ich mich auf. Ich sah mich um. Dort, wo ich eben noch gestanden hatte, war nur eine dichte Staubwolke zu sehen.
When the clock strikes twelve, we´ll cool of then,
Ich sah nach oben. Was ich sah war verstörend. Dort war ein riesiges Loch, mindestens drei Quadratmeter groß, in der Decke. Ich warf mich auf mein Bett und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Dann begann ich zu weinen.
We´re gonna rock, gonna rock around the clock tonight.
Ich hatte keine Ahnung warum ich weinte. Vor Freude, weil ich den Zusammensturz der Decke überlebt hatte, vor Trauer, weil mein Fisch tot war, oder vor Schmerz, weil mein Kopf von seinem Zusammenstoß mit dem Bettpfosten immer noch wehtat. Das einzige, was ich wusste, war, dass ich Glück gehabt hatte.
Doch nicht jeder kann Glück haben. Das liegt in der Natur der Sache: Wenn alle immer Glück hätten, würde man es nicht mehr als Glück bezeichnen. Dann wäre es einfach normal. Es wäre alltäglich. Doch das ist es keinesfalls.
„Auf besonderen Wunsch von Kati aus Offenbach spielen wir als nächstes Everything I do“, verkündete Thomas Eddin. „Dies war das Lieblingslied ihres Verlobten, der während des letzten Liedes von einem umstürzenden Baum erschlagen wurde. Tarek, falls du uns irgendwie hören kannst, dieser Song ist für dich.“
Look into my eyes, you will see

 

Hola LLLLL,
willkommen im Klub!

Für meinen Geschmack hast Du eine gute Geschichte geschrieben - und durch die Abwechslung zweier Texte kommt richtig Schwung in die Sache.
Da ist ein guter Zug drin, kleine Lacher inklusiv. Außerdem fehlerfrei geschrieben (!).
Paar fehlende Kommas lassen sich noch einfügen (Ein Verb im Infinitiv + zu erfordert immer Komma).

Eine Formulierung war nicht so glücklich:

... dann stellte ich meine Füße auf den Boden neben meinem Bett und ...

... das direkt neben dem dem Schrank ...
- Faselfehler.

Ja, es bleibt dabei - ich hab eine gelungene originelle Geschichte gelesen und bin voll auf meine Kosten gekommen. Außerdem hab ich noch was gelernt:
Wenn irgendwo "Everything I do" intoniert wird, bringe ich mich sofort in Sicherheit!

Viele Grüße!
José

 

Hallo josefelipe,

Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat.
Solche Faselfehler, wie du sie genannt hast, passieren mir leider recht oft, fallen mir allerdings sehr selten auf, also vielen Dank für den Hinweis.

Gruß
5xL

 

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