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Märchenland
„Was?“ Sie benötigte all ihre Selbstbeherrschung, um nicht loszuweinen.
„Meinst du das … ernst?“
Gelangweilt sah er sie an. „Ja, Svea, stell dir vor.“ Er zog an seiner Zigarette und sah auf die Uhr. „Jetzt guck doch nicht so entgeistert, man, hast du allen Ernstes geglaubt, das hier mit uns wäre für die Ewigkeit?“
Sie sagte nichts, biss sich einfach nur auf die Unterlippe und schwieg.
Nicht weinen, keine Schwäche aufkommen lassen. Keinen Protest, bloß nicht zeigen, wie weh er ihr grade tat. Aus seinem Blick sprach doch eh schon die pure Verachtung. Wieder sah er auf die Uhr. „Süße, tut mir wirklich Leid, aber ich muss los.“ Sein unverschämtes Grinsen. Sein grausames Grinsen. Das Grinsen, mit dem er jede rumkriegte, die er haben wollte. Er nahm seine Sachen und verschwand aus ihrem Zimmer. Musste zum Fußball, ins Fitness Studio oder einfach nur zu seinem Motorrad, ein bisschen durch die Gegend brausen. „Tobi …“
Sein Name hinterließ einen seltsamen Geschmack auf ihrer Zunge, bitter und schal. Langsam ließ sie sich auf ihr Bett fallen und starrte an die weiße Zimmerdecke. Er hatte sie nicht geliebt. Er hatte sie doch tatsächlich kein bisschen geliebt. Doch selbst wenn sie sich früher klar gemacht hätte, wie gefühlskalt er war, sie hätte ihn nicht verlassen.
Wie konnte man sich selbst so überzeugend etwas vormachen. Es war doch allgemein bekannt, dass er seine Freundinnen im Dreiwochentakt wechselte. Zu glauben, sie wäre eine Ausnahme, war mehr als dumm gewesen.
Er war weg, jetzt konnte sie weinen. Ungeweinte Tränen, die sich im Verlauf der letzten Wochen bei jedem verächtlichen Blick, bei jedem spöttischen Wort angesammelt und ihre Kehle so widerlich trocken gemacht hatten.
Jetzt war es doch sicherlich vorbei …
„Svea, ich weiß es ist schwer, aber könnten Sie mir noch für zwei Minuten Ihre Aufmerksamkeit schenken?“ Ich nahm mich zusammen und schaute zur Tafel.
Die Stunde zog sich endlos in die Länge, war eine nicht enden wollende Tortur. In meinem Kopf war leider kein Raum mehr für Umkehrfunktionen und Kreisberechnung. Alles schon voll - wegen Überfüllung geschlossen. Seinetwegen.
Der Mistkerl nahm da oben einfach zu viel Platz weg, und er wollte partout nicht verschwinden. Ich hatte schon so oft versucht, ihn raus zuwerfen, aber er war immer wieder zurückgekehrt, wie ein Bumerang. Was für ein kleines, lästiges Ding.
Vorsorglich fing ich schon mal an meine Sachen zusammenzupacken, und keine Sekunde zu früh, denn es läutete. Ich stand auf und verließ als Erste den Klassenraum, um draußen in den Strom der nach Hause strebenden Schüler einzutauchen.
Und wem lief ich da vor die Füße? Ihm! Perfektes Timing, klasse, wirklich.
Schnell senkte ich den Blick. Was ich mir auch hätte sparen können, denn er bemerkte mich sowieso nicht. Weder mich noch mein Gestarre. Genauso wenig wie mein Trommelwirbel schlagendes Herz und meine Wackelpudding-Knie. Beim Hinuntergehen nahm ich eine andere Treppe als er, um nicht mit ansehen zu müssen, wie er sich liebevoll von seiner neuesten Errungenschaft verabschiedete. Doch auf der zweiten Treppe war er dann auf einmal wieder da, hinter mir, und ich wünschte mir nichts sehnlicher als eine ungefähr fünf Minuten andauernde Unsichtbarkeit. Nur so lange, bis ich mir sicher war, nicht mehr Gefahr zu laufen über meine eigenen Füße zu stolpern. Ich zog den Kopf zwischen die Schultern, in der Hoffnung, er würde ganz verschwinden.
And as Fräulein Kopflos and Mr. Vollidiot we’ll rule the world.
Mein Kopf blieb an seinem Platz, auch wenn er sich etwas seltsam anfühlte. Dafür blieb Mr. Vollidiot aber auch Mr. Vollidiot. Vielleicht war das eh das Beste, jedem das Seine.
Der Schulbus wartete schon und ich stieg ein. In der letzten Reihe saßen ein kleines Mädchen und seine Mutter. Zu denen setzte ich mich und blickte geistesabwesend aus dem Fenster.
Der Bus fuhr schon ein Weilchen, als mich das Kind plötzlich antippte. Ich wandte den Kopf und sah es an. Langes, rabenschwarzes Haar umrahmte den Kopf, und große, dunkle Augen, wie blaue Glasmurmeln, blickten mich an.
„Bist du traurig?“
Irritiert sah ich das Mädchen an und dann ihre Mutter. Die Frau war eingeschlafen und hörte außerdem Musik. Wieder schaute ich das Mädchen an. Es hatte mit ernster Miene gesprochen und blickte mich abwartend an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber mir war klar, dass ich sie nicht belügen konnte, warum auch immer. Ein verlegenes Grinsen stahl sich auf meine Lippen.
„Ja, ich glaube schon.“
„Warum?“
Dieses Wesen hatte mich ohnehin schon aus dem Konzept gebracht, aber nun war ich vollends verwirrt.
„Ich … weiß nicht.“
„Doch, bestimmt.“
Ich fragte mich, wie ein so kleiner Mensch größte Ernsthaftigkeit, kindliche Unschuld und eine so unglaubliche innere Ruhe ausstrahlen konnte.
„Wie heißt du?“
Bevor das Mädchen antworten konnte, hielt der Bus an und die Mutter zog das Mädchen mit mürrischer Miene hinter sich her.
Zum Abschied lächelte dieses mir so zu, als wüsste es auf alle Fragen dieser Welt die Antwort – sofern sie eine Antwort wert waren -, und als wäre ich ein dummes Ding, das sie alle zugleich gestellt hatte. Trotzdem war das Lächeln nicht überheblich, sondern fast schon gütig.
Mutter und Tochter verließen den Bus und dieser fuhr wieder an.
Auf dem Sitz des Mädchens lag ein kleiner Zettel, zusammengeknüllt und arg mitgenommen. Ich faltete ihn auseinander und in krakeliger Kinderhandschrift stand dort geschrieben:
„Ich nehme dich bei der Hand,
Zeig dir das Märchenland,
Wo Liebe und die Freundschaft zählt,
Und keinem was fehlt.“
Ich musste schmunzeln. Dieses Land würde ich ja nur zu gern wenigstens einmal besuchen.
Nachdenklich schloss ich meine Hand fest um den kleinen Zettel und war mir sicher, dass ich diese Begegnung nie wieder vergessen würde.