Man hat's nicht leicht
Man hat's nicht leicht
Ich brüllte gegen das Rauschen der Stromschnellen an. Rafa reagierte nicht und sprang kopfüber in die tosenden Fluten. Er versank in der braunen Brühe und wurde von der Dunkelheit verschluckt. In der letzten Nacht hatten starke Gewitter das träge, flache Gewässer in einen reißenden Strom verwandelt, der über die Ufer trat. Er hatte die Böschung mitgerissen und die Strömung spielte mit einem kleinen Gummiball. Den Jungen sah ich immer noch nicht.
Serafina kreischte und klatschte dem Lebensmüden Beifall. Ich sprang auf und meine Blicke trafen hilfesuchend den alten Mann. Der hielt teilnahmelos die schlichte Angelrolle in der Faust und nickte mir beruhigend zu.
Barfuß stolperte ich zum Ufer. Die spitzen Steine ritzten mir die Fußsohlen auf, aber ich spürte den Schmerz nicht. Hektisch tasteten meine Augen die Wasseroberfläche ab. Ich war nicht sicher, wie weit die Strömung Raffael abwärts getrieben hatte. Ich musste Hilfe rufen. Zurück zur Brücke. Zur Straße.
Der Alte starrte derweil immer noch geduldig auf die Schnur. Mit der freien Hand stützte er seine Hüfte.
“La prisa mata! Tomalo con calma!”, hatte er gestern wiederholt betont, “Hektik bringt einen um. Take it easy.” Eine Lebenseinstellung, die der Alte mit den anderen teilte, denn wenn ein Kubaner etwas hatte, war es Zeit. So gesehen war Antonio ein reicher Mann.
Ich begegnete ihm das erste Mal am gestrigen Nachmittag. Die unerträgliche Schwüle kündigte das herannahende Unwetter an, als ich mich mit dem Bus auf den Weg nach Matanzas machte. Wir rollten seit einer guten Stunde über die unebenen Pisten, die sich durch das karge Hinterland der Hauptstadt Havanna schlängelten. Der Stoff meines Hemdes klebte nass auf der Haut. Der Gestank in der Enge des camello war kaum noch auszuhalten.
Kuba war ein Schmelztiegel der Hautfarben und ich stand als einziger Tourist dicht gedrängt mit hunderten Einheimischen, von rubio bis prieto, in dem ächzenden Kamelbus. Ich hatte bohrende Kopfschmerzen und hoffte, dass wir bald hielten. Es war nicht mehr weit, aber ich zog es vor, die letzten Kilometer zu Fuß zurückzulegen.
Der Bus stoppte vor einer Brücke und ich schob lächelnd den großen Mulatten zur Seite, der mir den Ausgang versperrte. Die grünen Hügelketten in der Ferne versanken einige Sekunden in den Staubwolken, als mein Gefährt abfuhr.
Ich stieg zu dem seichten Fluss hinunter, um ein wenig auszuruhen. Dort bemerkte ich Antonio. Der alte Mann stand mit hochgekrempelten Hosen im Wasser und fischte mit einer Rolle, die er in der Hand hielt. Sein schmächtiger Körper warf kaum einen Schatten und er hatte den Schirm seines fleckigen Basecaps tief ins Gesicht gezogen.
“¡Que mala suerte!”, seufzte er.
Der Zulauf des Río San Juan war an dieser Stelle flach und sein Angelhaken hatte sich in einer der unzähligen Wasserpflanzen verfangen. Ich watete zu dem Mann und half ihm. Er dankte mir mit einem breiten Grinsen, während er die Leine sorgfältig aufrollte. Seine weißen Zähne bildeten einen starken Kontrast zu seinem ledrigen Gesicht und seine Oberlippe schmückte ein schmaler Bart, der an Errol Flynn erinnerte.
“Bist du Deutscher?”
“Du sprichst deutsch?”
“Ich habe gelebt in Deutschland einige Jahre. Gearbeitet. Ich kenne Deutsche.”
Der Mann reichte mir seine knöchrige Hand. Er musste meine Falten auf der Stirn bemerkt haben, als er hinzufügte: “Ich war in Leipzig. In der DDR.”
Jetzt wurde mir einiges klar.
“Ich wohne in Hannover. Das ist gar nicht so weit weg, von Leipzig”, sagte ich. Der alte Mann winkte ab.
“Nicht weit weg, aber unerreichbar. Damals und heute. Mein Name ist Antonio Manzano Padura. Aber sage Toni. Alle Freunde sagen Toni.”
Dann erklärte er mir, dass er Gastarbeiter in der DDR gewesen sei. Er habe gutes Geld verdient und einen Anteil seiner Familie in der Heimat schicken können. Eine schöne Zeit sei dies gewesen, aber er habe sich nie richtig wohl gefühlt. Zu sehr habe ihn das Heimweh geplagt. Zu sehr habe er sich nach der Wärme der Karibikinsel und seiner Bewohner gesehnt. Zwischen den Deutschen, die im Vergleich auf ihn kühl und zurückhaltend wirkten, sei er immer ein einsamer Fremder geblieben.
Er sei jetzt seit über 12 Jahren Rentner und steuere mit seinem Fang etwas zu den eintönigen Mahlzeiten seiner Familie bei. Häufig gäbe es nur Reis und Bohnen, denn Fleisch sei nur selten zu bekommen. Mit seiner Rente in Höhe von 80 Pesos käme er auch nicht in Kombination mit den Lebensmittelgutscheinen aus dem libreta über den Monat. Er sei auf die Unterstützung seiner Angehörigen angewiesen. Und so stände er nun Tag für Tag seit 12 Jahren an dieser Stelle und angele.Er zeigte auf zwei faustgroße Fische, die in einer rostigen Konservendose am Ufer lagen.
“Ich muss 10-12 davon fangen, damit alle satt werden”, sagte er.
Ich schaute beschämt zu Boden.
“No es fácil - man hat es nicht leicht”, sagte er und grinste breit, “das Leben ist trotzdem schön und ich lebe im Paradies.” Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und lachte dabei wie ein Ziegenbock.
Dann zog er einen Zigarillo aus seiner Brusttasche, steckte ihn in den Mund und wir schwiegen nebeneinander, während er genussvoll rauchte.
Langsam fiel der Stress der letzten Monate von mir ab. Man hatte mir eine Beförderung in Aussicht gestellt und ich hatte einen Großteil meiner Freizeit für die Leitung eines Großprojektes meines Unternehmens geopfert. Oft kam ich erst am späten Abend in meine leere Wohnung und die Tristheit meiner Arbeitstage ließ mich schwermütig werden. Meine freien Wochenenden verbrachte ich mittlerweile müde auf dem Sofa. Das stupide Fernsehprogramm war der Preis für die Anstrengungen.
Vor zwei Wochen entkam ich endlich dem Grau und flüchtete in die Farbenpracht. Dort schritten die Alten mit erhobenem Haupt durch die Kulissen der vergangenen Tage. Die Ruinen der Kolonialzeit wechselten sich mit den renovierten Prachtbauten ab und stahlen einander die Schau. In den engen Gassen saßen die Männer in den Hauseingängen und pfiffen den Mädchen hinterher, die durch die Altstadt flanierten und ihre Kleider vorführten, als arbeiteten sie auf den Prêt-à-porter Modeschauen des fernen Paris. Sie genossen die Bewunderung ihrer Verehrer und dankten es ihnen mit innigen Blicken.
Abends, wenn es dämmerte, zog das Leben in die Straßen. Aus allen Richtungen trug der Wind Musik und das Gelächter der Menschen. Salsa-Rhythmen und die eleganten Klänge des Son forderten zum Tanzen auf. Ich sah einen 80-Jährigen, der auf einen Besen gestützt zu den blechernen Klängen eines Transistorradios die Hüften kreisen ließ, auch wenn er ohne seinen Tanzpartner zu fallen drohte.
Ein junger Mann wurde von seinen Freunden gefeiert, als er eine Flasche mit selbstgebranntem Rum präsentierte und während sie tranken und scherzten, bewegte die Mädchen sich immer ekstatischer zu den rhythmischen Trommeln. Eine Frau winkte mir zu, reichte mir die Flasche und ich setzte mich zu ihnen auf eine Stufe, die durch die Hitze des Tages immer noch aufgewärmt war. Ich war nicht mehr allein. Hier musste niemand allein sein. Und ich träumte noch lange von den zärtlichen Küssen und Umarmungen der kleinen Teresa, die mir barfuß den Salsa beibrachte.
Es war spät geworden. DEr Nordwind schob hohe, dunkle Gewitterwolken vor sich her. Ich verabschiedete mich von Antonio und versprach ihm, am nächsten Tag wiederzukommen. Er freute sich darauf, mir seine Enkel vorzustellen, die er am Sonntag am Fluss betreute. Ich nickte ihm zu und machte mich auf dem Weg in die Stadt.
Als ich mittags an die Stelle am Fluss kam, erkannte ich die Umgebung nicht wieder. Das Unwetter hatte großen Schaden angerichtet. Bäume waren umgestürzt, Äste und Zweige lagen verstreut auf dem sandigen Boden.
Die kleine Serafina tapste in ihren blaugestreifte Trägerkleidchen über den steinigen Boden und begrüßte mich ungestüm, als sie mich sah. Toni winkte mir zu. Er stand neben seinem Enkel Raffael, dessen schmächtiger, muskulöser Oberkörper in der Mittagssonne glänzte.
Am Morgen hatte ich in einem der Devisenläden in Matanzas einen roten Gummiball für einen US-Dollar gekauft. Jetzt verschränkte Serafina ihre winzigen Händchen hinter ihrem Rücken, weil sie es nicht wagte, das Spielzeug anzufassen. Erst als Toni ihr erklärte, dass der Ball ein Geschenk sei, bedankte sie sich artig und nahm ihren Schatz ehrfurchtsvoll entgegen. Dann lief sie fröhlich quietschend davon, um mit ihrem Bruder zu spielen.
Ich beobachtete das ausgelassene Treiben der beiden. Sie warfen sich abwechselnd den Ball zu und Rafa jonglierte ihn spielerisch mit seiner Stirn, bevor er ihn seiner Schwester zuspielte.
Ich wollte mich gerade Antonio zuwenden, als der Junge den Ball übermütig in den Himmel schoss. Vier Augenpaar verfolgten die Flugbahn, die im Fluss endete.
Rafa nahm Anlauf und sprang dem Ball kopflos hinterher. Mir stockte der Atem, als ich seinen schwarzen Schopf einige Sekunden nicht sah. Dann durchstieß seine Hand das Wasser. Kraftvoll kraulte Rafa in der Hoffnung flussabwärts, den Abstand zwischen den Ball und ihm zu verringern. Der Junge hatte Mühe gegen die Strömung anzuschwimmen. Immer wieder musste er Felsen, die im Wasser lagen ausweichen, um sich nicht zu verletzten. Er kämpfte, bis seine Bewegungen schwächer wurden. Ich betete dafür, dass er aufgäbe und an das Ufer schwämme.
In der Ferne verlor ich den roten Punkt aus meinen Augen.