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Man sieht nur mit dem Herzen gut
„Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Ach, wie süß, denkt sich Stefanie und schlägt das dünne Büchlein zu. Ein wenig unzufrieden kuschelt sie sich in die warme Decke ein, denn eigentlich, ja eigentlich wollte sie heute Abend ein wenig mit ihrem kleinen Prinzen spielen. Aber der Prinz ist müde.
„Schatz“, hatte er gesagt, „Schatz, ich bin so fertig heute. Die ganze Arbeit, weißt du, der Stress. Das verstehst du doch oder, Schatz?“ Dann hat er sie noch geküsst, sich umgedreht und ist eingeschlafen.
Natürlich versteht Stefanie das. Die Arbeit ist wichtig, das Kuscheln kann warten. Außerdem, beruhigt sich Stefanie, so eine Pause schadet ja nicht. Umso mehr ist dann das Vergnügen. Ich kenne meinen Prinzen. Zwar hat er keine blonden Haare, doch ansonsten sieht er schon gut aus. Klar, er ist nicht makellos, die Brillen zum Beispiel, hätte er durchaus lassen können, es gibt ja schließlich Kontaktlinsen und ein bisschen mehr Sport würde ihm auch nicht schaden, wird schon ein wenig pummelig. Aber gut, das Äußere ist ja unwichtig. Und außerdem, arbeitet er so viel. Vor kurzem erst ist er zum Teamleiter aufgestiegen. So ist er, mein Prinz: Zielstrebig und fleißig. Steht mit beiden Beinen fest im Leben. Ja, bei ihm bin ich sicher. Er ist der Richtige. Ach, wie viele hässliche Frösche musste ich küssen, um meinen Prinzen zu finden.
Und Stefanie beginnt mit einem zufriedenen Lächeln, sich zu erinnern. All die Frösche, all die Martins und Benjamins und die, deren Namen sie aus Nichtigkeit schon vergessen hat, tauchen nun wieder auf.
Jeder von ihnen, denkt Stefanie weiter, hat mich ein Stückchen klüger gemacht. Mein Gott, ich hatte ja so viele Flausen im Kopf. Doch jetzt bin ich kein Dummchen mehr, ich habe Germanistik und Kunstgeschichte studiert, mich ausgetobt, das Leben kennengelernt und mit Hilfe meines Herzens den Prinzen gefunden, der mich liebt. Seit sechs Jahren sind wir nun zusammen und ich kann mir sogar vorstellen, Kinder von ihm zu haben… Oder? Vielleicht, ich weiß es nicht. Ach, ist ja alles nicht so einfach mit dem Herzen sehen und so. Ist er wirklich der Richtige? Wer weiß. Aber Teamleiter ist gut - sicher. Kinder? Stress. Ich bin noch zu jung… Licht aus?
Und nun versinkt Stefanie endgültig im Schlaf.
Der Prinz wacht auf, denn die Blase drückt. Verdammt, schon wieder das Licht nicht ausgemacht, schimpft er in Gedanken. Strom ist ja nicht billig! Wofür arbeite ich denn? Doch jetzt gilt es keine Zeit zu verlieren. Nach einigen Minuten kehrt der Prinz nun erleichtert zurück. Seine Wut ist verflogen. Interessiert betrachtet er jetzt die schlafende Frau, die da vor ihm liegt.
Da bemerkt der Prinz das dünne Büchlein. Neugierig wie er ist, schlägt der Prinz gleich die Seiten auf und was er da liest treibt ihm ein breites Grinsen ins Gesicht. „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
Ja genau, gerade sie muss es ja wissen. Jetzt aber Licht aus!
Noch ein paar Minuten liegt der Prinz wach und denkt über die Dinge nach, die selbst in dieser schlechten Erzählung nicht erwähnt werden können.
Vielleicht sollte dieser Ausschnitt aus dem Leben eines Liebespaares auch gar nicht erzählt werden. Alles dort ist so grob und primitiv: Schlichte Sprache, abgedroschene Zitate, niemand will es lesen. Die Liebe ist doch was Schönes, die Beziehung der zwei sich liebenden höchst kompliziert, hören wir immer wieder. Überall ertönt die Stimme der Liebespropaganda. Liebe ist alles und alle wollen Liebe, trällern uns die unzähligen Sänger vor: Liebe da, Liebe dort, erste Liebe, zweite Liebe und irgendwann mal wahre Liebe.
Die Menschen lesen schöne Bücher über Liebe und schmachten im Kino bei Liebesfilmen. Da aber passiert die Ungeheuerlichkeit: Sie schlagen ihre Bücher zu, gehen raus und nichts davon, was sie kurz vorher vielleicht sogar gefühlt hatten, ist mehr da. Die schönen Zitate werden zum Müll der wahren Welt. Hier wird hart gepokert, mit Zuckerbrot und Peitsche. Hier wird gefeilscht verkauft und geboten. Hier gilt nur ein Gott, Geld. Aber niemand, außer offiziellen Prostituierten, nennt diesen Namen. Man nennt es: Sicherheit geben, fest im Leben stehen, attraktiv sein oder sich leisten können. Aber natürlich suchen alle nach Liebe und sehen nur mit ihren Herzen gut. Wo ist das Kind, das mal rufen wird: „Die Liebe ist nackt!“