- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 27
Manchmal muss man nachts lesen!
„Verflixt und zugenäht!“, schimpfte die Prinzessin. „Ausgerechnet jetzt macht jemand das Licht aus.“
Es war schlagartig stockdunkel geworden. Man konnte die Hand nicht mehr vor Augen sehen. Die Finsternis stürzte herab und erstickte nicht nur jeden Lichtstrahl, sondern auch alle Geräusche und Gerüche. Eben noch hatte die Prinzessin das gefährlich wütende Schnauben des Drachenfürsten Repto gehört, sie hatte den ekelerregenden Schwefeldunst in ihrer Nase gespürt, den alle Drachen verbreiten, und nun war da – nichts mehr! Kein Laut, kein Schatten, kein Lufthauch, nicht das Fitzelchen eines Duftes... Nichts – absolut nichts!
Zitternd lehnte sie sich gegen die kalte, steinerne Schlosskellerwand. Sie hatte keine Wahl. Sie musste warten. Warten bis es wieder hell wurde. Sie spitzte die Ohren und lauschte. Kam Repto, der Fürst der Drachen, näher? Sie wusste es nicht. Es war, als seien ihre Ohren mit weichem Wachs verklebt worden. Die Prinzessin hörte nichts anderes, als ihren eigenen, eiligen Herzschlag...
Hui! Das war knapp gewesen! Sebastian zog die Decke bis ans Kinn und bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Zum Glück hatte er Mamas Schritte rechtzeitig gehört. Er hatte gerade noch das Licht löschen und das Buch unter sein Kopfkissen schieben können.
Als sich die Zimmertür öffnete, kniff Sebastian die Augen zu. Ein schmaler Lichtfinger kroch durch den Türspalt und glitt kitzelnd über Sebastians Nase. Wenig später schloss Mama die Tür leise und der Junge war wieder allein.
Er rollte sich auf den Bauch, vergrub das Gesicht in den Armen und versuchte, zu schlafen. Er versuchte es ehrlich und mit aller Kraft, aber es klappte nicht. Das Buch unter seinem Kopfkissen war zu laut. Es rief nach ihm und lockte mit süßen Versprechungen. Es ging nicht anders: Sebastian musste unbedingt wissen, ob Repto, dieser widerliche Drachenfürst, die Prinzessin...
Entschlossen knipste der Junge seine Leselampe an und zog das dicke Buch unter dem Kopfkissen hervor. Er spitzte noch einmal die Ohren, aber auf dem Flur war nichts zu hören. Mama saß sicher wieder im Wohnzimmer, bei Papa.
Sebastian seufzte vor Vorfreude und schlug das Buch auf. Zusammen mit dem Lesezeichen purzelte ein knapp fingergroßes Mädchen aus den Seiten und landete auf allen Vieren vor Sebastian auf der Bettdecke. Der Junge schnappte verblüfft nach Luft, doch bevor er etwas sagen konnte, rappelte die junge Dame sich auf, stemmte die Fäuste in die Seiten und begann, lautstark zu schimpfen:
„Also du warst das! Du hast plötzlich das Licht ausgemacht! Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie das ist, wenn man mutterseelenallein in einem dunklen Kellergang steht, nichts sehen, nichts hören und nichts riechen kann und genau weiß, dass Repto hinter der nächsten Ecke lauert?“
Sprachlos starrte Sebastian die schimpfende Person an. Das war die Prinzessin! Er rieb sich ungläubig die Augen, doch das Mädchen verschwand nicht. Es blickte ihn nur mit wütend funkelnden Augen an.
„Ich hoffe sehr, dass du so etwas nie, nie wieder machst!“, sagte es streng, drehte sich auf dem Absatz um und trat mit einem großen Schritt zurück in das Buch, aus dessen Seiten es eben gekollert war. Wie ein Staubsauger verschluckte das Buch das Mädchen. Im Nu war es zwischen all den mit schwarzen Buchstaben besetzten Zeilen verschwunden.
Ungläubig fuhr Sebastian mit dem Zeigefinger über die Zeilen der Geschichte. Da war nichts. Kein Spalt oder Schlitz, keine Öffnung, nur das glatte, bedruckte Papier.
„Tut mir echt Leid!“, murmelte er zerknirscht und fand jetzt selber, dass es gemein von ihm gewesen war, die arme Prinzessin allein in dem dunklen Kellergewölbe zurückzulassen. Schließlich war sie auf der Flucht. Auf der Flucht vor Repto, dem Drachenfürsten und alle Welt wusste, dass Repto nichts lieber verspeiste, als zarte, blonde Prinzessinnen.
Sebastian warf einen schuldbewussten Blick zur Tür. Es ging nicht anders. Er musste weiterlesen!
„Es muss sein, Mama!“, flüsterte er. „Manchmal muss man nachts lesen!“