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Mandanas Reise

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12.10.2005
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Mandanas Reise

Zuletzt sah ich Mandana ziemlich genau ein Jahr nach unserem ersten Aufeinandertreffen. Ich kann mich nur zu gut daran erinnern, wie ich vor der alten Frau zurückschreckte. Sie sah so fremd aus in ihren zerlumpten Kleidern, den Filz in den Haaren und diesen traurigen und auf eine seltsame Art wissenden Augen.
Meine Eltern hatten nach der sechsten Klasse entschieden, dass ich auf ein Gymnasium in die Innenstadt wechseln sollte. Ich war ein guter Schüler auf der Realschule gewesen, hatte nur Einsen und Zweier auf dem Zeugnis gehabt und freute mich darauf, in Zukunft in Köln auf eine Schule zu gehen. Die Lehrer hielten mich für einen reifen Jungen, der bereit war, die Strecke von mehr als einer Stunde mit dem Zug und der U-Bahn auf sich zu nehmen. Mein Vater hatte mich um kurz vor sieben zu Fuß zu unserem kleinen Bahnsteig gebracht und dort mit mir ein paar Minuten gestanden, während wir auf den Zug warteten. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung, wie ich es schaffen sollte, mich in Köln zurecht zu finden. Dann kam auch schon der Zug und alle weiteren Überlegungen und Grübeleien verschwanden im Dröhnen der Bremsen und Pfeifen.

Doch, dass ich nicht reif genug war, den Weg alleine zu finden, wurde mir schon klar, als ich am Hauptbahnhof aus stieg und mich auf einem Bahnsteig wiederfand, der fünfmal so groß war, wie der zu Hause. An mir hetzten Menschen vorbei, stießen gegen meinen Schulranzen und warfen mich fast um. Alles erschien riesig. Wie sollte ich in diesem Gebäude die U-Bahnstation finden? Bei dem gewaltigen Glasdach, das über mir aufragte wurde mir schwindelig. Mit dem Ärmel wischte ich mir über das Gesicht, sah verschwommen auf eine der großen Anzeigetafeln und ging auf die Rolltreppe zu.
Zwischen den vielen tausend Menschen fühlte ich mich einsam, wieder wurde ich angerempelt und spürte einen jähen Schmerz in meinem Arm. Ich entschied mich am Ende der Treppe nach Links zu gehen und den größeren Menschenmassen zu folgen. Ein Mann mit Aktenkoffer und schlecht sitzendem Anzug sah wenige Augenblicke zu mir herüber. Ich überlegte, ihn nach dem Weg zu fragen, doch gerade in diesem Moment drehte er sich schon weg und studierte den Fahrplan. Und plötzlich fing ich an zu weinen. Dumme Tränen liefen mir die Wangen herunter. Mitten im Kölner Bahnhof stand ich da, alleine gelassen und orientierungslos. Kein Bediensteter oder Erwachsener hielt an, nur ein kleines Mädchen deutete mit dem Finger in meine Richtung und sagte etwas zu ihrer Mutter. Alles lief in dreifacher Geschwindigkeit ab, während ich mir noch langsamer vor kam.
„Was hast du denn, mein Junge?“, sagte jemand von hinten. Ich drehte mich um und sah eine kleine, alte Frau, die mich freundlich ansah. Dennoch hatte ich Angst und überlegte, in welche Richtung ich ihr ausweichen könnte.
„Keine Angst. Du musst nicht weinen. Wohin willst du denn?“
Sie hatte meine Panik vermutlich falsch interpretiert. Wortlos betrachtete ich Mandana näher. Sie trug ein Kleid, das mehr Ähnlichkeit mit einem Sack hatte und sich über den Bauch spannte. Es war über und über mit Knöpfen, Flicken und kleinen Ketten bespickt. Sie wirkte auf mich wie ein Mensch aus einer anderen Welt, so wenig passte sie hierher.
„Ich muss zur Linie U6. Aber ich habe mich verirrt“, brachte ich schließlich heraus und schluckte.
„Die 6? Ja, der Haltesteg ich recht gut versteckt. Am besten folgst du mir einfach. Ich warte da auch immer auf die U-Bahn.“
Misstrauisch sah ich sie an. Worauf sollte sie denn schon an einer U-Bahnstation warten? Sie redete leise, und freundlich, aber ihre Augen schienen etwas anderes zu sagen. Damals konnte ich diesen fremden, traurigen und geheimnisvollen Schimmer nicht richtig einschätzen. Doch ich folgte ihr. Mit Mühe blieb ich Mandana auf den Fersen. Zielgerichtet bewegte sie sich durch die Menschenansammlungen, so schnell, dass ich gar nicht mehr auf meine Umgebung achten konnte. Wir gingen an Imbissbuden, Sitzbänken und einem Kiosk vorbei. Der Hauptbahnhof schien mir in seiner Größe und Komplexität wie eine Stadt. An einer Treppe sah ich zwei Polizeibeamte, die dort auf jemanden zu warten schienen. Unruhig sahen sie durch die Halle, ein Blick traf kurz auf mich und ich fühlte mich ertappt, ging aber weiter. Er sah schon bald wieder wo anders hin. Meine Führerin machte eine Biegung nach rechts und sah zum ersten Mal nach mir.
„Du bist ja noch da. Komm schon, dein Zug fährt in wenigen Minuten. Aber ich glaube heute hat Max Schicht. Da gibts öfter Verspätungen.“
Ich verstand nicht, was sie meinte. Wir erreichten eine weitere Rolltreppe, die nach unten führte. Mandana ging aber die Steintreppe hinunter. Später erklärte sie mir, dass sie nichts von den Automatischen hielt und noch nie eine benutzt hatte.
„Los, da steht sie schon. Rein mit dir.“
Ich lief auf die wartende U-Bahn zu. Mandana stand lächelnd an einem Mülleimer und sah mir nach. Als ich durch die Tür geschlüpft war, drehte ich mich um, aber da war sie bereits verschwunden. Gegenüber war eine andere U-Bahn angefahren und hatte neue Menschenmassen ausgespuckt.

Ich sollte sie am nächsten Morgen wiedersehen. Ich hatte einen Mitschüler gefunden, der nach der Schule mit der gleichen U-Bahn nach Hause fuhr. Am Nachmittag war er mit mir bis zum Zug gegangen und hatte mir den Weg erklärte. Mandana saß in einer unscheinbaren Ecke des Bahnsteiges der Linie U6 und häkelte an einem Pullover. Sie war voll und ganz in ihre Arbeit vertieft. Auch wenn ich sie nicht stören wollte, grüßte ich und bereute es im selben Moment wieder. Mit dem Kopf ängstlich zuckend sah sie mir zu hoch. Einen Blick, den ich in der folgenden Zeit immer wieder sehen sollte, selbst, als unsere flüchtige Bekanntschaft eine Art Normalität erreicht hatte. Jeden Morgen musste ich mich aufs Neue an ihre Augen gewöhnen, kurz inne halten, bis ich es schaffte, mit ihr zu reden. Sie berichtete mir viel in den fünf Minuten, die wir jeden Morgen teilten und ich genoss es, mir die Geschichten ihres Lebens anzuhören.
Sie erzählte, dass sie mit siebzehn von daheim abgehauen war, um in der Stadt ihr Glück zu finden. Ihre Eltern hatten nicht nach ihr gesucht, nie hatte sie eines ihrer kleinen Geschwister wiedergesehen. Ein paar ihrer Worte höre ich immer noch, wenn ich morgens an der Stelle vorbeigehe, an der wir immer aufeinander trafen. Irgendwann kannte ich viele ihrer Geschichten auswendig, und bevor sie zur Pointe kam, lächelte ich oft. In Köln hatte sie sich anfangs als Kellnerin, später als Tänzerin durchgeschlagen, jede noch so schlecht bezahlte Arbeit angenommen. Sie hatte sich mit einundzwanzig schließlich unsterblich in einen jungen Straßenkehrer verliebt und hatte ihn heiraten wollen. Wenn sie mir von Leon erzählte, erstrahlte ihr Gesicht und sie konnte sich häufig vor Lächeln nicht auf die Geschichte konzentrieren. Er war bei einem Autounfall gestorben. Ich weinte fast, als sie mir von seinem Tod erzählte. Irgendwann begann ich mich dafür zu schämen so viele Geheimnisse über sie zu wissen. Zwischen Leons Tod und der Zeit, als sie anfing, im Hauptbahnhof zu leben, gab es eine große Lücke in ihren Erzählungen. In vielen Schulstunden malte ich mir aus, was sie in dieser unbestimmten Zeit erlebt haben mochte. Ob Mandana vielleicht als blinder Passagier durch die Welt gereist war, ob sie reich geworden war und alles auf die hohe Kante gesetzt hatte, um all ihr Geld zu verlieren.
Mit etwa fünfzig war sie dann nach Köln zurückgekehrt, von wo, dass sagte sie mir niemals und nie habe ich sie etwas in der Richtung gefragt. Ich wusste auch nicht, was sie nachts tat und wo sie sich schlafen legte. Aber ihre Geschichten über die Menschen und das ständige Auf und Ab auf den U-Bahnsteigen waren so spannend, dass ich es auch nie wissen wollte.
Es dauerte nicht lange, bis ich mich in der neuen Schule eingelebt hatte und auch die U-Bahn Fahrten wurden wie das morgendliche Frühstück zur Routine. Nie habe ich Mandana von meinem Stundenplan erzählt und dennoch erwartete sie mich stets am Ende der Treppe, um mit mir die dreißig Meter bis zum Bahnsteig zu teilen. Wir redeten so viel es ging, an anderen Tagen schwiegen wir, bis ich einstieg.
Es gab immer wieder Probleme mit der Bahnaufsicht oder anderen Passanten, denen Mandana nicht passte. Irgendwie konnte ich die Menschen auch verstehen. Die alte Frau gehörte nicht in dieses sterile Umfeld, in der sie die einzige lebende Konstante war. Alles hetzte und war ununterbrochen in Bewegung, wie die U-Bahnlinien, in die ich jeden Morgen einstieg. Wir waren im Vergleich zu ihr alle Züge und sie blieb zurück wie ein ausrangierter Bahnsteig. Ich brauchte ein halbes Jahr, um ihr diese Frage zu stellen.
„Auf welche Bahn wartest du eigentlich?“
Mandana sah mich lange an. Ich glaube es war einer von den Morgen, an denen wir sonst wortlos zum Haltebereich geschritten wären. Ein Mann mit einem Zigarettenstummel stand in der Nähe, ging dann aber zu einem Aschenbecher.
„Ich weiß nicht. Bisher ist sie noch nicht gekommen“, antwortete sie schließlich.
„Versteh ich nicht.“
„Mein Junge. Die meisten Menschen warten hier ein paar Minuten auf ihre U-Bahn. Ich sehe sie an mir vorbei laufen und bin nicht einmal fähig, mir ihre Gesichter zu merken. Sie rennen durch mein Blickfeld, wie lästige Fliegen. Manche Menschen warten vielleicht ein paar Stunden. Das sind meistens Nachts die Betrunkenen, die ihren Zug verpasst haben.“
Sie atmete auf. Die Anhänger ihrer Kette wippten umher.
„Und wie lange wartest du schon?“
„Ich? Ach“, sagte sie und lachte. „Ich warte schon Jahre auf diese eine U-Bahn, mit der ich fahren werde.“
„Aber was soll denn besonderes an der sein? Die sehen doch alle gleich aus.“
„Ich kann es dir auch nicht erklären.“
„Also ich würde einfach in die nächste einsteigen und dann schauen, ob sie zum richtigen Ziel fährt. Du könntest ja mit mir fahren.“
„Mit der um halb Acht?“
„Ja, genau.“
„Nein, die kenne ich. An vielen Stellen zerkratzt und die Motoren machen seltsame Geräusche. Die Bremsen sind zu laut. Da werde ich nicht einsteigen, aber danke, dass du dich so sehr um mich sorgst.“
Ich sah von ihr weg, hinüber zu den Gleisen. Die U-Bahn kam schon herangerast. Es hatte wie jeden Morgen etwas gespenstisches, wenn der dunkle Tunnel hell wurde und dieser Metallwurm aus seinem Loch gekrochen kam.
„So, ich muss los.“
Ich bemühte mich zu einem Lächeln und ging zügig zu einer offen Tür. Die alte Frau sah mir hinterher, auch noch, als ich Platz genommen hatte. Ich überlegte, ob ich ihr winken sollte, ließ es aber sein.

Etwa zwei Wochen vor dem Tag, an dem sie verschwand, hatte der Zug wieder einmal Verspätung. Ich sah hektisch auf die Uhr. Die U-Bahn würde in nicht einmal drei Minuten kommen und ich musste mich beeilen, wenn ich sie noch erreichen wollte. Den Weg kannte ich mittlerweile auswendig und wusste genau, wo sich die Menschen ansammelten und wie ich ihnen am besten ausweichen konnte. Eine Frau rief mir ärgerlich hinterher, als ich sie anrempelte. Ich drehte mich nicht um, lief nur weiter geradeaus, dann bog ich um die Ecke. Ein kleiner Junge bemerkte meine Eile und stellte sich absichtlich in meinen Weg. Geschickt wich ich zur Seite aus und warf ihm im Vorbeilaufen die Kappe vom Kopf. Ich eilte die Treppe herunter, auf den Gleisen stand planmäßig die U-Bahn. Ich wollte schreien, dass sie auf mich warten solle, als ich Mandana zwischen mehreren Menschen eingekeilt am Rande der Gleise sah. Die U-Bahn hatte bremsen müssen und stand zur Hälfte im Tunnel. Entsetzt lief ich auf Mandana zu. Was war nur passiert? Sie hatte mir immer wieder von Leuten erzählt, die sie am liebsten aus dem Bahnhof verscheuchen wollten und sie hassten. Aber noch nie hatte ich gesehen, dass ihr jemand etwas antat. Dann merkte ich, dass sie um Hilfe rief, als würde sie ausgeraubt werden. Ohne weiter nachzudenker warf ich mich auf einen ihrer Peiniger, einen dicken Mann mit Schnurrbart.
„Was soll das denn?“, schnaufte dieser und hob mich fast hoch, als er sich wehrte. „Bleib mal ruhig, Junge.“
Ich sah ihn böse an, bis ich merkte, dass der Mann eine Uniform der deutschen Bahn trug. Ich begriff die Situation und wurde rot im Gesicht. Die drei Männer raubten Mandana keineswegs aus, hielten sie nur fest. Sie sah furchtbar aus, ihr Kleid war an manchen Stellen zerrissen und auf dem Boden rollten ihre bunten Knöpfe.
„Kennst du die alte Frau?“, fragte mich der Mann. Ich nickte und ging einen Schritt weiter auf Mandana zu.
„Was ist denn passiert?“
Einer der Passanten ließ seinen Griff von ihr und machte sich unmerklich aus dem Staub.
„Glaube ihnen kein Wort“, sagte Mandana und ich kam mir noch seltsamer vor. Ich war gerade einmal dreizehn und versuchte eine Situation zu begreifen, an der nur Erwachsene beteiligt waren.
„Nun, diese Frau hat eben versucht vor den Zug zu springen. Nur mit letzter Mühe haben wir es noch geschafft sie aufzuhalten.“
„Was wird jetzt passieren?“
Der Bahnbediensteten rieb sich die Augen.
„Das werden wir der Polizei melden müssen. Aber erstmal muss die U-Bahn jetzt endlich rein fahren.“
Er hob seine Arme und machte ein paar Handzeichen zum Bahnführer. Die U-Bahn kam langsam herein gerollt. Sofort setzten sich die Massen in Bewegung um einzusteigen. Ich überlegte zu folgen, wollte aber unbedingt noch mit Mandana reden. Sie hatte sich mittlerweile auf eine Bank gesetzt und sah ausdruckslos nach vorne. Ich ging zu ihr herüber und setzte mich neben sie.
„Die lügen. Ich wollte doch nur etwas nachsehen.“
Die U6 setzte sich währenddessen wieder in Bewegung und verschwand Sekunden später im Tunnel.
„Die wollen dich jetzt bei der Polizei melden“, sagte ich und wackelte dabei unruhig mit den Beinen, wie ich es immer tat, wenn ich aufgeregt war.
„Nachsehen, ob die Bahn kommt. Ich hatte so ein Gefühl. Nicht mehr. Wirklich.“
Sie stammelte. Ich fragte mich, ob sie am nächsten Tag wieder da sein würde, oder ob es ihr die Polizei nun verbieten würde. Auf dem Boden vor mir lag einer ihrer Knöpfe. Ein Motiv war darin eingeritzt und zeigte einen lachenden Löwen. Ob sie damit in Afrika gewesen war? Ich steckte ihn ein, es ist heute alles, was ich noch von ihr habe.

Die nächsten zwei Wochen waren wie immer. Ich war erst überrascht sie wieder häkelnd auf dem Bahnsteig zu sehen. Sie hatte auf mich gewartet, erzählte mir davon, wie sie am Tag vorher von der Polizei verhört worden war und schien sich nicht daran zu erinnern, dass ich anwesend gewesen war, als sie fast vor den Zug gesprungen wäre. Man hatte sie gehen lassen, meinte sie und streckte kindisch die Zunge heraus.
Das Schuljahr war so gut wie beendet und mit ihr auch die Zeit mit Mandana. Bald würden wir Sommerferien haben und ich würde sie sechs Wochen nicht mehr zu sehen bekommen. Sie wusste davon und war traurig, obwohl ich ihr versprochen hatte, sie mehrmals besuchen zu kommen. Ich hatte es geschafft mich gut in die Klasse zu integrieren, gehörte trotz des Schulwechsels zu den besten. An diesem Tag gab es Zeugnisse und meine Eltern empfingen mich zuhause voller Stolz. Und auch Mandana war glücklich.
„Ich habe heute Leon in der Linie 6 gesehen“, rief sie mich außer Atem zu. „Er saß am Fenster und hat gewinkt.“
Ich sah sie verwirrt an und fühlte in meiner Hosentasche nach dem Knopf. Er war seitdem mein ständiger Glücksbringer und ich habe ihn immer wieder von neuem auf Kleidungsstücke, Rucksäcke oder Hüte genäht.
„Leon?“
„Ja, ich habe ihn gesehen. Wenn du ihn vielleicht gleich in der Bahn siehst, grüße ihn von mir. Ich weiß, dass du mich für verrückt hältst, aber er war es wirklich.“
Die Linie U6 kam herein gefahren.
„Bis bald, ich komme dich in den Ferien besuchen, wie vereinbart“, rief ich und lief auf die sich öffnenden Türen zu.
Sie winkte mir und ihr Gesicht strahlte. Ich sah ihr solange hinterher, bis zu beiden Seiten des Zuges die Steinmauern des Tunnels die Sicht auf Mandana verdeckten.

Sie war nicht mehr da, als ich im Hochsommer, gebräunt durch die Sonne Spaniens, einen Ausflug zum Kölner Hauptbahnhof machte. Meine Eltern hatte ich erzählt, ich würde einen Schulfreund besuchen gehen. Ich war gespannt auf das, was sie in den letzten Wochen erlebt haben mochte und freute mich einfach ihr Gesicht und die glänzenden Augen zu sehen. Schlendernd ging ich die Treppe zum U-Bahnsteig hinunter, aber da war sie nicht. Ich ging zu der Ecke, an der sie ihre Sachen immer versteckt gehalten hatte. Dort war alles sauber, als wäre ordentlich gefegt worden. Eine Stunde suchte ich den Bahnhof, jeden Winkel und auch die nähere Umgebung, ab.
Erschöpft ging ich zurück zum U-Bahnsteig. Die U6 fuhr gerade herein. Ich kannte den Bahnführer, ein gutmütig blickender Mann Anfang dreißig. Er sah desinteressiert aus seinem Fenster. Wie oft er das hier alles schon mal gesehen haben muss? Ob ihm Mandana überhaupt je aufgefallen ist oder ob sie nur eine von vielen tausend Menschen war? Dann verschwand die Bahn wieder. Ich wusste in diesem Moment schon, dass ich Mandana nicht mehr wiedersehen würde. Sie war fort, vielleicht hatte sie endlich die richtige Bahn gefunden, die sie mitgenommen hatte. Ich hoffte so sehr, dass sie einfach in eine eingestiegen war und sich die Motoren in Bewegung gesetzt hatten, während sie nach draußen blickte, auf die Menschen und ihre Heimat für so viele Jahre. Vielleicht hatte sie wirklich Leon gesehen und war ihm gefolgt. Wohin? Hoffentlich an einen Ort, an dem sie glücklich sein kann und immer so strahlt, wie an diesem letzten Tag, an dem ich sie gesehen habe.

Marburg, 27.6.2006

 

Hi Eike,

die Atmosphäre triffst du gut, auch wenn du das Leben der Obdachlosen sicherlich trotz einiger Menschen, die sie aus dem Bahnhof vertreiben wolltest, etwas zu idyllisch gezeichnet hast. Aber das ist leider immer die Gefahr, wenn man an ihnen eine Geschichte über wahre Werte und das mögliche Glück in der Armut beschreibt. Dann rutscht man leicht in ein Gewissen bereinigendes kapitalistisches Wunschbild.
Aber du zeichnest ja die Sichtweise deines dreizehnjährigen Prot (dessen Alter mE zu spät in der Geschichte genannt wird). Und da ist es völlig legitim, die Frau so zu schildern, wie er sie erlebt, als eine Art traurigen Engel, der irgendwann die letzte U-Bahnfahrt antritt.
Erstaunlich finde ich den gönnenden Gleichmut, zu dem der Junge bei ihrem Verschwinden gleich fähig ist. Ich kenne kaum Erwachsene, die das können.
Stilistisch finde ich vieles noch nicht rund. Ein paar Dinge habe ich dir neben den Fehlern im Worddokument aufgezeigt. Vor allem fällt mir die oft falsche Verwendung von "wie" und "wo" auf, die nicht nur äußerst umgangssprachlich wirkt, sondern eben ein Fehler ist. Auch dass/als verwechselst du manchmal im Sinngebrauch. Von das/dass brauchen wir ja bei dir eh nicht mehr reden. ;)

Lieben Gruß, sim

 

Hey sim,
endlich mal die erste Rückmeldung auf die Geschichte. :)

Freut mich, dass es einigermaßen zu gefallen wußte. Und ja, ich denke auch, dass man das eben alles aus dem Sichtwinkel eines 13jährigen sehen muß. Das soll jetzt keine Ausrede sein, auch darauf werde ich noch eingehen müssen, weil du recht hast. Ein wenig mehr Wehmut sollte da am Ende schon mitschwingen. Aber ich denke auch, dass Mandana den Jungen nur an ihrem Glück und Freuden teilhaben lassen will und ihn nicht mit all dem Schmerz und Ängstern ihres lebens vertreiben möchte. Das war jedenfalls teil meiner Intention, wie du sie hier so schön beschreibst: :)

Und da ist es völlig legitim, die Frau so zu schildern, wie er sie erlebt, als eine Art traurigen Engel, der irgendwann die letzte U-Bahnfahrt antritt.

man sim, danke für das fehlerraussuchen! Werd mich da in überschaubarer Zeit mal dransetzen.

LG,
Eike

 

Hi 03,

Das letzte Mal, dass ich Mandana sah, war ziemlich genau ein Jahr nach unserem ersten Aufeinandertreffen.
Das fand ich beim ersten Lesen verwirrend: ich ging zunächst davon aus, dass der Prot Mandana getroffen hat, dann eine Zeit nicht und dann nach einem Jahr nochmal.

Du hast dir Köln als schauplatz ausgesucht, beschreibst aber nicht das Besondere an dem Kölner Bahnhof, nämlich wie nah er am Dom liegt. Vielleicht ist es nicht das erste Mal, dass der Prot da ankommt, aber wenn er zum ersten Mal dort allein ist, würde der Dom bei der Einfahrt doch sicher ein Erlebnis sein; vllt noch größer wirken als sonst schon. Das könnte noch etwas mehr Authentizität und Atmosphäre reinbringen, was du so einfach verschenkst.

Sim hat dir ja schon Tipps gegeben, deshalb spar ich mir eine Fehlerliste.

Gruß, Elisha

 

Hey Elisha,

Du hast dir Köln als schauplatz ausgesucht, beschreibst aber nicht das Besondere an dem Kölner Bahnhof, nämlich wie nah er am Dom liegt.
Stimmt, das ist eine gute Idee... Ich bin oft zu faul das setting zu beschreiben, habe mir aber zB bei "Josephine" da mehr Mühe gegeben.
Das werde ich noch machen, auch den Bahnsteig vielleicht ein wenig besser beschreiben. Mal sehen.

Danke auf jeden fall für die Rückmeldung. *küsschen*

Eike

 

Sternensegler schrieb:
Das werde ich noch machen, auch den Bahnsteig vielleicht ein wenig besser beschreiben
Jetzt schreibst du vom Bahnsteig mit i, in der Geschichte hast du fast durchgängig das i weggelassen. In meiner Kritik bin ich darauf nicht eingegangen, weil ich es für Absicht hielt. Wie hättst du es denn gern? Bahnsteig wäre natürlich die allgemein verwendete Variante, ein Steg hat ja eher etwas mit Wasser zu tun. ;)

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Sternensegler!

Ich mag deine Geschichte, konnte mir alles genau vorstellen, auch ohne die Beschreibung des Settings. Liegt aber wohl auch daran, dass ich den Kölner Bahnhof gut kenne.
Wie sim schon gesagt hat, kommt es ein bisschen spät, dass der Protagonist 13 ist, hätte ihn anfangs fast noch jünger eingeschätzt. Ansonsten ein sehr schönes Thema, gerade deswegen zu erfahren, warum ein Mensch obdachlos wird. Schön auch, dass ein Kind die Freundschaft mit Mandana beginnt. Erwachsene sehen über so etwas leider viel zu oft hinweg.

Liebe Grüße,
aneika

 

Hey sim: ja, dann nehm ich doch besser den Bahnsteig. Mir ist der Unterschied gerade erst aufgefallen. :D Aber da ich die Story bei einer Ausschreibung mit dem Thema U-Bahn einreichen will, nehme ich dann lieber das richtige Wort.

Hey aneika: Nun, ich bin auch schon so oft im Kölner Hauptbahnhof gewesen, dass ich es mir auch recht gut da vorstellen konnte. Ich denke mal es weckt schon Assoziationen bei dir, wenn du überhaupt das Wort "Kölner HBF" hörst. Das gilt aber nicht allgemein, weswegen es schon wichtig ist da mehr Beschreibung reinzubringen.
Die Geschichte beruht übrigens auf einem wahren Begebnis, dass ich mit etwa 13, 14 hatte, als ich ganz alleine im Hamburger HBF mit der U-Bahn zum Bahnhof Altona fahren sollte und ich keinen Plan hatte, wie ich das schaffen soll. Da hat mir auch eine ältere Obdachlose geholfen... der Rest ist dann aber Fiktion. :)

Eike

 

hey Eike,

hat mir gut gefallen, die Athmosphäre kommt rüber. Zwar habe ich die ganze Zeit an den Münchner HBF denken müssen- aber Du hast die Geschichte so beliebig gehalten, dass das vermutlich auch ok ist. Das Ereignis mit Polizei und vor die Schienen werfen war mir igendwie zu schwach - hier kommt von Deinem Prot ja fast keine Reaktion. Ansonsten aber gut - bis auf ein paar sprachliche Hunde ... z.b.

Ja, der Haltesteg ich recht gut versteckt.
ist

liebe Grüße
Anne

 

Hi Maus

Zwar habe ich die ganze Zeit an den Münchner HBF denken müssen
Irgendwie sehen die ja auch alle gleich aus. Und im Münchner HBF bin ich noch nie gewesen und hab auch keine ahnung wie es da aussieht. :)

Das Ereignis mit Polizei und vor die Schienen werfen war mir igendwie zu schwach
Hab mich gewundert, dass das noch nicht angemerkt worden ist. Sollte ja als eine Art Höhepunkt fungieren, also Spannung vermitteln. Aber ich sollte wohl nicht sagen, was es tun soll, sondern lieber dafür sorgen, dass es das auch echt tut. Oder so. :D

Danke fürs Lesen,
Eike

 

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