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Maria

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09.02.2007
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Maria

Maria

Schon als ich aus dem Zug stieg, atmete ich eine andre Luft und meine Einbildung legte einen etwas salzigen Geschmack auf meine Zunge. Fast wäre ich gestolpert, denn mein leichtes Schuhwerk, falls man meine Latschen als Solches bezeichnen kann, war für mich doch etwas ungewohnt. Die Aussicht, drei Wochen nicht in Schlips und Kragen herum laufen zu müssen, war überwältigend.
Ich war hungrig nach dem feinen Sand, den Wellen und der Weite des Meeres und diesem einzigartigem Duft. Wenn es mir nicht zu peinlich gewesen wäre, hätte ich mich am liebsten sofort im weichen Strandsand gewälzt, das Salzwasser über meine Lippen rinnen oder aus dem Seegras eine Perücke entstehen lassen.
Warum müssen die Leute immer irgendwohin fliegen…, dachte ich so bei mir.
Und nun sitze ich hier in Jeans und Shirt, unrasiert und bin einfach zu- frieden mit mir und der Welt. In diesem Jahr hatte ich mir den Urlaub redlich verdient, obwohl ich öfter hier her, an die Ostsee, fahre. Es kam mir vor, als sei es dieses Mal etwas Besonderes.
Ich war, nach drei Jahren der Trennung, nun endlich geschieden. Wobei das „endlich“ nicht die Bedeutung von glücklich ersetzten soll. Ich hatte mich in meine Arbeit vertieft, sie füllte mich aus und forderte mich ständig. Ich meine, ich hatte den schönsten Beruf der Welt, denn als Anwalt konnte ich der Gerechtigkeit ein wenig auf die Sprünge helfen. Jedenfalls hoffte ich das.
Aber jetzt war ich über eintausend Kilometer weit weg und ich hatte mir vorgenommen keinen Gedanken an meine Akten zu verschwenden. Doch ab und an kam ein verschmitztes Lächeln in meine Mundwinkel. Ich stellte mir dann das Gesicht meiner Kollegen vor, wenn sie mich hier in dieser „Verkleidung“ sähen, in der ich mich so wohl fühlte. Ich fand, sie stand mir viel besser, auch mit Mitte fünfzig.
Ich verbrachte die Tage am Strand, auf einem Fischkutter zum Angeln oder schlenderte durch die kleinen Gässchen. Kulinarisch ließ ich es mir gut gehen, Fisch stand natürlich an erster Stelle. So frisch bekam ich diesen nicht sobald wieder.
Nun könnte man meinen, das war ein ganz normaler Urlaub, wie ihn Andere auch erleben. Nein, das war er eben nicht! Nun ja, die ersten Tage schon, doch dann verlief er anders, als jeder bisherige.
Ich saß, die letzten Sonnenstrahlen des Jahres genießend, in einem Strandkorb, der sich ein wenig in die Dünen schmiegte. Ich lauschte dem Rauschen des Meeres und dem Geschrei einiger Möwen, das wie ein Lachen klang.
Dann sah ich sie – Maria.
Sie ging die Strandpromenade entlang, den Blick in die Ferne gerichtet.
Sie setzte sich auf eine Bank, zündete sich eine Zigarette an und atmete den Rauch tief ein. Ihr Gesicht zeigte keine Züge, in denen man lesen konnte. Sie schien mit sich und der Welt allein zu sein und den ganzen Trubel der späten Touristen nicht zu bemerken. Man sah keine Zufriedenheit, aber auch keinen Kummer. Ihr Gesicht schien leer, ihr Blick sich im Nichts zu verlieren. Doch bevor Maria ihren Weg fortsetzte, glaubte ich, eine gewisse Traurigkeit zu erkennen.
Maria war eine schöne Frau, vielleicht Anfang fünfzig, nicht auffällig gekleidet, eher schlicht, sodass man nicht zu deuten vermochte, was oder wer sie war.
Nach einer Weile ging sie weiter, immer geradeaus, bis sie zur letzten Haltestelle des Ortes kam und mit dem nächsten Bus verschwand.
Ich sah Maria auch am Folgetag die Promenade entlang gehen und auch an den nächsten Tagen auf dieser Bank sitzen. Manchmal, wenn es windstill war, ging sie hinunter zum Strand und schaute auf das Meer, hob eine Muschel, einen Stein oder die Feder einer Möwe auf.
Ich weiß nicht, wie viele Tage vergingen, bevor ich mich entschloss, mich auf diese Bank zu setzen, noch ehe sie kam.
Maria stockte, als sie mich sah, nahm aber nach einigen Sekunden des Zögerns dennoch wortlos Platz. Ich nahm mein Zigarettenetui heraus und bot es schweigend an. Maria lächelte schwach und nahm ihre eigene Schachtel zur Hand. Wir rauchten schweigend, obwohl ich gerade dabei war, mir dieses Zeug abzugewöhnen. Maria setzte dann ihren Weg, wie gewohnt, fort, ohne ein Wort.
Meine Neugierde auf diese seltsame Frau verstärkte sich und so saß ich jeden Tag auf dieser Bank.
Inzwischen hatte ich mir gemerkt, welche Sorte sie rauchte und kaufte eine Schachtel davon. Ich war gespannt, ob sie dieses Mal mein Angebot annahm. Ich gebe zu, ich war ein wenig aufgeregt, obwohl ich mich eher für abgeklärt hielt, für jemanden, den nichts erschüttern konnte und der stets alles im Griff hatte.
Ich brauchte auch nicht lange zu warten, Maria schien eine innere Uhr zu haben. Ich bot ihr aus meiner neuen Schachtel an und achtete darauf, dass meine Hand diese nicht verdeckte. Ihr Lächeln ließ ihr Gesicht
bezaubernd wirken. Sie nahm tatsächlich mein Angebot an, schweigend und wieder auf das Meer schauend.
Vielleicht war inzwischen über eine Woche vergangen, doch das weiß ich nicht mehr so genau. Ich kann mich nur daran erinnern, dass es an diesen Tagen nicht einmal geregnet hatte, bis auf den Tag, an dem ich sie zum letzten Mal sah.
Maria ging wieder die Promenade entlang, hatte einen Regenschirm dabei. Für mich stand fest, sie würde auch bei diesem leisen Regen wieder ihre Bank aufsuchen. Aber das traf nicht ein. Maria ging stattdessen auf ein kleines Café zu, das von hohen Dünen fast eingerahmt war und setzte sich an einen Fensterplatz.
Ich überlegte während dessen, wie ich mich nun verhalten sollte. Diese Frau zog mich magisch an und ich ging hinein, langsam zu ihrem Tisch. Wortlos blieb ich daneben stehen, wagte nichts zu sagen. Maria schaute mich nicht einmal an, zeigte nur mit der Hand auf einen Stuhl. Ich nahm Platz, während mein Inneres zu brodeln begann. Das war eine neue, unbekannte Situation.
Die Kellnerin kam, ich bestellte mir einen Latte Machiato und dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Ich fragte, was ich für Maria bestellen dürfte.
Maria drückte eilig ihre Zigarette aus, Tränen standen ihr in den Augen und sie sagte fast unhörbar: „Schade“ und ging.
Es folgte eine lange Regenwoche. Ja, der Herbst hatte Einzug gehalten und mein Urlaub war zu Ende. Ich war mir sicher, Maria nie wieder zu sehen, denn seit unserer letzten Begegnung kam sie nicht mehr zur Strandpromenade.
War es der Regen, war es meine an sie gerichtete Frage oder war es der Grund ihrer Tränen, dass sie so schnell gehen musste? Ihr Wort, „schade“, ging mir jedoch nicht aus dem Kopf. Doch so sehr ich nach einer Antwort suchte, ich fand sie nicht. Für mich stand einfach fest, dass ich meinen nächsten Urlaub wieder hier buchen würde.
Was ich befürchtete trat ein, ich konnte Maria nicht vergessen.
Schon im nächsten Frühjahr reiste ich dann voller Erwartung wieder in meine alte Pension.
Jeden Tag ging ich zur geheimnisvollen Bank, doch Maria sah ich nicht wieder. Nun saß i c h dort und schaute ins scheinbar Unendliche. Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, dass ich Sehnsucht hatte. Sehnsucht nach Maria, Sehnsucht danach, nicht allein auf dieser Bank zu sitzen,
Sehnsucht nach einem Menschen an meiner Seite. Ich fing an, über mein Leben nachzudenken. War Maria auch einfach nur allein, wie ich? So langsam begann ich zu verstehen.
Vielleicht hatte Maria auf ihren vielen Spaziergängen eine Antwort auf ihre Fragen gefunden. Ich wünschte es ihr sehr.
Die Tage vergingen und ich beschloss, heimzureisen. Hier hielt mich nun nichts mehr, obwohl ich an diesem schönen Ort immer die Ruhe fand, die ich suchte. Inzwischen war ich mir aber gar nicht mehr sicher, dass ich diese wirklich suchte. Ich spazierte noch einmal die Promenade entlang, vorbei an dem Dünen-Café, in Gedanken schon bei der Abreise.
Aber halt, ich traute meinen Augen nicht, ging ein paar Schritte zurück. Das war doch Maria!
Ich stand da, wie versteinert, war außer Stande mich zu bewegen, geschweige denn zu wissen, was ich jetzt tun sollte. Ich starrte in das Café, starrte Maria an. Im Leben gib es ja viele Zufälle, doch mit diesem hatte ich nicht gerechnet.
Ich befreite mich aus meiner „Starre“ und trat an das Café heran und sah sie mit einer jungen Frau, die ihr sehr ähnelte und einem jungen Mann, der ihr Lächeln hatte, an unserem Fenstertisch sitzen. Sie unterhielten sich angeregt, viel mit den Händen gestikulierend. Ich sah eine völlig andere Frau, eine Frau, die so unendlich glücklich schien, die so wunderschön auf mich wirkte. Faszinierend setzte ich mich an einen Nebentisch. Ich bestellte das Übliche, einen Latte Machiato und zündete mir fast automatisch eine Zigarette an, obwohl ich seit dem letzten Herbst nicht mehr geraucht hatte. Ich brachte Maria wahrscheinlich unweigerlich mit einer Zigarette in Verbindung, da ich sie so das erste Mal gesehen hatte.
Plötzlich erhoben sich Maria und ihre Begleitung zum Gehen. Sie wandte sich zu mir, obwohl ich mir eigentlich sicher war, dass sie mich nicht bemerkt hatte und sagte lächelnd, mit zwei Armbewegungen: „Meine Tochter, mein Sohn. Übrigens, ich rauche nicht mehr!“ Dann legte sie mir einen kleinen Zettel neben meine Tasse und sagte „Danke für die Gesellschaft im letzten Jahr.“
Ich schaute auf den Zettel und sah eine Telefon-Nummer und den Namen „Maria“. Als ich ganz verwirrt wieder aufschaute, war Maria bereits gegangen.
Ich blieb noch eine ganze Weile in diesem, unserem, Café. Ich nahm mein Handy und speicherte eilig die Nummer ein, immer wieder kotrollierend, ob sich auch ja kein Tippfehler eingeschlichen hatte.
Ich ließ mir für den Rest des Tages die Seeluft um die Nase wehen.
Das Abendbrot in meiner kleinen Pension nahm ich völlig in Gedanken ein, mechanisch, hatte nur eine Frage im Kopf: Was mache ich jetzt? Diese Nummer – das war Maria – ja ich hatte sie dicht bei mir und dennoch…

In der folgenden, schlaflosen Nacht fragte ich mich plötzlich, wie alt ich
eigentlich sei.
Ich besann mich darauf, dass ich kein Teenager mehr war, auch wenn die Schmetterlinge im Bauch mächtig flatterten. Ja, ich war verliebt, das zumindest hatte ich erkannt.
Das Frühstück verschlief ich und wenn die Möwe, Emma nannte ich sie, nicht so geschrien hätte, wäre ich noch später aus den Federn gekommen. Dieser lange Schlaf tat zwar gut, doch da war sie wieder, diese Telefon-Nummer.
„Lars, reiß dich doch mal zusammen! Du hast ein paar Zahlen, nimm dein Handy und ruf an! Telefonieren wirst du ja wohl können.“ Nein konnte ich eben nicht. Was sollte ich denn sagen? Ich kam mir so unbeholfen vor, wie nie zuvor. Eines war klar, wenn ich nicht im Stande war, die Nummer zu wählen, dann war diese Geschichte zu Ende. Ja, dann war es nur eine Geschichte, die man abheften konnte. Nein, nein, dazu war alles inzwischen einfach zu wertvoll.
Nach einem Spaziergang betrat ich meine Pension, bestellte mir einen Cognac. „So und nun wird angerufen“, sagte ich zu mir, „Lars, bist ein Mann, das ist dein Handy und das ist die einzig wichtige Nummer auf dieser Welt!“
Die ersten drei Zahlen waren auch kein Problem, die vierte… und fünfte…, nein, ich legte wieder auf. Mist, diesen Anlauf hatte ich vergeigt. Ich fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare, übers Gesicht, schloss die Augen. Doch dann sah ich wieder auf das Handy. Was, wenn es dieses Ding nicht geben würde? Dann hätte ich nie diesen Zettel erhalten, dann hätte Maria gleich in Worte kleiden müssen, was sie mir zu verstehen geben wollte und ich hätte antworten können. So einfach wäre das. Hätte ich antworten können? Wahrscheinlich hätte ich mich dann genauso naiv angestellt, wie jetzt mit dem Handy und es wäre nichts weiter, als nur peinlich gewesen. Nein, das, Telefon schlechthin, war doch eine gute Erfindung.
„Puh, was nun? Ich rufe jetzt einfach durch“, sagte ich mir, „Auflegen kann ich ja immer noch“. Na, wie wäre denn das? War ich im Kindergarten? Nein! Ich wählte dann entschlossen die Nummer und es meldete sich eine angenehme, sehr frauliche Stimme: „ Ja, bitte…“. „ Ja, hallo, hier ist der Zettel…, nein, ich meine das Café…äh, Lars…“. Ich stotterte, was ich nie in meinem Leben getan
hatte und hörte dann ein verhaltenes, leises Lachen. Maria half mir aus der Verlegenheit und wir verabredeten uns zum kleinen Abendessen in dem Café.
Viel Zeit war nicht mehr. Ich war gerade im Begriff, in mein Zimmer zu stürzen, als mir gewahr wurde, dass mein Schlüssel noch unten an der Rezeption hing.
Noch mal hinunter, wieder herauf; ab, unter die Dusche, rasieren und anziehen. Was sollte ich anziehen? Ich stand da und wusste auf einmal, warum man Frauen nachsagt, sie hätten nie etwas zum Anziehen.
Egal, Jeans, blaues Hemd, es war ja warm, fast noch Sommer. Ach ja, etwas After- Shave konnte nicht schaden. Ein Blick auf die Uhr, ich hatte noch eine halbe Stunde. Meine Brieftasche! Na das wäre was geworden, die hätte ich beinahe liegen gelassen.
Ich verließ meine Unterkunft, ging zu unserer Bank, die unweit des Cafés einsam in der Abenddämmerung auf mich zu warten schien. Noch eine viertel Stunde, eine ganze Viertelstunde! Ich atmete tief durch, schaute auf die See, in der die Sonne zu ertrinken drohte.
Ein paar Minuten später betrat ich das Café, doch „unser“ Tisch war besetzt. Schade, dachte ich und setzte mich an einen anderen, ebenfalls mit Seeblick. Da saß ich nun und bestellte einen Espresso, da ich meinen Kreislauf erst mal zur Raison bringen musste. Gleich, gleich müsste Maria hereinkommen. Einen zweiten Kaffee bestellte ich lieber nicht, hatte ohnehin schon Herzklopfen bis zum Hals. Ich trank eine Schorle und noch eine, während ich die Karte ausführlich studierte, rauf und runter, man hätte meinen können, ich wollte sie auswendig lernen. Irgendwann ließ ich mir zweiten Cognac kommen. Erst dann bemerkte ich, dass ich ganz allein in der Lokalität saß und der Service dem Feierabend entgegen hantierte. Ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr.
So langsam begriff ich enttäuscht, dass Marias Stuhl leer bleiben würde.
Ich fragte nach der Uhrzeit – halb elf –bat um die Rechnung und ging geradewegs in meine Pension, bemerkte nicht einmal, wie kalt es geworden war.
Am nächsten Morgen packte ich kurz entschlossen meine Sachen, wollte so schnell wie möglich abreisen und das letzte halbe Jahr vergessen.
Bei meiner Abreise war ich dann ganz durcheinander. Ich musste erst einmal meine Gedanken sortieren, zur Ruhe kommen.
Während meiner Heimreise wollte ich nicht an Maria denken, doch es gelang mir nicht.
Da ich mir aber auch nicht vorstellen konnte, dass ich jemals diese Frau richtig kennen lernen würde, beschloss ich dann letztlich doch, dieses Kapitel abzuschließen.
Daheim überlegte ich mir, ob ich umziehen und ganz vor vorne beginnen sollte. Ich malte mir schon in Gedanken die Wohnungseinrichtung aus und formulierte die Einladung an meine geschiedene Frau und meinen Sohn zur Einweihung.
Doch bei allen Überlegungen kam ich nicht sehr weit. Sie waren einfach unreif, nicht ausgegoren und auch absurd. Warum hatte ich es auf einmal so eilig?
Nach ein paar Wochen hatte ich nichts in die Tat umgesetzt. Ich schob es auf meine Arbeit, die mich fast auffraß. Oder wollte ich, dass sie mich auffraß?
Dann kam das Pfingstfest, ein für mich verlängertes Wochenende. Das war eine Katastrophe mittleren Ausmaßes. Was sollte ich mit der freien Zeit anfangen? Nach einem Kurzurlaub an der Ostsee stand mir nicht der Sinn, dachte nicht einmal daran. Schon das Wort „Urlaub“ endete bei mir bereits nach dem “U“.
Es war ein traumhaftes Wetter, was an Pfingsten ja selten vor kam. Ich war lange nicht mehr am Mummelsee. Dort war es zu dieser Jahreszeit noch nicht so bevölkert und ich fuhr hinauf. Ach, war es dort schön! Ich verbrachte den Nachmittag lesend auf einer Bank. Ich genoss die erwachende Natur nach dem langen Winter und das satte Grün des Waldbodens, dessen Moos bis an meine Füße reichte. Das Wasser des Sees war so klar und rein - noch...
Das Wochenende verging Widererwarten recht schnell und auch die nächsten Wochen und Monate. Ich war wieder in meiner Welt und alles schien in bester Ordnung zu sein.
In Ordnung? Nichts war in Ordnung!
Mich begleitete ein Gedanke, der mir sagen wollte: Da war doch was! Ich hatte mir so unendlich viel Mühe gegeben, diesen Gedanken zu verdrängen. Doch langsam nervte er einfach.
Nein, das Thema ist abgeschlossen und damit fertig! Ich wusste ganz genau, dass ich mir etwas vormachte, doch ich wollte diese Tür nicht mehr öffnen, ich drehte den Riegel zur Sicherheit noch einmal herum.
*****
Während Lars seiner Arbeit nachging, in der er sich immer mehr vergrub, ging der Sommer abermals zu Ende.

In dem kleinen Ort am Meer wurde es still. Die Saison verblasste und das lebhafte Treiben verstummte. Selbst die Möwen kreischten etwas leiser.
Maria hatte nie wieder ihre Bank aufgesucht, ging, wenn überhaupt, sehr schnell an ihr vorbei, als hätte sie etwas an sich, dass sie sich nicht erklären konnte. In dem kleinen Dünen-Café war sie auch nie wieder zu Gast.
Maria hatte den warmen Frühlingsabend nicht vergessen:
Sie stand vor dem Spiegel und hatte sich richtig schick zurecht gemacht. Ihre Tochter verhalf ihr schon am Nachmittag zu einer festlichen Frisur. Maria sah einfach hinreißend aus. Sie betrachtete sich von allen Seiten, war mit sich zufrieden und schien allen Kummer, der sie lange Zeit begleitete, vergessen zu haben. Ihre Aufregung konnte sie gut verbergen. Maria trat an das Fenster, sie konnte auf der gegenüberliegenden Seite genau auf den kleinen, beschaulichen Friedhof des Ortes schauen. Bis vor ein paar Jahren hatte sie diese Aussicht nie gestört, nicht so berührt, bis ihr Mann durch einen Unfall verstarb.
Maria hätte nicht aus dem Fenster schauen sollen, denn sie hatte plötzlich Zweifel, ob das, was sie vor hatte, richtig sei.
Maria verließ an diesem Abend das Haus nicht mehr.
Am nächsten Morgen packte sie ein paar Sachen zusammen und fuhr zu ihren Sohn in den Schwarzwald, wo sie ein paar Tage verbringen wollte. Sie musste einen klaren Kopf bekommen, denn dass es so nicht weiter gehen konnte, war ihr inzwischen bewusst.
Diese kleine Reise tat ihr auch sehr gut.
Wieder daheim, begann der Alltag, so wie er für Maria seit Jahren aussah. Sie hatte ein dickes Schloss um das im Frühjahr Erlebte gehängt. Doch dieses Schloss rüttelte oft, manchmal schepperte es sogar. Maria trat dann immer an das Fenster und schaute auf den Friedhof hinaus.
Maria konnte inzwischen mit ihrer Tochter über Dinge sprechen, die sie früher nie gesagt hätte. Auf Zuraten ihrer Kinder fasste Maria den
Entschluss, ihre Vergangenheit zu verlassen und zu ihrem Sohn zu
ziehen. Diesen setzte sie dann auch sehr schnell, fast überstürzt, in die Tat um. Während der Umzugszeit schaute sie nicht ein einziges Mal aus dem Fenster. Sie fürchtete sich davor, als könnte ein Blick in Richtung Friedhof genügen und sie machte einen Rückzieher.

Maria hatte sich sehr schnell im Schwarzwald eingelebt, hatte eine Halbtagsarbeit in der Firma ihres Sohnes und ihr war, als wäre sie zu neuem Leben erwacht. Zu Hause warteten stets zwei quirlige Enkelkinder, die die Großmamá regelrecht für sich einnahmen.
Das Jahr ging seinem Ende zu und Weihnachten stand vor der Tür. Maria konnte den Wunsch ihrer Enkel, den Weihnachtsmarkt zu besuchen, nicht abschlagen.
Es war ein kleiner sehr gemütlicher Weihnachtsmarkt, mit richtiger Weihnachtsmusik. Nicht so ein riesengroßer, auf dem man vor Menschenmassen nicht treten konnte und auf dem laute, moderne Musik erschallte. Wirklich schön aber war, dass es schon ein paar Tage lang schneite. Die Enkelkinder saßen lachend in einem Karussell und Maria schaute auf die weißen Flocken, lauschte der weihnachtlichen Musik. Für einen Moment sah und hörte sie nichts Anderes. Sie atmete förmlich diesen Moment der Seligkeit ein.
Ihr Blick schweifte dann zu den umliegenden Ständen und traf auf einen Mann, der mit einem Glühwein in den Händen ziemlich frierend ausschaute. Ihr Blick erstarrte, ihr Gesicht versteinerte, wurde ganz weiß.
„Oma, Oma, da sind wir wieder. Können wir noch einmal fahren?“ Maria hörte ihre Enkel nicht. Sie war wie betäubt und glaubte, dass das, was sie sah, nicht wahr sein konnte. Das durfte einfach nicht sein!
Wie aus einem Traum gerissen drehte sie sich abrupt herum: „ Was habt Ihr gesagt? Entschuldigt, Oma hatte eben wohl geträumt.“
Maria spazierte immer den Wünschen der Kinder hinterher. Aber so richtig konnte sie das alles nicht mehr genießen. Sie wagte es auch nicht, sich noch einmal umzudrehen.
Während sie den Kindern Zuckerwatte reichte und gerade dabei war, das Portmonaie wieder in die Tasche zu stecken, erschrak sie. Neben ihr stand jener Mann, jetzt ohne Glühwein und steckte ihr lächelnd einen Zettel in die Tasche.
Maria sah in seine Augen und wusste, dass sie kein Trugbild gesehen hatte. Noch ehe sie einen klaren Gedanken fassen konnte, war dieser Mann den Lichtern des Weihnachtsmarktes entschwunden.
Erst zu Hause las sie diesen Zettel: „ Danke für die Einladung im letzten Frühjahr, Roman“ und darunter stand eine Telefonnummer.
***
Nach meinem Bummel auf dem Weihnachtsmarkt saß ich in meiner kleinen Wohnung und starrte vor mich hin. Die bewusste Tür hatte sich geöffnet. Diese verfluchte Tür! Und das hier! Hier, weit ab von dem kleinen Ostseestädtchen. Das konnte doch alles nicht wahr sein, das war doch einfach nur ein billiger Groschenroman. Das glaubte mir doch kein Mensch.
Da waren sie wieder, die Bilder vom Strand, den Dünen, der Bank und dem Café. Und – und von Maria.
Fassungslos erblickte ich sie auf dem Weihnachtsmarkt, umhüllt von tanzenden Schneeflocken und funkelnden Lichtern und glaubte, meinen Augen nicht zu trauen.
Danach ging alles so rasend schnell. Ich bat am Glühweinstand um einen Zettel und einen Stift, schrieb ein paar Worte, meinen Namen und meine Telefonnummer darauf.
Dann lief ich kreuz und quer zwischen all den Buden und Karussells entlang und suchte nach Maria. Es gelang mir, wortlos den Zettel in ihre Tasche zu stecken. Ich wagte nicht, sie anzusprechen, ich wagte es nicht, stehen zu bleiben. Ein langer Blick in ihre Augen und ich machte mich auf dem Heimweg.
Ich wagte es dann aber, auf ihren Anruf zu hoffen. Doch mehr Gedanken wollte ich mir nicht machen. Zu schwer war die Enttäuschung vor über einem halben Jahr.
*****
Endlich wieder Sommer!
Maria und ich saßen in einem Strandkorb, nahe den Dünen. Das Meer rauschte, der blaue Himmel zeigte Schäfchenwolken und die Sonne strahlte.
Maria war in meinen Armen eingeschlafen und ich schaute verträumt in die unendlich scheinende Ferne.
Der Tag neigte sich seinem Ende und ich wusste, dass das Leben schön sein kann und wir noch ganz viele dieser Tage erleben würden.
An einem von ihnen, am dem wohl wichtigsten in Marias Leben, standen wir mit einem Blumenstrauß auf dem kleinen Friedhof.

 

Hallo Meike!

Das ist eine wunderschöne Geschichte, fast schon ein Märchen. Ich habe die Personen fast vor mir gesehen, den Strand, das Café, die Touristen.

Sehr gerne gelesen. Vielen Dank!

Schöne Grüße,

yours

 

Heyda!

Fast wäre ich gestolpert, denn mein leichtes Schuhwerk, falls man meine Latschen als Solches bezeichnen kann...
Meintest du nicht eher, dass er zwar stolpert, aber nicht umfällt?
weichenStrandsand
An einigen Stellen, wahrscheinlich durch die Verschiebung deines Textes aus deinem Schreibdokument ins kg.de Fenster, sind Abstände, Absätze verloren gegangen oder auch an falschen Stellen entstanden.
In diesem Jahr hatte ich mir den Urlaub redlich verdient, obwohl ich öfter hier her, an die Ostsee, fahre.
Der Satz ist nicht so flüssig, wie es deine meisten anderen Sätze sind. Zudem sehe ich den Grund für das "obwohl" nicht ein: Sollte die Tatsache, dass er öfters an die Ostsee fährt, dagegen sprechen, dass er sich den Urlaub in diesem Jahr verdient hat?
Fisch stand natürlich an erster Stelle. So frisch bekam ich diesen nicht sobald wieder.
Klänge "... sobald nicht wieder" nicht schöner? Ausserdem würde ich den ersten Satz "An erster Stelle stand natürlich Fisch" schreiben. Dann gingen, immer nur mMn, die Sätze schöner ineinander über.
Augen und siesagte fast unhörbar
Da ist das andere zusammengewachsene Wort, dass ich gefunden habe.
Nun saß i c h dort und schaute ins scheinbar Unendliche.
Zur Hervorhebung würde ich die Kursivschreibweise bevorziehen, weil dabei das Ich nicht sozusagen in drei "Worte" aufgetrennt werden muss. Keine Kritik und auch nicht im direkten Zusammenhang zur Geschichte Folgendes: An dieser Stelle hatte ich irgendwie eine ganz andere, eigne Vorstellung von einem möglichen Weitergang der Geschichte. Ich dachte an eine ewige Wiederholung der Szene, mit jeweils immer einer neuen Person. Die, die schon da ist, trauert derjenigen des letzten Jahres nach, während die nächste kommt. Daher danke für die Inspiration.
Im Leben gib es ja viele Zufälle
gibT
Ein gutes Zeichen für eine Geschichte ist es, wenn der Leser beim Lesen mitdenkt und versucht, sich vorzustellen, was kommen mag. Das spricht einerseits dafür, dass sie nicht allzu vorhersehbar ist und anderseits dafür, dass sie spannend erzählt wird. Das trifft hier zu. An der Stelle, an der der Prot. Maria mit den Kinder sieht, philosophierte ich über den Grund ihrer vorjährigen Trauer, ihres "Schade" und kam auf die seltsame Idee, dass sie ebenfalls eine Trennung hinter sich hatte und der Protagonist als Anwalt den Fall hatte mitbehandeln müssen.
Nach einem Spaziergang betrat ich in meine Pension
Das "be-" oder das "in" musst du streichen.
Egal, Jeans, blaues Hemd, es war ja warm, fast noch Sommer. Ach ja, etwas After- Shave konnte nicht schaden.
Und an dieser Stelle erwartete ich ein weiteres "Schade" ihrerseits, enttäuscht darüber, ihn nicht so zu sehen, wie am Strand, sondern "schick".
Schon das Wort „Urlaub“ endete bei mir bereits nach dem “U“.
Der gefällt mir sehr gut!
Ich wusste ganz genau, dass ich mir etwas vormachte, doch ich wollte diese Tür nicht mehr öffnen, ich drehte den Riegel zur Sicherheit noch einmal herum.
Gefällt mir auch.

Ganz allgemein zum Stil: Ich weiss nicht, ob mir der Text stilistisch nach dem Start, etwa dem ersten Fünftel, besser gefiel, oder ob er inhaltlich so packend wurde, dass ich ihn mir besser einbildete. Glaube jedoch, ersteres ist der Fall. Im Mittelteil habe ich am meisten schöne Sätze entdeckt.

Maria den Entschluss, ihre Vergangenheit zu verlassen und zu ihren Sohn zu ziehen. Dieses setzte sie dann auch sehr schnell, fast überstürzt, in die Tat um.
"...zu ihreM Sohn". / Beginn des zweiten Satzes müsste mE dann mit Dies (wenn's sich auf "Vergangenheit zu verlassen ... Sohn zu ziehen" bezieht) oder Diesen (wenn's sich auf "Entschluss" bezieht).
Das darf durfte einfach nicht sein!
darf/durfte - das sind die Art Fehler, die einem selbst oft entgleiten, doch irgend ein durchschnittlicher Probeleser sähe sie rasch.
Portmonee
Wenn das keine Sünde ist! Verlangt die neue Rechtschreibung es so? Ich glaube es ist fakultativ und es darf weiterhin „Portemonnaie“ sein. Nicht, dass ich dir korrekte Rechtschreibung verbieten dürfte, aber wenn ich es könnte, würde ich es in diesem Falle tun.
Ich wagte es dann aber, auf ihren Anruf zu hoffen.
"Hoffnung wagen" ist nicht erst seit Barack Obamas Buch eine schöne Kombination.
Der Tag neigte sich seinem Ende
-zu?

Deine Geschichte hat mir gut gefallen. Besonders aufgrund der Art der Annäherung deiner beiden Figuren. So vorsichtig, so scheinbar geduldig, so berührungslos. Stilistisch gibt's auch nicht viel zu bemängeln, obwohl ich im einen oder anderen Satz die Satzstellung geändert und die Prioritäten anderen Wörtern verliehen hätte. Mit wenigen sorgfältigen Details gelingt dir der Aufbau der Meeresstimmung. Kompliment diesbezüglich!
Die Hauptfigur schien mir sehr glaubwürdig. Die Entlüftung des Grundes für die Trauer der Frau geschah mE genau im richtigen Moment und fast auf die richtige Weise. Fast? Ich hätte das "Show" etwas ausgeführt und das "Tell" zurückgehalten. So hätte ich etwa auf die Erwähnung des Unfalls und des Versterbens des Mannes verzichtet und nur von ihrer Berührung beim Anblick des Friedhofs erzählt. Es ist schöner, wenn der Leser es spürt, als wenn er es hört.
Aber eben, insgesamt hat mich deine Geschichte gut unterhalten, selbst zu dieser trägen Mittagszeit.

Freundliche Grüsse,

VanH

 

Hallo Yours truly und hallo Heyda,
ich danke für Eure Aufmerksamkeit und die Mühe des Lesens meiner nicht allzu kurzen Kurzgeschichte. ;-)
Die Hinweise nehme ich dankend an und werde dann Einiges korrigieren. In der Tat hat das Einfügen bei KG sein Übriges getan und meine Flüchtigkeitsfehler sind auch nach einhundert- maligem Lesen noch zu finden.
Ich freue mich aber, dass Euch meine Geschichte gefiel, sie ist die erste ihrer Art, habe mich sonst mit Kindergeschichten befasst.
Ganz besonders freue ich mich, dass sie nicht als „Bastai“- Roman-Kitsch verurteilt wurde.
Ausgangsidee war, der 50+ - Generation zu sagen: Es ist nie zu spät!
LG, Meike

 

Hallo Meike,
da fühle ich mich ja ganz persönlich angesprochen! Deine Geschichte gefällt mir bedingt, an einigen Stellen ist sie sehr holperig und man wird aus dem Erzählfluß rauskatapultiert oder unnütz irritiert.
"..weicher Strandsand.." (finde ich doppelt gemoppelt)
"..kam ein verschmitztes Lächeln in meine Mundwinkel.." (schwierig, sich selbst zu beobachten, aber "..stahl sich ein.." wäre besser gewesen)
"..ihr Gesicht zeigte keine Züge, in denen man lesen konnte.." (auch viel zu umständlich, diese Passivform)
Überprüf den Text einfach noch einmal auf solche Lesehindernisse, ich finde auch, dass die erzählenden, kurzen Einschübe gar nicht nötig sind. Viel Erfolg und Spaß.
LG,
Jutta

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Jutta,
danke auch Dir für Deine Kritik, kann jedoch nicht in jeden Punkt Deiner Meinung sein. Ich werde aber auf jeden Fall darüber nachdenken!
Die Geschichte ist eigentlich in drei „Abschnitte“ aufgeteilt. Den ersten erzählt die handelnde männliche Person, dann übernimmt ein Erzähler (vielleicht ist das ja ein Fehler???) und den dritten Teil wieder die männliche Person.
Es wäre sehr hilfreich, mir ein Beispiel zu geben, wann man „aus dem Erzählfluß rauskatapultiert“ wird.
LG, Meike
P.S. Strandsand kann auch sehr hart und steinig sein. Ich wohne am Wasser und kenne die Unterschiede ganz genau. Einen herrlichen, weichen Sand findet man z.B. in Warnemünde.

 

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