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Me And Bobby McGee

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24.06.2001
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Me And Bobby McGee

Me And Bobby McGee

Das grelle, bunte Neonlicht flackert. Immer und immer wieder, in einem nicht enden wollenden Rhythmus. Die Röhren sind alt, verbraucht. Zu dem Flackern gesellt sich ein Geräusch. Ein helles Summen. Strom, der irgendwo ins Leere fließt. Die Kabel der Leuchtreklame sind genauso alt wie die Röhren. Oder noch älter. Aber so genau weiß das niemand.
Das Summen ist sogar im Gastraum der etwas heruntergekommenen Raststätte zu hören. Die Türen stehen offen, damit jetzt, am Abend, etwas frische Luft hineinkommt und die Hitze des Tages vertreibt. Ein Wunschtraum. Statt Kühle kommen Insekten. Die Sonne malt sich noch rot über einem kleinen Hügel ab. Schon ist es finster, aber noch nicht richtig dunkel. Dennoch fühlen sich die Mücken vom Licht der Raststätte angezogen. Oder von ihrem Geruch.
Der Gestank von abgestandenem Bier, altem Schweiß und Nikotin zieht einer dichten Wolke gleich über den Köpfen der anwesenden Gäste dahin. Aber wer hier sitzt, den interessiert es nicht mehr. Es ist eine kleine Raststätte irgendwo in Texas. Nicht weit von Waco und auch nicht allzu entfernt von Dallas. Der Highway zieht sich wie ein schmutziges Band durch die Landschaft, weckt Fernweh und den Wunsch, auf der Straße einfach dahinzufahren. Ohne Ziel, ohne Gestern und ohne Morgen. Fahren, bis der Sprit alle ist und der Durst die Kehle austrocknet.
Aus der Jukebox dröhnt Music. Me And Bobby McGee von Roger Miller. Was ist gegen das Original einzuwenden? Wahrscheinlich nur, dass Janis Joplin keine Countrymusic machte.
Was tue ich eigentlich hier? Die Frage beschäftigt mich schon seit zwei Stunden. Das trübe Bier in einem fast sauberen Glas gibt mir darauf auch keine Antwort. Ich starre den Schaum an. Schaum? Nein. Die dünne, weiße Schicht, die da auf dem Budweiser schwimmt, kann man kaum guten Gewissens als Schaum bezeichnen. Es ist eine dünne, weiße Schicht. Nicht mehr.
Ist dies der Urlaub, den ich mir vorgestellt hatte? Vier Wochen kreuz und quer durch die Staaten, fern von dem biederen, streng genormten Deutschland.
Freiheit. Ja, das ist es, was ich gesucht habe. Gefunden? Nein, nicht wirklich. Freedom’s just another word for nothing left to lose. Vor der Tür steht mein Leihwagen. Ein Ford, wie ich ihn auch daheim fahre. Vier Türen für Frau und Kinder, ein großer Kofferraum. Familienkutsche. Familienkutsche für einen Familienvater.
Das Bier ist nicht mehr kalt, will nicht so recht die Kehle hinunter. Aber es muss. Meine Familie sitzt in Waco in einem Hotel. Streit mit der Frau. Wieder einmal. Schon der dritte in vier Tagen. Wir sehen uns 24 Stunden am Tag. Anders als zu Hause. Dort arbeitet man acht Stunden, ist eine Stunde unterwegs, dann noch einkaufen. Was am Abend bleibt, sind drei, vielleicht vier Stunden, die man für sich hat. Sex zweimal die Woche, als Pflichtübung abgehandelt. Die Erotik ging schon vor fünf Jahren. Das war kurz nachdem unser zweiter Sohn geboren wurde. Vielleicht hätte auch ich gehen sollen. Wer weiß. Jetzt ist es zu spät. Die Lethargie der Gewohnheit hat uns eingeholt. Was bleibt, sind dumme Streitereien, nur darauf aus, den anderen zu verletzen. Keine Gewinner, keine Verlierer. Emotionslos geführt, immer nach den gleichen Regeln. Eingeengt. Ja, das ist es. Die Familie nimmt mir die kreativen Freiräume. Scheiße.
Das Bier drückt. Ich verlasse meinen Platz an der Bar, gehe durch eine schwingende Holztür. Dahinter ein Flur. Bröckelnder Putz an den Wänden, ehemals weiß getüncht. Nikotin und Staub haben die Farbe grau werden lassen.
Der Klo ist genauso schmutzig wie alles. Eine lange Rinne aus Emaile, teils rissig und mit gelben Rückständen übersäht, nimmt auf, was die Blase zu bieten hat. Dahinter drei Kabinen für jene, die noch andere Bedürfnisse haben. Ein Waschbecken, kaltes Wasser und Papierhandtücher komplettieren die Einrichtung. Schlimmer aber als der Schmutz auf dem Boden ist der Geruch. Es scheint, als sei der Abfluss verstopft. Es dauert ewig, bis der gelbe Bach, den ich hinterlassen habe, versickert. Er mischt sich wahrscheinlich mit den Überresten meiner Vorgänger und erzeugt so den Gestank. Die Hitze, die sich noch immer zwischen den Wänden hält, tut ihr Übriges. Ein Fenster, unerreichbar hoch und nur gekippt, kann da auch keine Erleichterung bieten.
Als ich zurückkomme, ist der dickbäuchige Besitzer der Raststätte verschwunden. An seiner Stelle steht eine Frau hinter der Theke. Sie sieht gut aus. Blonde Haare, ordentlich was in der Bluse und ein herbes Gesicht. Eine Middle-West-Queen, wie man solche Frauen hier nennt. Typ Dolly Parton.
Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl, bestelle ein weiteres Bier. Schon das Vierte. Aber es ist nicht so stark wie das Deutsche, man kann einiges davon vertragen.
Blaue Augen mustern mich. Dazu Geklimper mit den Brauen. Gefalle ich ihr? Keine Ahnung. Sie stellt den Krug mit Gerstensaft vor mich und wendet sich einem Stammkunden zu, der wieder einmal auf den Boden ko...
Schimpfend nimmt sie einen Lappen, wischt den Schmodder auf.
Ich betrachte ihren Po. Er steckt in einer engen Jeans. Darunter zeichnet sich ein schmaler Slip ab. Ihre Beine enden dort, wo die braunen Stiefel beginnen. Alles in allem ist sie auf ihre Art sexy. Nicht so wie die Girls am Venice Beach. Jung, verspielt, aufreizend und künstlich. Nein, sie ist ehrlicher, natürlicher. Keine Implantate, die ihren Busen vergrößern und keine Diät, mit der sie jedem noch so kleinen Fünkchen Fett zu Leibe rückt. Sie ist, wie sie ist. Da fallen die paar Pfunde, welche ihre Hüften überdecken, kaum ins Gewicht.
Wie alt mag sie sein? Vierzig? Nein, noch nicht. Fünfunddreißig. Höchstens. Während ich an meinem Bier nippe, beendete sie die Wischaktion und kehrt zurück hinter den Tresen. Wieder schauen wir uns kurz an. Mag sie deutsche Männer? Oder sieht sie in mir nur einen Gast? Nein, denn wir fangen an zu plaudern. Mary heißt sie. Wer hätte das gedacht. Im Grunde ist es kein Plaudern, sondern eine mehr einseitige Sache. Ich rede, sie hört zu. Von meiner Frau erzähle ich, und von meinem Job, der mir alles abverlangt. Die Computerbranche schläft nicht, und als Programmierer muss man immer oben auf sein.
Dann berichte ich von den Kindern. Davon, dass mein Ältester das Klassenziel knapp verfehlt hat und deshalb sitzen geblieben ist. Und von den Nöten des Fünfjährigen, der im Kindergarten ausgelacht wird, weil er die Teletubbies mag. Dinge, mit denen sich meine Frau den ganzen Tag rumschlägt. Warum erscheinen sie mir so gewaltig? Weil ich ganz in meinem Job aufgehe und längst den Bezug zu Heim und Familie verloren habe? Ist es nicht so, dass mir mein Beruf wichtiger ist als die Sorgen und Ängste meiner Kinder? Wochenendausflüge können nicht ausgleichen, was ich unter der Woche versäume.
Nach einer halben Stunde wird mir bewusst, dass ich mich zum Narren mache und halte die Klappe. Mary hat mir zugehört, ohne mich zu unterbrechen. Vielleicht hat sie nicht alles verstanden. Mein Englisch ist nicht besonders gut.
Als ich Schweige, beginnt sie zu erzählen. Von ihrem Job, den sie macht, weil ihr Mann sie verlassen hat. Die Kinder waren gerade zwei und vier, als er ging. Freiräume suchen und so etwas.
Mary erzählt auch von den Typen, die hier rumhängen und sie anbaggern. Von der Einsamkeit, die sie empfindet und davon, dass sie alles dafür geben würde, wenn sie ihren Sohn aufs Kollege schicken könnte.
Ich höre zu und merke, wie bekannt mir das vorkommt. Wollte nicht auch ich meine Frau verlassen, weil ich mich eingeengt fühlte? Noch vor einer Stunde bedauerte ich, es nicht getan zu haben. Ich sehe die Dinge plötzlich aus der Sicht einer Frau, übertrage sie auf meine Familie. Und komme mir schäbig vor.
Mary erzählt weiter. Ich lerne ihre Geschichte kennen. Ihre Eltern, die sie stets vor dem Typen gewarnt hatten und drüben in New Mexiko eine Farm betreiben. Und von ihren Plänen, irgendwann alles hinzuschmeißen und nach Los Angeles zu gehen. California here I come. Es sind Träume, dass weiß sie, und genauso weiß sie, dass es immer Träume bleiben werden. Ihr Schicksal ist es, hier Bier zu zapfen und die Ko... von Stammgästen aufzuwischen.
Mary schweigt, als ihr klar wird, dass auch sie sich zum Narren macht. Wir schauen uns an, und irgendwie ist da ein Band zwischen uns. Unausgesprochen, unsichtbar und doch greifbar. Längst bin ich der einzige Gast, hat sich die Sonne gänzlich hinter dem Hügel vergraben. Noch immer strömen Insekten herein. Die Tür steht offen, das Licht brennt. Jede Kreatur tut, was ihr die Natur befohlen hat zu tun. Mücken und Motten folgen dem Licht, und Menschen ...
Ich gehe rüber zur Jukebox. Da ist es. Janis Joplin. Ich werfe einen Dime ein, drücke das Lied gleich zweimal. Es erinnert mich an meine Zeit im Stadtpark von Frankfurt. Als die Jugend noch Blumen in den Haaren trug und sich gegen das Establishment auflehnte. In Vietnam Neunzehnjährige starben und wir gegen den Schah von Persien demonstrierten. Damals waren wir zum letzten mal frei.
Freedom is just another word for nothing left to lose,
Nothing don’t mean nothing honey if it ain’t free, now now.
And feeling good was easy, Lord, when he sang the blues,
You know feeling good was good enough for me,
Good enough for me and my Bobby McGee.
Als der Refrain kommt, singen wir beide mit und als das Lied zum zweiten mal beginnt, tanzen wir. Im Grunde ist die Melodie nicht tanzbar, aber wen stört das. Wir haben uns an diesem Abend gefunden und wissen, dass es nur diesen einen Abend gibt. Keine Weiderholung.
Ich spüre ihre Rundungen. Sie drücken sich an meine Brust. Dazu ihr dezentes Parfüm. Irgendwie riecht es nach Rosen. Ihre Lippen sind weich und schmecken etwas nach Whisky.
Irgendwann in der Nacht kehre ich zurück in das kleine Hotel. Meine Frau schläft bereits, schreckt aber hoch, als ich die Tür quietschend schließe. Ihr Blick mustert mich. Eine Minute, dann zwei. Sie weiß es. Sie weiß, dass ich sie an diesem Abend betrogen habe. Ich spüre, dass sie es weiß.
„War es schön?“, fragte sie nur. Kein Vorwurf. Keine Anklage. Nüchtern.
„Ja“, erwidere ich ebenso nüchtern.
„Wirst du sie wiedersehen?“. Noch immer kein Vorwurf.
„Nein.“
Wieder ein langer Blick, während ich mich neben sie lege. Schließlich halte ich ihm nicht mehr stand.
„Ich liebe dich.“ Mehr bringe ich nicht heraus.
„Ich weiß“, erwidert sie und legt ihren Kopf an meine Brust. Das ist alles, mehr sagt sie nicht mehr. Das Thema scheint erledigt. Vielleicht war es überfällig. Vielleicht hat auch sie mich schon einmal betrogen. Vielleicht war es ein Ausbruch, der die Perspektiven wieder ins rechte Licht gerückt hat. Für uns beide.
Während sie einschläft, denke ich an Mary. Ihren Körper, der sich unter meinen Stößen gebogen hat. An die Kratzer auf meinen Rücken, die ihre Fingernägel hinterlassen haben und an die Schreie, als die Lust über sie hereinbrach. Dann schaue ich meine Frau an. Sie ist schön. Trotz der Kinder, die sie geboren hat und trotz ihrer fast vierzig Jahre. Und mir wird klar, dass ich sie wirklich liebe. Mehr noch als vor ein paar Stunden. Trotz allem. Oder gerade deswegen.

Ende

 

Das ist eine von den "leisen Geschichten", die man immermal wieder gerne liest. Allerdings kann ich die Ehefrau nicht so ganz verstehen... Jeder Andere wäre da ausgerastet... Aber egal. Vermutlich ist das nur mein verkorkstes Bild von Treue... :D

Griasle
stephy

 

"Dazu Geklimper mit den Brauen." Du mußt mir mal zeigen, wie das geht... :D

Eine eindrucksvolle Geschichte, die behutsam alles beschreibt, was es so mit dem Eheleben nach dem ersten Rausch auf sich hat. Manchmal ist es wohl nötig, einen anderen Weg einzuschlagen, um zu erkennen, was man will und welche Werte für einen persönlich schwerer wiegen, der Thrill oder das Bekannte bzw. Geschätzte.

Dark Dreamer, diese Geschichte fand ich bisher am besten von Dir. Vielleicht ist es die Ehrlichkeit oder die Realität, die mir so gefällt. Well done!

 

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