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Mein Bruder
"Er"
Es war, als wäre ein Zacken aus meinen Leben herausgebrochen, woraufhin mein Leben in tausend Stücke zerfallen war. Der Zacken war sehr wichtig gewesen.
Bevor er gegangen war, hatte er gesagt: „Pass auf Mama und Papa auf.“, ganz so als habe er gewusst was passieren würde.
Ich lag auf meinem Bett und weinte. Wieso weinte ich überhaupt? Hatte er nicht gesagt, ich solle stark sein? Verdammt, ich wollte nicht stark sein. Ich wollte getröstet werden und nicht trösten. Er hatte gut reden. Er war ja fort. Für immer, er musste nicht Mamas Besäufnisse und Papas Flucht in die Arbeit nicht mehr ertragen. Ihn hatte es auch fertig gemacht, zu sehen wie Mama wegen ihm abgerutscht war. Aber er hatte es ja nicht lange ertragen müssen. 2 Monate, dann war er gegangen.
Ich stand auf und wischte meine Tränen fort. Entschlossen, nicht mehr zu weinen und stark zu sein, so wie er gesagt hatte, öffnete ich meine Tür. Der Fernseher dröhnte aus dem Wohnzimmer zu mir nach oben. Ich ging die Treppe hinunter und fragte zaghaft: „Papa?“ „Dersnochnichtda“, lallte mir meine Mutter entgegen. Klar, wie konnte ich nur glauben, dass er an einem Samstagabend schon um 23 Uhr aus dem Büro zurück wäre. Wie bescheuert von mir. Ich betrachtete meine Mutter, wie sie dort so saß. Auf dem Sofa, von Bierdosen umgeben und mit einer Wodkaflasche im Arm. Früher, bevor er gegangen war, war meine Mutter einmal eine hübsche und gepflegte Frau gewesen. Nun war ihre Haut bleich und fettig, ebenso wie ihre Haare. Der ständige Alkoholrausch hatte Spuren an ihr hinterlassen. Ihre Augen waren matt und ihr Gesicht in sich zusammen gefallen. Sie war um zehn Jahre gealtert, seit er fort war. Ihr dreckiger Jogginganzug hatte auch schon länger keine Waschmaschine gesehen. Ihr neues Daueroutfit. Ich sah mich in der Wohnung um. In der Küche stand das abzuwaschende Geschirr von drei Wochen, der Boden klebte und ich wollte gar nicht wissen was ihn so pappig machte. Das ging schon länger so. Es war ja nicht so, dass er von heut auf morgen gegangen war. Es hatte schon begonnen als er sogar noch da war. Der Zerfall meiner Familie. Jetzt waren wir keine Familie mehr. Jetzt waren wir Vater, Mutter und Kind. Jeder für sich alleine. Jeder musste schauen das er seinen Alltag überlebte. Jeder aus Seine Weiße. Ich ging zurück in das Wohnzimmer sah meine Mutter an. Sie bemerkte nicht einmal meine Anwesenheit. Und da bekam ich eine riesige Wut. Klar war er weg. Klar waren wir alle traurig, aber was war denn mit mir?
Ich wollte keine versoffene und ungepflegte Mutter, keinen übereifrigen Vater, für den es nur noch seine Arbeit existierte. Keine Wohnung, in der sich der Dreck bis zur Decke stapelte.
Und alles nur seinetwegen. Alles nur weil er gegangen war, woraufhin alles zusammen gebrochen war. „Er“ war mein zwölf jähriger Bruder der vor einem Monat an Leukämie gestorben war.
Ich ging zurück auf mein Zimmer um Englisch zu lernen. Und um meinen Alltag zu überleben. Alleine. So wie wir es alle taten. Vater, Mutter und Kind.