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Mein erstes Taschenmesser
Phil hörte laute Stimmen, als er an dem Garten seiner Nachbarn vorbeischlenderte. Der Lehrer hatte heute in der Schule eine Arbeit zurückgegeben, bei welcher Phil als einer der drei besten Schüler der Klasse abgeschnitten hatte. Daher war er gut gelaunt und selbstsicher, er nahm sich sogar vor, heute Abend zum Sport zu gehen, obwohl er das seit Ewigkeiten nicht getan hatte. Er klingelte bei den Dawsons, um zu erfragen, ob alles in bester Ordnung sei. Mr Dawson öffnete, er hatte ein Klappmesser in der Hand, welches er zusammenklappte.
"Hallo Phil."
"Hi Mr Dawson. Ich wollte fragen, ob bei Ihnen alles in bester Ordnung ist. Ich habe Schreie oder so etwas Ähnliches gehört."
"Hier bei uns? Nein, hier schreit niemand. Aber komm doch rein."
Sie gingen durch den Flur in die Wohnküche.
"Hi Mrs Dawson. Alles in bester Ordnung?"
"Aber klar. Wie geht's dir, Phil?"
Sie hatte verweinte Augen, aber sie lächelte und sie hatte eine Tüte Marshmallows in der Hand! -
"Mir geht es sehr gut, Mrs Dawson. Kann ich ein paar Marshmallows haben?"
Sie nahm eine große Handvoll aus der Tüte und reichte sie ihm. Er stopfte sich die Hälfte gleich in den Mund. Dann glotzte er erstaunt in seine Hand, in welcher die restlichen Süßigkeiten lagen. Er nuschelte:
"Rot. Die sind da ja ..."
Er verschluckte sich und hustete. Mr Dawson trat heran und klopfte ihm auf den Rücken. Seine Frau fragte erstaunt:
"Alles in bester Ordnung, Philly? Was wolltest du sagen?"
Er atmete durch.
"Da ist Blut dran. Igitt. Hier an den guten Marshmallows!"
Er öffnete seine dicke Hand, so dass der Rattenspeck auf den Küchentisch fiel.
"Du hast Recht ...", antwortete Mrs Dawson, während ihr Mann zur Spüle ging, das Klappmesser aufklappte und die Klinge unter dem fließenden Wasser schwenkte.
"... Ich muss mich geschnitten haben. - Ja, hier, schau!"
"Das sieht aber böse aus."
Phil grapschte noch Marshmallows vom Küchentisch und aß sie.
"Ach, halb so schlimm. Sag, wie geht's dir denn, Phil? Wie war die Schule?"
"Heute war's toll. Der Mr Tinner hat die Aufsätze zurückgegeben. - Die Marshmallows kann man doch noch essen, die schmecken sogar gut! - Und ich war der Drittbeste. Der Drittbeste aus der ganzen Klasse."
"Das ist ja toll, Philly!"
Mr Dawson trocknete die Klinge mit einem Spültuch und klappte das Klappmesser wieder zusammen. Er wandte sich zu dem dicken Jungen und zeigte ihm das Schneideinstrument.
"Das ist sogar sehr gut Phil. Hast du schon ein Taschenmesser? Hier, das schenke ich dir, als Belohnung, dass du so gut abgeschnitten hast."
"Danke Mr Dawson. Und danke für die Marshmallows."
Phil stand auf und lief in Richtung des Flures.
"Jetzt weiß ich ja, dass bei ihnen alles in bester Ordnung ist. Ich muss schnell heim, es gibt Mittagessen."
Zu Hause hatte seine Mutter schon alles vorbereitet. Phil hatte guten Appetit, er aß tüchtig. Dann ging er hoch in sein Zimmer, um seine Hausaufgaben zu machen. Seine Mutter kam mit einem Korb voll frischer Wäsche in sein Zimmer.
"Mama! - Kannst du nicht ein Mal klopfen? Ich muss mich konzentrieren."
"Tut mir leid, Liebling. Ich bringe dir deine Wäsche."
Sie legte einige Kleidungsstücke auf sein Bett.
"Da ist ja heute ein Lärm und ein Geschrei bei den Dawsons. Wolltest du nicht zum Sport gehen? Es wird schon bald dunkel draußen."
"Na, Mama, lass mich. Ich muss noch diesen Aufsatz fertig schreiben. Vielleicht geh ich danach noch joggen. Und bei den Dawsons ist alles in bester Ordnung."
Er versenkte sich wieder in seine Schreiberei.
Eine Stunde später, als die Dämmerung schon eingesetzt hatte, zog Phil seine Sportschuhe an. Als er auf der Straße war, kam er wieder bei den Dawsons vorbei. Er wunderte sich über den Wagen in der Einfahrt, bei dem der Kofferraum offen stand. Da kam Mr Dawson heran, der einen großen, länglichen Plastiksack auf dem Rücken schleppte. Der Sack schleifte mit dem einen Ende über den Boden.
"Phil! Kannst du mir mal helfen?"
"Klar, Mr Dawson."
Phil packte das Ende der großen Plastiktüte und hievte es bis auf Hüfthöhe.
"Das ist aber schwer. Was haben Sie da drin?"
"Gartenabfälle."
Die Folie war ein wenig aufgerissen, genau da, wo Phil trug.
"Hier schaut eine Schuhsohle raus. Ist Ihnen da ein Schuh unter den Abfall geraten?"
"Das waren die Schuhe, die ich immer zu Gartenarbeit angezogen habe. Aber ich hab mir einen Nagel hineingetreten, jetzt benutze ich andere."
"Mr Dawson? - Warum laden Sie den Müll in Ihren Kofferraum?"
"Den fahr ich in den Wald. Ist ja nur Natur. Ich bring die Natur zurück zur Natur. Dann müssen wir für die Mülltonne nicht extra zahlen."
"Und warum stopfen Sie alles in einen großen Sack?"
"Damit ich beim Ausladen nicht so viel Arbeit habe."
"Dann ist ja alles in bester Ordnung."
Mr Dawson schlug den Kofferraum zu.
"Danke für deine Hilfe."
Phil war außer Atem vom Heben des schweren Gewichtes. Außerdem war es jetzt fast dunkel. Er lief wieder zurück zur heimatlichen Haustüre. Seine Mutter war nicht in der Küche, dafür fand er eine halbvolle Tüte - Marshmallows! Als er die Backen voll hatte, kam sein Vater von der Arbeit. Er winkte seinem Sohn.
"Hey Phil, wie geht's?"
"Hi Daddy. Bei mir ist alles in bester Ordnung!"
Phils Mutter kam aus dem Keller und gab ihrem Mann einen Begrüßungskuss.
"Also, ich glaube, ich sehe nicht recht! Wieso bist du denn schon wieder hier, Phil? Ich dachte, du wolltest endlich einmal joggen gehen."
"Mama! - Es ist doch schon dunkel."
"Na und? Schau dich doch mal in den Spiegel! Du nimmst ständig zu! Heute gehst du mindestens eine Stunde Sport machen, mein Sohn! Sonst gibt es die nächsten zwei Wochen keine Süßigkeiten!"
Er stieg die Treppe hinauf, in Richtung seines Zimmers.
"Wo gehst du denn hin? Nach draußen geht's da."
Sie deutete auf die Haustüre.
"Ich hol noch was. Ich geh ja gleich."
Eine halbe Stunde später schlenderte Phil durch den dunklen Wald. Am Anfang war er tatsächlich gejoggt, aber das Tempo hätte er nicht lange durchgehalten. Er hatte seine Hand in der Hosentasche fest um sein neues Taschenmesser geschlossen. Die Bäume zu beiden Seiten des Weges waren bedrohliche Schatten. Auf einmal hörte er es neben sich im Holz knacken. Er lief beharrlich weiter, aber in der kühlen Waldluft spürte er den Schweiß auf seiner Stirn. Er schwitzte aber doch wohl nur vor Anstrengung! Das Alter, in dem man Angst im Dunkeln empfand, hatte er hinter sich gelassen. Jawohl! Lautlos sagte er zu sich selbst:
"Ich mache Sport, also bin ich gut in Form. Ich bin jung und klug, Mr Tinner hat's gesagt, also brauche ich keine Angst zu haben. Wenn mir irgendjemand hier im Wald begegnet, dann sollte der Angst haben vor mir. Jawohl! Ich habe ein Klappmesser dabei. Ich bin stark! Ich bin gefährlich! Wuhaa!"
Dabei zog er das Messer aus der Tasche, klappte es rasch auf und fuchtelte damit durch die Nachtluft. Er machte sogar ein paar Kampfschritte, so wie diese schmächtigen Asiaten in schlecht synchronisierten Filmen.
Auf einmal war dieser Geruch in der Luft, der Geruch von frischer Erde. Und da sah er auch etwas. Ein paar Meter vom Weg entfernt stand ein schwarzer Umriss mitten im Wald. Er bückte sich und stand wieder auf. Immer wieder. Dabei gab es Geräusche, als ob kleine Steinchen einen Abhang hinabrollen.
Phil rief: "Hey! Was soll denn das hier werden?"
Der menschliche Schatten zuckte zusammen. Dann kam er auf Phil zu, wobei er knurrte und grummelte, wie ein böser Wolf. Er hatte wohl eine Schaufel in der Hand, was Phil für einen Augenblick im Mondlicht zu sehen glaubte. Der Umriss holte aus.
Phil beugte sich zur Seite, als der Mann mit der Schippe nach ihm schlug. Es traf ihn an der Hüfte und einen anderen Menschen hätte so ein Schlag wohl umgehauen, aber Phil war um die Hüfte sehr gut gepolstert.
"Du spinnst wohl, du Arsch, das tut weh!"
Nun hatte Phil glücklicherweise gerade sein nagelneues Taschenmesser in der Hand. Selbiges stach er einfach mitten in den feindseligen Schatten hinein, während er sich nach vorne fallen ließ. Seine Hüfte tat weh! - Er setzte sich wieder auf, indem er sich von dem weichen Waldboden hochstemmte. Der Umriss lag neben ihm und röchelte mit einer Stimme, welche Phil an Mr Dawson erinnerte, als der eine Lungenentzündung hatte:
"Das Messer? - Dann ist ja alles in bester Ordnung."