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Mein Pabba schläft
Alternativtitel: Mein Vater schläft
Ich hatte ihn nicht erkannt.
Der Arzt führte mich in ein Einzelzimmer auf der Intensivstation, in dem ein alter Mann lag, die wirren Haarsträhnen grau, die staubtrockene Gesichtshaut grau, seine Farbe verschmolz mit dem weißen Laken, unter dem sich ein kleiner Körper abzeichnete. Der Körper eines mageren Kindes. Es war klar, dass dieser Mann bald sterben würde. Er war schon halb drüben, nur die Schläuche aus den Maschinen, an die er angeschlossen war, hielten ihn noch fest. Er hatte einen Schlauch in der Halsschlagader, einen in der Armbeuge, ein Urinbeutel hing an einem Haken unter dem Bett; mehr konnte ich nicht sehen.
Ich drehte mich um zum Arzt und wollte fragen, wo denn nun mein Vater war, bis mir klar wurde, dass mein Vater vor mir lag und es das letzte Bild sein würde, das ich von ihm mitnehmen würde. Ich zögerte, wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte nicht hier sein.
Ich trat an das Bett und sprach ihn leise an. Ganz leise, aus Angst, ihn zu zerbrechen, wenn ich zu laut würde. Er war ganz weiß, als lägen feine Spinnenweben über ihm, als wäre er ganz eingesponnen. Er schien weit weg, in einer anderen Welt. Ich versuchte, ihn festzuhalten und nahm seine kalte und staubige Hand.
„Setzen Sie sich doch“, sagte der Arzt, als wären wir bei einem Kaffeeklatsch im Jenseits. Ich hatte Angst, aber ich wusste, dass es von mir erwartet wurde.
Ich setzte mich zu dem Fremden, der mein Vater war, und blickte ihn an. Sein Unterkiefer lag unnatürlich, nach unten gefallen, und gab den Blick frei in seinen zahnlosen Mund. So hatte ich ihn noch nie gesehen, und ich wusste, so sehen Menschen aus, die sterben. Der Tod hatte sich schon einen Teil geholt und war nur kurz weg, er würde wiederkommen und sich den Rest holen. Mein Vater lag auf der Schwelle und wartete. Er schaffte es nicht einmal, mich anzusehen.
Er hatte nicht gewollt, dass ich ihn besuche. Ich sollte nicht kommen, wir würden uns sehen, wenn er wieder gesund würde, hatte er gesagt. Nun sah ich ihn hier, wie er sich im Weiß auflöste.
Er versuchte sprechen.
„Ich wollte nicht, dass du mich so siehst“, presste er heraus. Es war ein heiseres Krächzen, das gequält seinen Weg zu mir suchte, aber ich verstand ihn. Eine Träne lief mir langsam die Wange entlang und tropfte auf seine Hand, die ich hielt.
„Nicht heulen“, sagte er. Es war ein merkwürdiger Moment. „Ich hab dich so furchtbar lieb“, flüsterte ich. Ich wusste, ich würde ihn nicht wieder sehen, und versuchte deshalb, alles zu speichern, was um mich herum geschah.
Wie ein Tourist, der auf seiner Reise alles fotografierte und so das Unmittelbare versäumte, weil er es die ganze Zeit durch den Kamerasucher sah. Ich verpasste das Sterben meines Vaters, obwohl ich daneben saß; streichelte seine Hand und registrierte durch mein Seelenglas alles, bis mir schwindelig wurde.
Ich hatte das Zeitgefühl verloren, wusste nicht, ob ich fünf Minuten oder eine Viertelstunde dort gesessen hatte.
Irgendwann stand ich auf und ging um das Bett herum. Ich streichelte die Stirn meines Vaters, gab ihm einen letzten Kuss und log: „Morgen komme ich wieder.“
Wir wussten beide, dass es eine Lüge war. Das Letzte, was ich zu meinem Vater sagte, war eine Lüge, und ich schämte mich dafür. Das hatte er nicht verdient, aber ich ging trotzdem, ohne mich noch einmal umzudrehen.