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Meine Schwester und ihr Freund
Fünf Meter sind es, die mich von meiner kleinen Schwester Rebecca und ihrem neuen Freund trennen. Ich kann sie in Gedanken in dem gemachten Bett auf der geblümten Decke sitzen und sich zärtlich küssen sehen. Vor einer halben Stunde sind sie an meiner offenen Zimmertür vorbeigegangen. Ihr Freund, sein Name ist Tarim, hat mich dümmlich angegrinst, wie es Jungs auf Partys tun, wenn sie kurz davor sind, ein Mädchen abzuschleppen. Ich sehe hinüber zum Wandspiegel, der neben meinem Kleiderschrank steht und versuche es nachzumachen: Den Mundwinkel leicht anziehen, dabei die Augen siegessicher hochziehen. Dann hat er noch ein kurzes, akzentloses „Hallo“ hinterher geschoben. Keine Antwort kam über meine Lippen, zu erstarrt war ich in diesem Augenblick wegen Tatsache, dass Rebecca ihren Freund von der Schule mit nach Hause bringt. Wie hübsch sie mich anlächelte, in ihrem knielangen, weißen Rock und der ins Haar geschobenen Sonnenbrille. Ich zittere. Hinter der Wand, die unsere Zimmer trennen, ist Tarim vermutlich dabei, ihr diesen Rock auszuziehen, so lange auf sie einzureden, bis sie mehr macht, als ihn nur auf den Mund zu küssen. Meine kleine Schwester, die dieses Frühjahr gerade einmal fünfzehn Jahre alt geworden ist, mit ihren blonden Locken und den verspielten Haarspangen, den Stofftieren in den Regalen und den Tierbildern an den Wänden.
Auf meinem Schreibtisch steht, an die Wand gelehnt, ein Bilderrahmen, den ich von Rebecca geschenkt bekommen habe. Sie hat alte Fotoalben für diese Collage durchstöbert und eine Bildergeschichte zusammengebastelt. Auf den meisten Fotos lacht sie in die Kamera hinein, während ich mein ernstes Gesicht halte. Tarim wird ihr dieses Lachen stehlen, ich weiß es genau. Er wird ihr all ihre Liebe nehmen und nachdem er sie sich genommen hat, wird sie anders sein, nicht mehr das kleine Mädchen auf den Fotos.
Plötzlich glaube ich, die beiden lachen zu hören. Ein trügerisches, falsches Lachen: ein angestrengtes Lachen, um eine anstrengende Situation zu überbrücken. Um es zu vergessen, ziehe ich mir den kabellosen Kopfhörer über und stelle die Musik laut, bis es in meinen Ohren zu dröhnen anfängt. Meine Gehörgänge fangen an zu schmerzen und es fühlt sich an, als würden winzig kleine Luftballons in meinem Kopf abwechselnd implodieren, dann explodieren. Meine rechte Hand ballt sich, ohne dass ich es wirklich will, zur Faust und meine Fingernägel graben wie Spatenstiche in meine Haut hinein. Als ich sie wieder öffne, sind dort vier rot schimmernde Striche in meinen Handteller hineingeritzt. Wieder ertönt dieses unnatürliche Lachen in meinem Kopf; trotz der auf Anschlag gestellten Musik kann ich es hören, als würden sie hier auf meinem Bett liegen. Dann schließe ich meine Augen und sehe Rebecca durch ein Meer von Luftballons laufen, aber sie zerplatzen nicht, wie jene in meinen Gehörgängen. Ich kann sie aufheben und nach ihr werfen. Sie fängt einen und lässt den Ballon geschickt auf ihrem Kopf tanzen.
„Fang“, schreit sie mir zu. Ich hechte und will ihn bekommen, aber schaffe es nicht. Meine Füße geben nach. Verzweifelt versuche ich wenigstens das Gleichgewicht zu halten, aber falle unsanft hin.
Ich schlage meine Augen auf und taste nach der Fernbedienung, um die Musikanlage auszuschalten. Die Musik verstummt, das Dröhnen in meinen Ohren nicht. Ich reiße mir den Hörer vom Kopf und werfe ihn in eine Zimmerecke. Dass ich etwas tun muss, weiß ich nun genau. Sie ist meine kleine Schwester und ich liebe sie. Ich darf unmöglich zulassen, dass ihr etwas geschieht, was sie nicht will. Ein tiefes Einatmen, ein Blick runter auf meine wieder geballte Faust, dann stehe ich auf, fühle den Stuhl unruhig hin und her drehen und nähere mich der Zimmertür.
Wie oft bin ich als kleiner Junge abends diesen Weg über den Flur gegangen, um nach Rebecca zu schauen? Es machte mich immer so fröhlich, sie schlafend in ihrem Bett zu sehen, eines ihrer Kuscheltiere im Arm und leise atmend. Wie damals schleiche ich mich bis zu ihrer Zimmertür und horche nach ihrer Stimme. Angst vermischt sich mit meinen Bewegungen und meine Schritte werden unsicherer. Bitte, lass alles nur Phantasie sein, denke ich und hoffe so sehr, dass die beiden am Schreibtisch sitzen und Hausarbeiten machen. Rebecca soll auf ihrem Kugelschreiber kauen, während Tarim mathematische Formeln in sein Heft schreibt.
Meine Hand greift nach dem Türgriff und drückt ihn herunter.
„Es ist echt okay“, sagt Rebecca leise und kichert.
Dann schauen beide zu mir. Tarim und sie sitzen, die Beine bei dem anderen eingehakt, auf ihrem Bett. Rebecca hat noch ihren BH und einen ihrer weißen Slips an, die ich nur von der Wäscheleine kenne. Ihr Freund sitzt, bloß noch in Shorts bekleidet, nach vorne gebeugt. Seine Hände ruhen auf ihren Oberschenkeln und fahren nach oben, als er entsetzt in meine Richtung sieht.
„Was ist denn plötzlich?“, flüstert Rebecca, die mich immer noch nicht bemerkt hat.
Ich wende meinen Blick von ihnen ab und starre auf meine Faust. Er macht alles kaputt, dieser Tarim. Er stiehlt sie mir. Nicht mehr viel hätte gefehlt und er hätte mir ihr geschlafen, sie mit sich in das Land genommen, in dem die Luftballons nicht mehr fliegen, sondern zerplatzen, sobald man sie in die Hand nimmt. Ich greife nach einem Ballon, registriere nur noch wie sich alles um mich herum dreht und laufe auf Tarim zu. Dieser stößt Rebecca im Reflex von sich und hält die Hände vor sein Gesicht. Ich höre die Ballons um mich herum explodieren, als meine Faust auf Tarims Wangen einschlägt. Er ist ein schwächlicher Junge, verbringt seine Zeit nachts in den Kinderdiscos und glaubt, mit seinem verlogenen Charme jedes Mädchen für sich gewinnen zu können. Aber nicht Rebecca! Ich muss ihr nur zeigen, wie Tarim wirklich ist. Schwach! Wieder und wieder schlage ich auf ihn ein, ewige Minuten lang, sein Schreien verkommt zu einem Wimmern. Meine Beine quetschen seinen Oberkörper ein, als ich auf ihm sitze und weiter einschlage.
Dann werde ich mit einem kräftigen Ruck nach hinten gezogen und falle von Tarim herunter. Dieser hebt kraftlos seinen Kopf und ich kann sein blutendes Gesicht erkennen, bevor er bewusstlos nach hinten auf den Boden kippt. Ich blicke mich verwundert um und erkenne Rebecca. Sie wird mich von ihm herunter gestoßen haben. Mit einem Sprung läuft sie auf Tarim zu, kniet sich neben ihn und schreit irgendetwas, das ich nicht verstehen kann.
„Der Junge ist nur bewusstlos. Das wird der schon überleben“, sage ich, während ich aufstehe. Rebecca weint. Ich sehe sie von der Seite an und glaube, Tränen zu erkennen.
„Ich hab den Notarzt schon angerufen“, schreit sie in meine Richtung. „Wieso hast du das gemacht?“
Ich stutze und weiß erst nicht, was ich antworten soll.
„Es musste sein. Ich liebe dich, Rebecca.“
Sie fängt von neuem an zu weinen und streicht mit ihrer Hand über Tarims Gesicht.
„Aber hör bitte auf zu weinen“, sage ich.
„Wieso nur?“, flüstert sie.
„Weil ...“
„Ich hasse dich. Ich hasse dich einfach nur“, sagt sie lauter, sieht aber nicht in meine Richtung.
„Was?“
Ich gehe auf sie zu.
„Bitte“, weint sie und sieht zu mir hoch. „Geh einfach nur weg.“
„Aber ...“
„Bitte. Geh nur.“
In meinem Kopf zerplatzen die Luftballons aufs Neue, aber diesmal ist es wie ein Bombenhagel, der auf eine Stadt hinunterfällt. Alles explodiert in einem Lichtermeer, durchzogen von dunklen Blitzen und ihrer Stimme, die sagt, dass sie mich hasst. Meine kleine Schwester Rebecca, die ich doch so sehr liebe.
Marburg, 9.12.2006