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Meiner Königin Krone
Frauke war anders; sie hatte etwas, dass die vielen anderen Mädchen in meiner Stufe nicht hatten. Ich kannte sie schon eine Ewigkeit und liebte es, sie zu beobachten; meistens nicht einmal im Verborgenen, wenn wir, in unsere Aufgaben vertieft, im Klassenraum saßen. Vielleicht hatte sie ziemlich runde Hüften, kein allzu hübsches Gesicht und auch keine langen Beine, mit denen sie die anderen Jungs in unserem Alter hätte begeistern können. Für sie war Frauke ein Mädchen wie jedes andere, welches über schlechte Witze lachte und wegen trauriger Filme weinte, welches gerne bei H&M einkaufen ging und sich vermutlich erträumte, eines Morgens neben Johnny Depp aufzuwachen.
Und wenn ich sie mir ansah, und das, was sie besonders machte, ignorierte, so wirkte sie auch auf mich unerträglich durchschnittlich und ich empfand es als unverdient, dass sie etwas so Schönes besaß, das nicht zum mittelmäßigen Rest passen wollte. Wenn sie doch wenigstens eine außergewöhnliche innere Eigenschaft gehabt hätte, welche diese Besonderheit rechtfertigte. Aber auch das war nicht der Fall. Wie alle anderen Mädchen lief sie durch die Gegend, kicherte in den unpassenden Situationen und lästerte über unbeliebte Schüler, wenn sie glaubte, ungestört zu sein. Sie hatte es nicht verdient, soviel stand fest, aber das war für mich im Grunde auch zweitrangig, solange sie diese Besonderheit überhaupt hatte.
"Ich finde deine Haare echt toll", hatte ich ein einziges Mal zu ihr gesagt; in einer Schulpause, als wir zufällig gleichzeitig auf der Steinmauer saßen und die Sonne unsere Gesichter kitzelte.
"Danke, das ist lieb."
"Machst du irgendwas, dass sie so aussehen?"
"Hm... Nö. Nur viel Sonnenschein halt. Dann bleiben die von allein so blond."
"Kaum zu glauben", meinte ich und bestaunte ihre langen blonden Haare und das Licht, welches sich in ihnen reflektierte. Frauke bemerkte meinen neugierigen Blick und errötete, strich sich langsam Strähnen aus den Augen und musterte mich. Vielleicht mochte sie mich gerne? Ich weiß es nicht. Ich jedenfalls hatte immer nur Bewunderung für ihre Haare, welche die Wangen wellenförmig umstreichelten, an den Wurzeln noch so glatt wie ein Grashalm wirkten und deren Spitzen gelockt wie die Form einer Sichel waren.
"Wirklich kaum zu glauben, dass du da nichts reinschmierst."
"Nein. Mache ich nicht. Ich hatte mal überlegt, sie zu tönen, halt mal was anderes auszuprobieren. Aber ich traue mich am Ende nie."
"Das ist gut so", antwortete ich. "Lass es, wie es ist."
Wieder ein Kichern in ihrem Durchschnittsgesicht, dann bewegte sie ihre breiten Hüften von der Steinmauer herunter. Ich konzentrierte mich weiter auf ihre Haare, die unendlich vielen kleinen Dreher und Nuancen, welche der Wind ihnen entlockte.
"Schön hier neben dir zu sitzen, aber es wird gleich schellen. Die Pause ist mal wieder vorbei."
"Ja", sagte ich und stieg ebenfalls von der Steinmauer, allerdings mit einem einzigen Sprung. Ich landete neben ihr, berührte für einen winzigen Moment ihr wehendes Haar. Es kitzelte, wie es die Sonne noch vor wenigen Momenten getan hatte. Dann schellte die Klingel und um uns herum begannen die Schüler damit, in das Gebäude zu rennen; auch Frauke ließ sich von der Menge treiben. Ich dagegen blieb noch Minuten stehen. Kleine Kinder liefen gegen meine Beine, ich wurde angerempelt und wäre fast nach vorne gefallen und als ich mich endlich in Richtung der Tür bewegte, hatte die nächste Schulstunde bereits angefangen. Ich aber war immer noch in der kitzelnden Berührung von Fraukes Haar gefangen.
Manche Schulstunden verbrachte ich komplett damit, Frauke anzusehen, mir vorzustellen, mit meinen Händen über ihren Kopf zu streicheln und ihre Haare zu küssen. Ich setzte mich, um meiner Konzentration auf den Unterricht zu helfen, öfter so hin, dass ich Frauke nicht sehen konnte, aber immer wieder schaffte sie es, sich so weit zurückzulehnen, dass auch das nicht viel brachte. Oder unterbewusst versagte mein Vorhaben und ich war es, der sich nach vorne lehnte, um wenigstens einen Ausschnitt ihres Hinterkopfes zu sehen.
Ich betrachtete auch die anderen Jungen und Mädchen, ob sie ähnlich wie ich auf diesen gebieterischen Reiz von Frauke reagierten, aber stellte nichts fest. Weder die Jungs warfen ihr gierige, pubertäre Blicke zu, wie sie es sonst so oft taten, wenn die Klassenschönheiten besonders kurze Röcke oder Tops trugen. Kein Speichel in ihren Mundwinkeln, kein nervöses Zucken in den Beinen, als könnten sie alle nicht dieses Besondere sehen. Und auch die anderen mittelmäßigen Mädchen blickten sie nicht neidisch, oder fast hasserfüllt an, wie sonst, wenn ein Mädchen etwas Schönes an sich hatte. Frauke war die einzige Königin, die ich anbetete, auch wenn außer mir niemand ihre Krone sah.
Beinahe hätte sie dies ein paar Wochen, nachdem wir auf der Steinmauer gesessen hatten und ich ihre Haare in meinem Gesicht spürte, aufgegeben.
Während einer Freistunde saß meine Klasse in dem Vorraum der Aula und machte zum Teil Hausaufgaben oder spielte Karten. Andauernd flogen Papierflieger durch die Luft und der Hausmeister kam, um wieder für Ruhe zu sorgen. Ich hatte mich in eine Ecke gesetzt, neben mir ein paar Freunde und betrachtete Fraukes Haar ungestört und verträumt. Es in dieser neuen Umgebung mit dem, durch das große Frontfenster, einfallendem Licht zu sehen, bereitete mir großes Entzücken und ich kostete jede ihrer kurzen Bewegungen aus, wenn sie sich nach vorne beugte oder mit ihren Freundinnen zu lachen anfing. Ich konnte ihr Gespräch verstehen.
"Bist du dir sicher?", fragte eine ihrer Freundinnen.
"Ja, es stimmt wirklich. Ich war gestern dort und ich würde glatte einhundert Euro für meine Haare kriegen", erklärte Frauke. "Die Perückenmacher suchen laufend Echthaar für Haarverlängerungen und was weiß ich nicht alles."
"Hundert Euro. Das ist aber echt ne Menge. Was man sich da alles für kaufen kann."
"Genau. Zudem sind doch Kurzhaarfrisuren im Moment wieder in. Ich hab da in sonem Magazin echt tolle Haarschnitte gesehen."
Wieder ein Kichern, während ich entsetzt zuhörte und den Stift, mit dem ich versucht hatte, meine Matheaufgaben zu lösen, auf den Boden fallen ließ.
"Und wirst du es machen?", sagte wieder die Freundin.
"Ich denke schon. Ich gehe morgen noch einmal hin. Vielleicht kann ich ja noch mehr Geld rausholen."
Ich hatte genug gehört und schlich mich davon. Bald darauf klingelte es zur nächsten Stunde und ich überlegte bis zum Schulende, wie ich gegen Fraukes Vorhaben, vorgehen könnte. Es durfte einfach nicht sein; die Mädchen mit den großen Brüsten ließen sich diese doch auch nicht kleiner operieren und die mit den feinen Nasen schlugen sich diese nicht ein. Frauke war im Begriff, etwas Törichtes zu unternehmen und ich musste es verhindern. Hatte sie im Grunde nicht einmal diese Haare verdient, so durfte sie als Letzte die Entscheidung treffen, ob sie diese weiterhin trug oder nicht. Es wäre komplett ungerecht gewesen; gegenüber mir und der Laune des Schicksals, die ihr diese Haare erst ermöglicht hatte.
Weil ich Angst hatte, Frauke könnte es sich anders überlegen und schon an diesem Tag zum Perückenmacher zurückkehren, lief ich so schnell ich konnte nach Hause. Ich konnte fast nicht mehr atmen, so beeilte ich mich und immer nagte in meinem Hinterkopf die Angst, es könnte unter Umständen nicht funktionieren. Zuhause lief ich sofort in mein Zimmer, suchte unter dem Bett mein Kontobuch und ging zur Bank. Der Angestellte hinter dem Tresen lächelte milde, als er mir die zweihundert Euro auszahlte. Sein langsames Zählen ließ mich zittern und ich drängte ihn zur Eile.
Er lächelte immer noch milde, als ich ihm den Rücken zudrehte und wieder nach Hause lief. Dort setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schrieb einen anonymen Brief an Frauke, den ich mit den zweihundert Euro in ein Kuvert steckte. Aufgeregt und nervös, als würde mir mein erstes Date bevorstehen, ging ich zu ihrem Haus. Ich dachte überhaupt keine Sekunde an das viele Geld in meiner Hand; nur daran, wie dumm Fraukes Entschluss war und wie sehr ich hoffte, er würde sich revidieren lassen. Kurz blickte ich nach links und nach rechts, dann ging ich auf die Haustür zu und warf das Kuvert in den Briefkasten. Es schepperte ungeölt, als die Schließvorrichtung des Kastens zuklappte.
Am nächsten Morgen und auch die darauf folgenden Tage waren Fraukes Haare wie eh und je und ich glaubte, noch nie eine bessere Investition als die zweihundert Euro getätigt zu haben. In dem Brief hatte ich ihr das Angebot gemacht, das Geld zu behalten, solange sie sich nie die Haare abschneiden lassen würde. Sollte sie es behalten, so wäre unsere Abmachung getroffen. Aber wem hätte sie das Geld auch zurückschicken sollen? Ich genoss den ganzen Sommer über noch den Sonnenschein auf ihren Haaren und die Bewegungen ihres Kopfes.
Die Schatten des Septembers tauchten in den Ritzen und Ecken der Schule auf; unter den Tafeln, in den Schubladen oder im Treppenhaus und ich bemerkte sie vor allen Anderen. Überall machten sie sich breit, einem unsichtbaren Muster folgend, und dies auch in den Gesichtszügen von Frauke. Ich hatte Angst um sie; aber viel mehr noch um ihre Haare, die ebenso unter den Veränderungen litten. Es gefiel mir nicht, wie selten sie in dieser Zeit im Wind tänzelten und stattdessen immer öfter lose und verheddert einfach nur herab hingen, als würden sie lustlos auf eine Aufgabe warten, die sie überhaupt nicht erfüllen wollen. In manchen Schulstunden überkam es mich, dass ich auf Frauke blickte und nichts Besonderes mehr sah; nur noch dieses Mädchen, umhüllt von Schatten und deren Lakaien.
In einer Schulpause saß ich wieder auf der Steinmauer und blickte auf die vielen, spielenden Kinder. Der Himmel war wolkenverdeckt und warf ein trügerisches Licht auf das Schulgebäude. Ich fragte mich, wo wohl Frauke war und stieg von der Mauer herunter, bahnte mir einen Weg durch meine Mitschüler und versuchte sie aufzuspüren. Vermutlich hing sie mit ihren Freundinnen herum, redete über Dinge, die mich nichts angingen und die ich auch nicht verstand und versuchte, wenn auch nur unterbewusst, gegen die Grautöne anzukämpfen.
"Hey, hast du Frauke gesehen?"
"Nein", antwortete der angesprochene Mitschüler. "Warum denn?"
"Ich wollte sie was fragen."
"Schau doch mal auf dem Raucherhof nach. Ich glaube, da hängt sie in letzter Zeit öfter ab. Mit den aus der dreizehn."
"Kann schon sein. Ich werd mal sehen", sagte ich und ging weiter.
Schließlich entdeckte ich sie und als ich sah, was dort, keine hundert Meter von mir entfernt ablief, rannte ich auf sie zu. Frauke war eingekreist von drei älteren Jungen, die versuchten, ihre Haare mit einem Feuerzeug zu versengen. Wie ein Blitz zuckte das kleine Gerät im dunklen Schatten des nahen Zaunes. Ich kannte die Jungen vom Sehen; in ihren Mündern brannten Zigarettenstummel und sie lachten höhnisch.
Ich schaute mich panisch nach einem Lehrer, der mir hätte helfen können, um, erblickte aber niemanden. Nur ein paar Fünfklässler standen in Reichweite und sahen mich erschrocken an, als ich an ihnen vorbei lief. Ich musste es also alleine schaffen. Zwei der Jungen hielten Frauke fest, während der Dritte langsam sein Feuerzeug an einen Büschel Haare führte, den er in der Hand hielt. Gequält und wie erstarrt blickte Frauke auf das Geschehen. Sie wirkte auf mich, als würde sie überhaupt nichts mehr mitbekommen.
"Ich will mal sehen, wie die brennen", meinte der mit dem Feuerzeug in der Hand.
"Wie Stroh sind die", sagte einer, der sie festhielt.
Frauke wimmerte und versuchte sich zaghaft loszureißen, aber ihre Bemühungen verebbten sinnlos in den festen Griffen ihrer Peiniger. Dann wurden ein paar ihrer Haare schwarz und lösten sich auf. Ich konnte genau sehen, wie sie verschwanden, und bekam plötzlich eine solche Wut, dass ich nichts anderes mehr tun konnte, als schreien.. Ich schrie so laut, wie noch nie in meinem Leben und hoffte, dadurch alle Schatten, die sich in meine Nähe verirrt hatten, vertreiben zu können und Fraukes Haare zu retten.
"Was soll das denn?", rief einer der Jungs und ließ Frauke los. "Hör auf mit dem Flennen. Sonst gibt´s was auf die Fresse, Kleiner."
Aber ich hörte nicht auf und schrie immer weiter. Sie sollten gehen, sie alle. Ich wollte weiterhin im Klassenraum sitzen und auf Fraukes Haare blicken und sehen, wie die Sonne sich auf ihnen bricht und neue Farben annimmt.
"Ich glaube, der wird nicht aufhören. Scheiße, da hinten kommen noch mehr."
"Lasst uns abhauen", antwortete ein anderer und sie ließen Frauke los.
Diese blieb wie angewurzelt stehen und streichelte sich durch die Haare. Ich hörte auf zu schreien und ging auf sie zu. In ihrem Blick lag zarte Dankbarkeit und ich glaube, ich hätte sie in diesem Moment küssen können. Ich aber suchte die Stelle, welche die Drei versenkt hatten und als ich sie fand, merkte ich, wie wenig Schaden nur angerichtet worden war.
"Beinahe wäre ihnen etwas passiert", meinte ich und zwang mich, Frauke in das Gesicht zu sehen.
"Warum siezt du mich denn?"
Ich überlegte einen Moment, was ich darauf antworten sollte, sah ihr aber nur verstohlen ins Gesicht und als sie schüchtern wegblickte, erlaubte ich mir, wieder auf ihre Haare zu sehen. Sie waren ohne jeglichen Schatten und strahlten im Sonnenlicht.
Marburg, 18.3.2007