Mir ist kalt
Mir ist kalt.
Ich schlafe gerne. Das tut aber gerade nichts zur Sache. Ich bin auf einer Beerdigung. In einem Wohnzimmer. Es sieht aus wie das Haus einer alten Dame. Es sind auch viele alte Menschen anwesend. Ich sitze auf einer Couch. Ich falle nicht besonders auf. Ich fühle mich aber unpassend. Vielleicht bin ich unpassend gekleidet. Vielleicht hat es auch nur damit zu tun, dass ich den Verstorbenen nicht kenne. Oder es geht mir einfach nicht so nahe, wie all den anderen. Vielleicht bin ich vergleichsweise auch nur zu jung. Auf jeden Fall bin ich anwesend.
Ein Mädchen betritt das Zimmer. Sie scheint hübsch zu schein. Sie hat nach mir gesucht. Sie setzt sich dicht neben mich. Erst ist mir nicht eingefallen, wer sie ist. Aber selbstverständlich kenne ich sie. Ich kenne sie seit Jahren. Ich bin in diesem Haus keiner Person näher. Sie weiß, wie ich mich hier fühle. Sie weiß, was ich über diese Situation denke. Ich weiß, dass sie jemanden sehr wichtiges verloren hat. Ich lege meinen Kopf auf ihre Schulter. Ich spüre ihre Knochen unter ihrer dünnen Haut. Sie ist insgesamt sehr dünn. Sie lässt meinen Kopf selbstverständlich an dem gewohnten Platz. Wir reden nicht miteinander. Wir müssen nichts sagen. Sie ist sehr traurig, und will mir trotzdem Gesellschaft leisten, damit ich nicht so alleine bin. Sie ist sehr traurig, und will mir deswegen Gesellschaft leisten, damit sie nicht so alleine ist.
Sie will mit mir zu der Musik tanzen. Wir tanzen keinen üblichen Tanz. Sie drückt mich einfach nur fest. Ich schaukle sie ein wenig zum Rhythmus. Ich spüre besonders ihre Hände. Sie hat die Augen geschlossen und den Kopf an meine Brust gelehnt. Ich bin ihre Stütze. Sie braucht diese Stütze. Ich merke, wie zittrig sie atmet. Sie wirkt so zerbrechlich. Ich muss mich nicht anstrengen, mit ihr sorgfältig umzugehen. Es fühlt sich so natürlich an. Meine Nase streift über ihre Haare. Ich rieche ihr Shampoo. Es riecht nach nichts bestimmten. Es riecht nur gut. Ich könnte nicht sagen, wie lange diese Situation zeitlich gesehen schon anhält. Ich bin mir auch nicht sicher, was davor passiert ist, wie ich hier her gekommen bin. Ich denke aber auch nicht daran. Ich denke auch nicht an das, was darauf passieren wird. Ich mache mir deswegen keine Sorgen. Ich habe gerade nur die Aufgabe anwesend zu sein. Das ist sehr wichtig. Es gibt im Moment auch keine anderen Personen. Ich denke jedenfalls nicht an sie. Es gibt sie nicht. Es gibt dieses Mädchen. Dieses Mädchen gehört zu mir. Oder vielleicht gehört sie mir. Vielleicht gehöre auch ich ihr. Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich weiß ja, wie es ist.
Ich liege in meinem Bett. Es ist dunkel. Ich drehe mich zur Seite. Da ist niemand. Wo ist sie. Sie hatte mich doch gern. Ich bin allein. Ich wohne allein. Ich habe geschlafen. Ich schlafe gerne. Ich bin immer allein. Es gibt keine Person, die ich zu dieser Uhrzeit anrufen könnte. Ich bin wach. Ich versuche mich an meinen Traum zu erinnern. Ich habe ihn vergessen als ich wach wurde. Ich fühle mich trotzdem komisch. Ich weiß, dass ich geträumt habe. Ich weiß, dass es wichtig war. Ich weiß, dass es mir wichtig war. Mir ist schlecht. Mir ist, als wollte ich kotzen, um nichts mehr zu fühlen. Um mich besser zu fühlen. Ich habe jemanden wichtigen verloren. Ich strenge mich an, mich zu erinnern. Ich versuche mich an ihre Hände an meinem Rücken zu erinnern. Ich will ihre Schulter spüren. Kurz kann ich mich an alles erinnern, und dann wieder nicht. Ich will so tun, als würde ich noch schlafen. Ich will so tun, als wüsste ich nichts davon, dass ich gerade im Bett liege. Es fehlt mir, von Nutzen zu sein. Ich war ihr so gerne nützlich. Ich will nicht, dass das nie passiert ist. Ich will das nicht vergessen. Ich werde es vergessen. Ich will noch mal träumen. Irgendetwas. Ich will nicht an heute denken. Ich muss mein Leben ignorieren. Ich darf das nicht vergessen. Ich weiß, dass ich schon mal vergessen habe. Ich kann mich nur nicht erinnern. Ich will nicht noch mal aufwachen. Ich will nicht. Ich kann nicht. Ich sehe meine Schlaftabletten. Selbstverständlich stehen sie da. Ich habe schon immer Schaftabletten genommen. Das ist normal. Ich bin traurig. Ich bin traurig darüber, dass es niemanden interessiert, dass ich traurig bin. Ich bin traurig darüber, dass es niemanden interessieren kann, dass ich traurig bin. Ich habe sehr viele Schlaftabletten in der Hand. Ich nehme sie alle. Ich weine. Ich bin wirklich traurig.
Ich liege in meinem Bett. Es ist bereits hell. Ich weiß, dass ich gerade geschlafen habe. Ich habe keine Schlaftabletten. Ich bin auf keiner Beerdigung. Es gibt keine Person, die ich gerne anrufen würde. Es gibt keine Person, die mich heute anrufen wird. Ich bin nicht traurig. Ich bin auch nicht wütend. Ich sehne mich nach nichts. Ich warte nur. Ich warte aber auf nichts. Ich warte nur. Ich werde mich nicht umbringen. Ich werde mein leben nicht in die Hand nehmen. Ich werde meine Träume nicht ernst nehmen. Ich weiß, warum ich sie geträumt habe, glaube aber nicht daran. Ich werde bald aufstehen. Ich muss nicht arbeiten. Ich werde mich irgendwie ablenken. Immerhin muss ich ja warten. Es kommt mir so vor, als würde ich alles klar sehen. Nicht weil alles schön geordnet ist, sondern weil es nichts gibt, das geordnet werden müsste. Glaube ich, vielleicht. Ich weiß nicht genau. Ich weiß auch nicht warum ich aufstehen sollte. Ebenfalls weiß ich nicht, warum ich liegen bleiben sollte. Ich hoffe auf nichts. Ich wüsste nicht, auf was ich hoffen sollte. Ich fühle mich nicht schlecht. Ich fühle nur nicht. Das ist ein Unterschied. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Ich könnte so tun, als wäre mir etwas bestimmtes wichtig. Ich muss mich ja ablenken. Vielleicht. Ich weiß nicht.
Ich schaue viel Fernsehen. Viele Wissenschaftssendungen. Null Kelvin entsprechen in etwa
-273° Celsius. Das ist der absolute Null-Punkt. An diesem Punkt gibt es keinerlei Bewegung mehr. Die Materie gibt es aber immer noch. Man kann diesen Punkt nicht erreichen. Man kann ihm aber sehr nahe kommen. Mir ist kalt.