Mit anderen Augen
Mit anderen Augen
Durch meinen Wecker wurde ich wieder mal um sechs Uhr geweckt. Ich schaltete ihn aus und zog mir die Decke über den Kopf. Ein paar Minuten später kam meine Mutter ins Zimmer. „Aufstehen Schlafmütze“, sagte sie laut und ließ das Rollo hoch. Seit ich dieses Schulpraktikum begann war ich jeden Morgen schlecht gelaunt. Eigentlich wollte ich Erzieherin werden aber die zweijährige Berufsfachschule schrieb ein vierwöchiges Praktikum im Pflegebereich vor. Also bekam ich einen Praktikumsplatz in dem Behindertenheim für Kinder und Jugendliche. Das Heim war nur ein paar Straßen weiter, so dass ich mit dem Fahrrad in ein paar Minuten dort war. „Krankenpflegerin“, das war kein Beruf für mich. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als den ganzen Tag mit Kindern zu singen, basteln und zu spielen. Um das zu erreichen musste ich allerdings erst dieses Praktikum machen.
Also schlich ich im Pyjama ins Badezimmer. Nach dem Frühstück bemerkte ich schon wieder dieses flaue Gefühl im Bauch. Jeden Morgen graulte mir davor, zum Heim zu fahren. Ich wusste, wie der Tag ablaufen würde. Ich bekam meine Aufgaben, wie jeden Tag und führte sie aus.
Ich stellte mein Rad ab und ging auf die Station, wo die Pflegerinnen im Gemeinschaftsraum saßen und eine Akte durchgingen. Ich setzte mich dazu, was ich jeden Morgen tun sollte um zu lernen, was besprochen werden musste. „Wir bekommen eine neue Bewohnerin“, informierte mich die nette Pflegerin, die mir die Aufgaben zuteilte und an die ich mich immer wenden sollte, wenn ich Hilfe brauchte oder Fragen hatte. „Sie ist dreizehn Jahre alt und körperlich wie auch geistig behindert.“.
Viele Kinder waren geistig und körperlich behindert, womit ihre Eltern überfordert waren. Hier im Heim bekamen diese Kinder die Pflege, die sie brauchten. Täglich kamen Eltern um ihre Kinder zu besuchen. Aber ich glaube, das taten viele nur aus Pflichtgefühl und nicht, um ihre Kinder zu sehen. Viele Kinder bekamen nicht mit, wenn man mit ihnen sprach. So schien es mir jedenfalls. Natürlich weiß niemand so genau, was die Kinder tatsächlich mitbekommen, aber das war der Grund dafür, warum ich mich hier nicht wohl fühlte. Mir taten diese Kinder leid und ich war sehr froh, dass es hier Menschen gab, die sich liebevoll um sie kümmerten. Für mich konnte ich mir eine Ausbildung in diesem Bereich nicht vorstellen.
In einer Stunde sollte Sarah, so hieß das Mädchen, hier im Heim ankommen. Ich bereitete also mit einer Pflegerin das Zimmer vor. Wir bezogen das Bett und reinigten den Nachttisch und das Waschbecken, was in jedem Zimmer vorhanden war. „Wird sie bettlägerig sein“? fragte ich die Pflegerin neugierig, die daraufhin nur den Kopf schüttelte und sagte: “Sie ist körperlich nur leicht eingeschränkt und soll ansonsten sehr lebhaft sein. Leider versteht sie oft nicht, was man von ihr möchte und antwortet auf Fragen, die nicht gestellt wurden. Ihre Eltern meinen, sie sei zu ungeduldig und zu schnell abgelenkt, deshalb würde sie nicht richtig zuhören. Aber wir werden sie ja bald selbst kennen lernen und dann können wir uns ein eigenes Bild machen.“ Langsam wurde ich neugierig auf Sarah.
Ein neunjähriger Junge, Adam, wurde nach einem schweren Unfall am Kopf operiert, wo jetzt ein Teil seines Gehirns nur von der Haut bedeckt war, weshalb er immer einen Helm tragen musste. Er hatte Gleichgewichtsstörungen und durfte nirgendwo allein hingehen. Den ganzen Tag saß er in seinem Zimmer auf dem Bett und sah Fern. Seine Eltern besuchten ihn nur einmal in der Woche. Er fragte ständig nach ihnen, aber seine Eltern waren beruflich sehr eingespannt und nahmen sich nur selten Zeit für Adam.
Ich ging also jeden Morgen, und holte Adam aus seinem Zimmer ab. Ich half ihm in den Bademantel und stützte ihn auf dem Weg zur Dusche. Dort nahm ich ihm den Bademantel ab und half ihm aus dem Pyjama. In der Dusche war ein Sitz, der an der Wand befestigt war. Er setzte sich und ich gab ihm die Seife und einen Waschlappen. Er wusch sich selbst, wobei ich nur aufpassen musste, dass er nicht von dem Sitz rutschte. Nachdem ich Adam beim abtrocknen geholfen hatte, zog er seinen Bademantel über und ich begleitete ihn zurück in sein Zimmer. Anziehen und Zähne putzen konnte er allein, wobei er nur gestützt werden musste.
Anschließend setzte er sich auf sein Bett und schaltete den Fernseher an. Er starrte nur auf den Bildschirm, als wäre er hypnotisiert. „Ich werde jetzt gehen, Adam. In einer halben Stunde bringe ich dir dein Frühstück“, sagte ich, worauf er nur mit dem Kopf nickte und mich dabei nicht mal ansah.
Nach den üblichen Tätigkeiten, wie Frühstück verteilen, Betten beziehen und den täglichen Reinigungsarbeiten, war es soweit. Sarah kam mit ihrer Mutter auf die Station. Eine große schlanke Frau, die sehr vornehm gekleidet war, kam mit einem Mädchen an der Hand auf uns zu. Das Kind sah sehr viel jünger aus, als dreizehn Jahre. Sie hatte die Größe eines etwa achtjährigen Kindes. Ihre blonden Haare waren mit einer Schleife streng nach hinten gebunden. Das gelbe Kleid, das sie trug, schien ihr sehr zu gefallen, denn sie strich es ständig mit einer Hand glatt, um hübsch auszusehen. Ich stand im Flur, etwas weiter weg und das Mädchen rief: “Hallo!“ und winkte mir aufgeregt zu. Den linken Arm hielt sie angewinkelt vor dem Bauch und ließ die Hand herunterhängen. Ich winkte zurück und ging näher zu ihr und ihrer Mutter. „Du hast ein hübsches Kleid“, sagte ich zu ihr und sie lächelte verlegen und sah schüchtern auf den Boden. Auf Anweisung der Pflegerin brachte ich Sarah auf ihr Zimmer, damit sie sich mit der Mutter unterhalten konnte. „Ich bin alleinerziehend und beruflich sehr eingespannt, deshalb bin ich sehr froh, dass Sarah bei ihnen gut aufgehoben ist“, hörte ich noch, als wir den Flur entlang gingen. Sie versuchte ihre Entscheidung zu rechtfertigen. Wahrscheinlich wird auch sie ihre Tochter nur selten besuchen kommen, wie die meisten Eltern.
Im Zimmer lief Sarah ganz aufgeregt herum. Sie wollte alles erkunden. Sie sah in alle Schränke, in alle Schubladen und setzte sich anschließend aufs Bett und wackelte mit den Beinen. „In die Schränke kommen deine Kleider“, sagte ich zu ihr, als sie wieder hinsah und sich zu wundern schien, dass sie leer waren. Sarah stellte sich vor mich und sah mit großen Augen zu mir auf. „Und meine Büscher“, fragte die Kleine. „Deine Bücher kannst du auch dahinein tun, wenn du möchtest“, antwortete ich und sie schien erleichtert. „Ich habbe viele Büscher“, erzählte sie, „gaz viele. Mit Ferde und Blum und gaz viel Tiere. Und mit Ferde. Ich seige sie dir dann ma“. „Darauf freue ich mich“, antwortete ich und sie strahlte übers ganze Gesicht. Sie redete ununterbrochen weiter über ihre Bücher. Sie sprach bis ihre Mutter mit der Pflegerin ins Zimmer kam. Obwohl sie fast zwanzig Minuten redete, erfuhr ich nur, dass sie viele Bücher über Pferde und Blumen besaß. Sie war begeistert davon. Es schien ihr nichts auszumachen, dass sie nun in einem Heim leben sollte. Vielleicht hat sie auch gedacht, sie würde hier Urlaub machen. Ich mochte die Kleine. Sie war so fröhlich und lebenslustig. Irgendwie doch ganz anders als die anderen Kinder.
Als Sarah mit ihrer Mutter die Koffer auspackte verließ ich mit der Pflegerin das Zimmer. „Wir könnten doch mal mit Sarah zu der Pferdekoppel hier um die Ecke gehen. Sie ist ganz vernarrt in Pferde. Das würde ihr doch sicher gefallen“, schlug ich vor und war sofort begeistert von dieser Idee. Dafür haben wir leider keine Zeit, wir müssen uns um so viele Kinder hier kümmern. Wenn wir mit Jedem Spaziergänge machen würden, müssten andere zum Beispiel auf ihre tägliche Körperpflege verzichten müssen. Dafür sind die Angehörigen da“, antwortete sie und ging weg. Ich war enttäuscht und wütend auf die Pflegerin. Aber ich wusste, dass sie Recht hatte. In diesem Praktikum habe ich erfahren, dass den Pflegerinnen und Pflegern keine Zeit bleibt auf die persönlichen Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Sie erledigen ihre Arbeit wie am Fließband.
Um 16.00 Uhr hatte ich Feierabend. Sarahs Mutter war schon vor Stunden gegangen. Seitdem saß die Kleine allein in ihrem Zimmer und sah sich ein Buch an. Ich verabschiedete mich für heute von den Pflegerinnen und sagte ihnen bescheid, dass ich jetzt Sarah besuchen würde. Sie starrten mich an und ich machte mich auf den Weg zu ihrem Zimmer. Als ich fünfmal im Takt, wie Morsezeichen, an die Tür klopfte, hörte ich, wie Sarah von ihrem Bett aufsprang und angerannt kam. Als sie die Tür geöffnet hatte schlang sie ihre Arme um meinen Bauch. Ich begrüßte sie freundlich und sie zog mich zu ihrem Bett, wo ein aufgeschlagenes Buch lag. „Schöne Ferde, ne?“ sagte sie und blätterte wild in dem Buch und zeigte auf jedes Bild. Sie tat dies so schnell, dass ich kaum bemerkte, dass sie einen behinderten Arm hatte, den sie nicht benutzen konnte. „Ich weiß wo echte Pferde stehen! Ich kann sie dir zeigen, wenn du willst“, schlug ich vor. Sie sah mich mit offenem Mund an und zog mich an der Hand.
Ich sagte den Pflegerinnen bescheid und ging mit Sarah hinaus.
Als sie von weitem die Pferde auf der Koppel sah zog sie mich aufgeregt in diese Richtung. Das letzte Stück rannten wir. Dann steckte sie sofort ihre Hand durch das Gatter und versuchte die Pferde anzulocken, indem sie wild mit den Fingern wackelte. Die Pferde schien das überhaupt nicht zu interessieren.
Ein Mann, der bei den Pferden stand sah uns und kam sofort auf uns zu. Er begrüßte uns und öffnete das Gatter. „Schöne Ferde“, sagte Sarah und zeigte auf die Tiere. „Möchtet ihr rein kommen, dann kannst du sie streicheln, wenn du willst“. Sarah war die Begeisterung ins Gesicht geschrieben. Wir gingen mit dem Mann näher zu den Pferden.
Mit ihrer kleinen Hand streichelte sie ein Pferd nach dem anderen. Der Mann sah, wie begeistert sie von den Tieren war und fragte:“Möchtest du dich vielleicht mal draufsetzen? Sarah sprang hoch und rief:“Ja ja ja“! „Ich weiß nicht“, sagte ich, “wenn sie runterfällt. Ich bin für sie verantwortlich. Sie kann sich doch nicht richtig festhalten“. „Wir werden sie von beiden Seiten festhalten, dann kann doch nichts passieren“, sagte der Mann und ich sah ein, dass er Recht hatte. Die Enttäuschung wäre zu groß für Sarah gewesen, wenn ich es verboten hätte. Also hob ich sie auf den Rücken des Pferdes und sie hielt sich mit der Hand an der Mähne fest. Sarah saß einfach nur dort oben und strahlte übers ganze Gesicht. Sie sah auf den Hinterkopf des Pferdes und sagte kein Wort. Ich habe noch nie ein Kind gesehen, dass so restlos glücklich war. Es war wunderbar zu sehen, wie sie lachte.
Ich war gerührt von diesem Anblick.
Von diesem Tag an machte mir das Praktikum großen Spaß. Ich ging mit einem ganz anderen Gefühl zur Arbeit. Nachdem die vier Wochen meines Praktikums um waren, besuchte ich Sarah täglich. Wir gingen zu den Pferden oder sahen uns ihre Bücher an. Manchmal besuchten wir auch Adam, der wenn er uns sah, sofort den Fernseher ausstellte. Sarah ist eine ganz besondere Freundin für mich geworden. Mann kann sie mit den einfachsten Dingen glücklich machen. Und wenn es mir schlecht geht, kann sie mich mit einem kleinen Lächeln aufheitern.