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Modern Kautschuk
Nur eine dünne Folie trennt mich von dieser Brut. Im Hexenkessel kriecht und schwirrt sie umher. Jegliche Kontrolle ist verloren gegangen. Wie hypnotisiert starre ich auf das transparente Tor, auf dem die schwarzen Punkte tanzen. Das Summen dringt tief in meinen Kopf, füllt alles aus. Im Hintergrund donnern die Stanzautomaten. Sechzig Tonnen pro Hub. 80 Hübe in der Minute. Paff! Paff! Paff! Mit den Zeigefingern an die Schläfen gepresst versuche ich, den Lärm aus meinem Kopf zu massieren, lasse die Scheißkäfer nicht aus den Augen. Die Arbeit grenzt an Suizid, aber für eine Kündigung ist es zu spät. Ich bin bereits überall gewesen, letzter Halt Drogenhöhle. Drinnen schleppt sich ein Arbeiter vorbei, trägt weder Mund- noch Gehörschutz. Wahrscheinlich hat er sich mit seinem elenden Schicksal bereits abgefunden. Auf die Klobrille kotzen und zurück an das Maschinenpult, darauf achten, dass die Schläuche auch genug Bugs in die Matrizen pumpen, wo sie dann von Hartmetallstempeln zerstanzt werden. Sechzig Tonnen. Riesen Saftpressen. Die Massage zeigt keine Wirkung, der Lärm schwillt an. 80 Hübe in der Minute.
»Hey Slo, alles gut bei dir?«
»Sicher, mir geht's gut.«
»Du musst mir hier nicht helfen.«
»Passt schon. Meine Maschine wird eh grad gewartet. Außerdem bin ich froh, da mal raus zu sein. Auch wenn man sich hier den Arsch abfriert.«
Herbert schüttelt den Kopf und rückt eines der Fässer zurecht. »Ich hab' es dir gesagt, ich habe es allen gesagt, dass ihr euch lieber für einen Außenposten bewerben solltet.«
»Soweit ich weiß, besetzt du den einzigen Außenposten hier.«
Die anderen Mitarbeiter verspotten Herbert gern. Eigentlich schleppt er den ganzen Tag nur diese stinkenden, mit zerquetschten Ölkäfern befüllten Fässer durch die Gegend, stellt es aber so hin, als gäbe es nichts Besseres. Nun geben ihm die Umstände recht. Hier draußen ist es zwar kühl, aber sauber. In der Produktionshalle hingegen kann man nicht mal ein Sandwich essen, ohne dass sich sofort zehn Bugs darauf stürzen.
Er setzt ein schiefes Grinsen auf. »Tja, auch egal, am Ende gehören wir alle dem Teufel.«
Ich nicke und fädle den Spanngurt durch die Laschen des Fasses. »Weißt du, wo Lukas steckt?«
»Welcher Lukas?«, fragt Herbert, als er sich in den Gabelstapler schwingt.
»Der Neue. Ziemlich groß, blond gefärbte Haare, Tattoos am Hals.«
»Ah, der! Ne, hab ich nicht gesehen. Wieso?«
»Der Boss meinte, ich soll ihm mal zeigen, wie das Abpumpen funktioniert.«
»Ach so.«
Er führt eine Gabel unter den Spanngurt und hebt das Fass an. Ich laufe zum Transporter, springe in den Laderaum und ziehe das angelieferte Fass nach hinten, wo bereits zwei weitere lagern. Ich steige aus dem Kofferraum und höre das pneumatische Zischen des Tors. Hinter Lukas, der sich die Bugs vom Schutzanzug klopft, fährt es wieder nach unten.
»Wo warst du?«, frage ich. »Lässt gerne andere für dich schuften, wie?«
Lukas zuckt die Achseln und unter seinem Mundschutz, auf dem er eine Schweinsnase gekritzelt hat, vermute ich ein Lächeln. »Ich musste noch aufs Klo. Oder soll ich etwa die Polster nass machen?«
Wenn ich damals meinen Vorgesetzten beim Militär gegenüber so frech war, habe ich dafür ordentlich Prügel bezogen. Trotz dem Verlangen, diesen Hampelmann in den Boden zu stampfen, gewähre ich ihm noch eine Chance. Die nächste Stunde soll nicht von peinlichem Schweigen beherrscht sein.
»Setz den Mundschutz ab und pack mit an«, befehle ich.
Wir fahren einen schmalen Waldweg entlang, etliche Schlaglöcher heben uns aus den Sitzen. Die Fässer schaukeln trotz der Spanngurte leicht umher, und ich höre das reibende Metall und die gegen die Deckel schwappende Flüssigkeit.
»Können wir nicht was anderes hören? Ich hasse diesen Balkanpop.«
»Erstens«, sage ich, bemüht die Fassung zu wahren, »ist das kein Balkanpop, und zweitens: das ist nicht dein Wagen.«
»Deiner doch auch nicht.«
»Ja, budala, aber ich fahre das Auto, oder nicht?«
»Das schon. Was heißt budala?«
»Dummkopf, du Idiot.«
Er lacht laut auf und trommelt auf das Armaturenbrett. »Du hast echt Humor, Slo.«
»Nein, und du erst recht nicht.«
»Ehrlich gesagt, können wir ja gar nicht alle das Gleiche lustig finden, wir nehmen ja auch nicht alle die gleichen Drogen, oder doch?« Er tippt sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an das Kinn. »Slo, das ist ein seltsamer Name. Hast du auch 'nen richtigen?«
Ich mustere ihn kurz und widme mich dann wieder der ungemütlichen Strecke. »Slobodan Dralović.«
»Was bedeutet dieses Tattoo?«, fragt er.
»Müssen Tattoos zwangsläufig was bedeuten?«
»Nein, aber das sieht aus, als bedeute es was.«
Ich sehe auf meine Hand, die fest das Lenkrad umklammert. Der Anblick des Symbols berührt mich, versetzt mich zurück in eine Zeit, in der es noch Glück gab und den Glauben an eine bessere Welt. Doch der fade Beigeschmack von verbranntem Fleisch liegt ebenfalls auf meiner Zunge.
»Das ist das serbische Kreuz. Ich war damals einer der Freischärler, habe in Kroatien für ein großserbisches Reich gekämpft.«
»Mit Erfolg?«
»Kennst dich nicht so aus mit Geschichte, oder?«
»Ne, da hatte ich immer nur 'ne Fünf, wie eigentlich überall.« Er winkt ab. »Egal.«
Ich muss grinsen. Irgendwie gefällt er mir doch. Vielleicht weil mich seine große Schnauze an mein damaliges Ich erinnert.
»Es gab später eine Großoffensive der Kroaten, wobei sie alle serbischen Gebiete in Kroatien und ganz West-Bosnien zurückeroberten. Zu dem Zeitpunkt war ich aber schon nicht mehr dabei.«
»Wieso? Hast du gewusst, dass euer Plan scheitern würde?«
»Es ist schon ziemlich gewagt, überhaupt von einem Plan zu sprechen. Nein, ich habe es nicht gewusst. Vielleicht habe ich es geahnt, aber eine Ahnung bringt keinen Krieger von seinem Weg ab. Nein, sie haben mich unehrenhaft entlassen, könnte man sagen.«
»Ganz ohne Abschiedszeremonie?«
Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen, und in meiner Unachtsamkeit steuere ich mit Tempo dreißig durch ein tiefes Schlagloch. Das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Ich huste bellend. Schnell habe ich mich und das Lenkrad wieder im Griff, antworte: »Das versteht man bei euch unter unehrenhaft entlassen. Nein, Junge, die wollten mich töten. Warte kurz …«
Ich bremse und steige aus dem Lieferwagen. Die Scheinwerfer lassen meinen Atem sichtbar werden. Erst greife ich in meine Hosentaschen, dann taste ich meine Jacke ab.
»Hey!«, schreie ich und kneife die Augen zusammen, als ich direkt in das grelle Licht schaue.
Lukas öffnet die Beifahrertür. »Was ist?«
»Ich brauch den Schlüssel. Der muss in der Ablage der Mittelkonsole liegen.«
Kurze Pause. »Ja!« Er steigt aus und wirft mir den Schlüssel zu. Mit beiden Händen fange ich ihn auf und öffne damit das Schloss. »Betreten strengstens Verboten! Gefahrenzone« steht auf dem am Maschendrahtzaun angebrachten Schild. Die Schwingtüren quietschen, lassen sich aber leicht aufschieben.
»Weiter geht's«, sage ich, als ich wieder in den Innenraum steige.
»Warum ist der dunkle Teich eigentlich so weit weg von der Produktionshalle?«
»Das wirst du schon noch mitkriegen«, sage ich und starte den Motor.
Aus dem Augenwinkel heraus, sehe ich, wie Lukas etwas aus der Tasche nestelt. Er zieht einen Streifen aus der Verpackung, entfernt das Alupapier und steckt ihn sich in den Mund.
»Muss das sein?«
»Was?«, fragt er laut schmatzend.
»Dass du dich jetzt zudröhnst. Das ist keine leichte Arbeit. Vorhin hatten wir noch den Gabelstapler, jetzt müssen wir die Fässer auf den Sackkarren hieven und durch den Wald ziehen.«
»Das kriege ich schon noch hin. Ich weiß, was ich vertrage. Nimm auch einen, wenn du willst.«
»Ich fresse das Zeug nicht.«
»Verarsch mich!«, plärrt er. »Du arbeitest in der Modern-Kautschuk-Produktion und konsumierst nicht?«
»Ich habe genug Scheiße gebaut, da müssen Drogen nicht auch noch sein.«
»Wir sprechen nicht von irgendwelchen Drogen. Das ist die Droge, Mann! Keine Nebenwirkungen, kein Runterkommen. Die wird alles verändern.«
»Eben das macht mir Angst. Wenn ich die Droge nicht mit herstellen würde, dann würde ich wahrscheinlich gegen sie kämpfen.«
»Probier doch wenigstens mal. Diese Anti-Alles-Atitüde hat noch keinen weitergebracht.«
»Aufdringlichkeit auch nicht.«
»Auch gut. Warum bist du eigentlich hier? Auf lang oder kurz killt dich dieser Job, das weißt du?«
»Klar. Vielleicht gerade deshalb. Warum du?«
»Ich mach bald mein eigenes Ding. Ich habe schon die Stanzautomaten gerüstet und bedient, hab im Labor das Sekret gefiltert, in die Formen gegossen und so weiter. Auf jeden Fall, weiß ich, wie alles funktioniert. Und das mit dem Ernten habe ich dann auch raus.«
Ich will ihm die Illusion nicht rauben, also erwidere ich nichts. Natürlich ist das Schwachsinn. Selbst wenn er über das nötige Know-how verfügt, fehlen ihn immer noch die nötigen Maschinen. Er müsste die Bugs mit dem Mörser bearbeiten. Damit würde er nur einen Bruchteil dessen erwirtschaften, was der Boss ihm zahlt.
»Dann pass gut auf. In jeden Fall musst du das nächste Mal allein ran«, sage ich und gehe leicht auf die Bremse, sodass ich genau über dem aus Balken geformten X zum Stehen komme.
Sofort reißt er die Tür auf und stöhnt erst mal auf. »Scheiße!« Hastig setzt er seinen Mundschutz auf, der mit einer Lasche um seinen Hals befestigt ist. »Was ist das denn? Kannst du mich nicht vorwarnen?«
»Du wolltest doch wissen, warum der dunkle Teich so weit entfernt liegt, jetzt weißt du es.«
»Das ist einfach widerlich.« Eine tiefe Falte trennt seine Augenbrauen. Er setzt zu einer Frage an, lässt es aber doch bleiben.
»Der Grund für den Standpunkt ist, dass diese Stelle am weitesten von irgendwelchen Wanderwegen oder dem Waldrand entfernt liegt. So schöpfen keine Wanderer Verdacht.«
»Wo ist dein Mundschutz?«
Ich winke ab. »Hey, man gewöhnt sich an alles.«
Zuerst löse ich die Sicherheitsgurte und zerre die Fässer nach vorn, wo Lukas sie über die Kante auf den Waldweg gleiten lässt und zur Seite rückt.
»Wieso wollten sie dich eigentlich töten, damals beim Militär?«, fragt er, als ich das fünfte Fass anliefere.
»Nun ja«, ich halte kurz inne und Flashbacks, von etlichen Alpträumen verzerrt, kommen in mir hoch. »Ich habe einen meiner Kameraden das Gesicht aufgeschlitzt.«
»Ach ja, warum?«
»Konzentrier dich besser auf die Arbeit. Wir kriegen bloß Probleme, wenn wir zu spät kommen.«
»Komm schon«, sagt er und greift nach dem Fass, »das jetzt nicht zu erzählen, grenzt an Folter, echt.«
Das nächste Fass stoße ich gleich über die Kante, sodass Lukas sich mit aller Kraft dagegenstämmen muss, damit es ihn nicht unter sich begräbt. »Was sollte das jetzt?«, keift er. »Ich hab doch nichts falsch gemacht.«
»Doch, du redest zu viel und stellst die falschen Fragen.«
»Aber …« Diesmal werfe ich ihm das Fass regelrecht zu. »Hey! Willst du mich umbringen?«
Die Sympathie, die sich kurzzeitig bei mir entwickelt hat, schmilzt dahin wie ein Eiswürfel in der Mikrowelle. Dieser Quälgeist will unbedingt alte Wunden aufreißen. Ich habe die Geschichte erst einem Menschen anvertraut, und dieser liegt auf dem Friedhof Berkersheim. Das Letzte stellte ich wieder besänftigt an der Kante ab.
»Wieso Deutschland?«
»Du lässt nicht locker, was? Wieso interessiert dich das überhaupt?«
»Wir schleppen hier Massengräber mit uns rum. Das ist 'ne echt frustrierende Arbeit, da kann man doch wenigstens etwas Konversation machen, um sich abzulenken.«
Lukas schiebt den Sackkarren vor sich her und ich trage die Kiste mit der Pumpanlage. So gehen wir den schmalen Waldweg entlang. Äste streichen mir über Jacke und Gesicht.
Wie so oft denke ich an meine damals schwangere Frau und an Katica, die jetzt neun oder vielleicht schon zehn sein muss, und an den Tag, der alles in eine Lüge verwandelte, die Lüge, ich hätte keine Wahl gehabt. Für die Jungs war ich ein izdajnik, ein Verräter und verdiente den Tod. Ich musste sofort verschwinden, wenn ich am Leben bleiben wollte. Das redete ich mir zumindest ein. Hätte ich versucht, meine Familie mitzunehmen, hätten sie uns alle umgebracht. Ja, so wäre es gekommen, habe ich mir damals Nacht für Nacht eingeredet. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Der Zweifel, nicht alles in meiner Macht Stehende getan zu haben, ist schlimmer als tot zu sein, erschossen von den eigenen Leuten wie ein nutzloser Köter.
»Hab’s mir irgendwie größer vorgestellt.«
Die Worte katapultieren mich zurück in die stinkende und dreckige Realität. Vor uns liegt die Lichtung. Die beiden Teiche liegen da wie zwei offene Gräber. Die schwarze Bugmasse glänzt im Licht der Sterne. Die Nacht ist klar; es fällt kein Schnee.
Ich greife mir die Latexhandschuhe aus der Kiste, streife sie über und werfe das andere Paar Lukas zu. »Uns reicht das völlig. Die Teiche sind nicht groß, dafür aber sehr tief. Du wirst sehen, die reichen, um alle Fässer voll zu machen.«
»Wenn du das sagst.«
»Komm, pack mit an.« Ich öffne die Schnellverschlüsse und hebe den Deckel an. Das ist der Moment, in dem selbst ich mich zusammenreißen muss. Der Gestank ist so infernalisch, es kommt mir vor, als würden meine Haare gleich in Flammen aufgehen. »Hilf mir! Wir kippen es nur um und … gut!«
Das platschende Geräusch ist scheinbar zu viel für Lukas, der sich gekrümmt abwendet.
»Ich hab dich gewarnt. Nimm besser den Mundschutz ab, falls du kotzen musst.«
»Geht schon«, sagt er gequält. »Scheiße, ist das eklig.«
»Hast du gesehen? Die untere Schicht war voll von Bugs. Man lässt beim Abpumpen immer einen Rest übrig, der sich dann wieder vermehren kann. Die schleimigen Überreste ihrer Artgenossen sind die perfekte Nahrungsgrundlage und eine gute Brutstätte.«
»Diese Mistviecher, verfluchte Kannibalen«, schimpft er immer noch angeschlagen. »Ich wünschte, ich hätte gar nichts gesehen.«
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Kopf hoch! Sind ja nur noch ein paar Ladungen.«
»Sehr witzig.«
Die Grube läuft bereits über. Es ist nur ein Gefühl, aber sie scheinen sich von Tag zu Tag schneller zu vermehren. Unter jedem meiner Schritte knacken die Schutzpanzer der Bugs. Eines der Biester schwirrt auf mich zu und streift meine Wange. Mit einem Handschlag wische ich es weg. Verdammte Kacke! Nun setze auch ich meinen Mundschutz auf. Mit dem Schlauch in der Hand stehe ich direkt vor der wogenden Masse.
Meine Stimme klingt durch den Vliesstoff gedämpft, als ich sage: »Du kannst jetzt die Pumpe anschalten, dann stoße ich den Rüssel rein.«
Da stehe ich, wartend auf das Klicken und anschließende Dröhnen des Kompressors. Nichts. Es bleibt still, gefährlich still.
Sein spöttisches Grinsen schwebt vor mir in der Dunkelheit, als er den Namen ausspricht. »Draŝko.«
Ich berühre die vier Zentimeter lange Narbe auf meiner Brust. Jedes einzelne Wort, das ich Draŝko damals entgegenbrüllte, als ich ihn aufschlitzte, stanzt sich in mein Gedächtnis. Wenn ich diese Narbe als Sühne tragen muss, verdienst du tausend Narben!
»Er hat dich geschickt?«, entgegne ich gewollt lässig und drehe mich zu ihm um.
»Nicht!«, schreit er noch. »Okay, gut, dann nimm wenigstens die Hände hinter den Kopf.«
Ich tue, was er sagt. Die Pistole wackelt in seinem Griff, was meine Chancen erhöht. Wenn ich daran denke, dass dies schon der dritte Lauf ist, in den ich schaue, muss ich fast lachen. Die beiden Männer, ein kroatischer Soldat und ein des Frankfurter Untergrunds entsprungener Gangster, hatten es damals nicht fertig gebracht, mich umzulegen. Was jedoch gegen mein Leben spricht, ist die Tatsache, dass er immer noch unter Drogen steht. Man hat mir beigebracht, Blick und Körpersprache meines Gegenübers zu analysieren, aber es ist zu finster, um etwas zu erkennen. Also versuche ich, die diplomatische Schiene zu fahren.
»Egal, was er dir für meinen Tod verspricht. Ich kann dir mehr bieten. Außerdem ist Draŝko kein Mann, der Wort hält.«
»Draŝko war der letzte Dreck. Davon brauchst du mich nicht zu überzeugen. Trotzdem war er wie ein Vater für mich.« Warum spricht er von ihm in der Vergangenheitsform? Er öffnet den Reißverschluss an der Vorderseite seines Schutzanzuges. Darunter kommt nackte Haut zum Vorschein und ein weißer Wurm, der sich über seine Brust bis runter zum Bauchnabel schlängelt. »Wir sind so etwas wie Brüder, Slo.«
»Hat er dir das angetan?«
»Ja, er hat mir dieses Kainsmal auferlegt. Vor seinem Tod – die Drogen haben ihn gefressen – musste ich ihm versprechen, dich aufzuspüren. Die Narbe soll mir stets zeigen, wie bedeutsam mein Auftrag ist. Auch wenn ich ihn ebenso hasse wie du, versprochen ist versprochen und Vergeltung bleibt Vergeltung.«
»Okay. Lass mich noch ...« Ein Räuspern. Mein Rachen fühlt sich rau an, als hätte sich dort Schorf gebildet. »... beten«, bringe ich heraus.
Ich glaube zu sehen, wie er leicht den Kopf schüttelt. »Ich falle doch nicht auf den Jesus-Trick rein.«
Ein glühender Dolch schießt durch meine Bauchdecke und reißt mich zurück. Einen Moment hänge ich in der Luft zwischen Zeit und Ewigkeit, höre noch den Nachhall des Schusses. Dann pralle ich auf die Oberfläche des Teichs. Sofort streckt dieser Organismus seine Fühler nach mir aus, beginnt mich zu umschließen. Ich spüre Schmerz und gleichzeitig Ekel, als ich merke, wie mir ein Bug ins Ohr kriecht. Aber ich zwinge mich zur Ruhe. Das Rattern der Pumpe sickert in mein Bewusstsein. Will er tatsächlich die Arbeit zu Ende bringen? Das ist doch durchgeknallt! Wie in Erwartung ihres drohenden Schicksals bewegen sich die Bugs und deren Larven schneller. Es vibriert regelrecht.
Das ist kein Gekrabbel, schießt es mir durch den Kopf. Ein fester Druck ist an meiner Wade zu spüren. Den Widerstand durchbrechend schnelle ich vor, greife nach der Druckstelle. Er rüttelt, zieht und schreit. Ich habe sein Handgelenk zu packen bekommen, als er den Absaugschlauch in die Käfermasse stecken wollte, und jetzt lasse ich ihn nicht mehr los.
»Ich wollte nicht, ehrlich!«
Ich ziehe und er klatscht neben mir auf, windet sich und zuckt. Wie an einer Boje ziehe ich mich an ihm hoch, stütze mich ab, drücke ihn nach unten, bis ich ein Knie auf seinen Rücken schieben kann, und hechte aus der Grube.
Mit beiden Händen auf die Eintrittswunde gepresst, schwanke ich los. Die Schreie und Flüche klingen weit entfernt wie die eines Ertrinkenden auf offenem Meer. Scheiß auf Modern Kautschuk, denke ich, ungestrecktes Adrenalin ist die wirkungsvollste Droge. Sie trägt mich auch bis zum ersten Baum am Rande der Lichtung. Zum Glück hat die Kugel meine Wirbelsäule verfehlt. Schwankend hangle ich mich von Stamm zu Stamm, zähle die Abstände, sporne mich weiter an, indem ich mir sage: Noch einen und noch einen. Komm schon! Einer geht noch …
Plötzlich ist da keine Rinde mehr und ich rechne schon damit, umzufallen, da bekomme ich den reifbenetzten Lack zu fassen. Ich stütze mich auf der Motorhaube ab, verschnaufe. Dann gehe ich zur Tür, reiße sie auf und lasse mich auf den Sitz fallen. Im Licht der Innenbeleuchtung sehe ich das hellrote Blut an meinen Händen und den dunklen Fleck in meinem Schoß. Die Ohnmacht winkt mich wie eine Hure zu sich. Komm mit auf mein Zimmer, Hübscher, ich zeige dir Sachen, von denen du schon lange träumst. Nein! Ich will nicht träumen. Ich rapple mich auf und greife nach dem Schlüssel im Zündschloss. Mist! Keiner da. Hastig taste ich sämtliche Taschen ab. Vergebens. Lukas muss sie an sich genommen haben. Mein letzter Gedanke gilt dem Wagen, der vermutlich bald losgeschickt wird, um zu sehen, was bei uns los ist. Ich versuche noch, das Portmonee aus meiner Gesäßtasche zu holen, in dem ein Passfoto meiner damals schwangeren Frau steckt, schaffe es jedoch nicht. Ich frage mich, ob sie überhaupt noch lebt, oder schon so tot ist wie Draŝko. Die Prostituierte schließt die Tür hinter uns.
Es ist Todestag wie jeden Tag. Es ist heiß, die Sonne fixiert mich wie ein zorniges Auge und doch fällt Schnee. Es dauert einen Moment, bis der Schmerz in meiner Brust anschwillt, Erinnerungen wach werden und mir klar wird, dass es Asche regnet. Ein herumfliegendes Karosserieteil muss mich erwischt haben. Ich schaue in die Runde und sehe Draŝkos hämisches Grinsen. Die Schmerzen bekommen eine Nebenrolle zugeteilt und machen dem Zorn Platz. Ich will aufspringen, aber mein Körper gehorcht nicht.
»Du Kindermörder!«, schreie ich. »Dafür wirst du ewig bezahlen, du gehst in die Hölle!«
»Nein, ich nicht«, sagt er gelassen und macht einen Schritt auf mich zu. »Bei dir mache ich mir da größere Sorgen. Wer hat denn den Sprengsatz installiert.«
»Du Hurensohn! Ich hänge dich an dem nächstbesten Baum auf!«
»Das glaube ich nicht.«
Ächzend und schreiend versuche ich mich aufzurichten, doch meine Leute rammen mich wieder zu Boden. Sie halten mich fest. Draŝko beugt sich zu mir hinab und flüstert: »Hast du geglaubt, es würden keine Kinder sterben? Natürlich sterben Kinder.« Das sagt er in einem merkwürdigen Singsang, bei dem mir übel wird. »Wir müssen das Problem bei der Wurzel packen. Da darf man keinen Unterschied zwischen jung und alt, zwischen Frau und Mann machen. Es sind Kroaten. Auch das kleine Mädchen war Kroatin. Es ist gut, dass sie tot ist.« Er streckt seine Hand nach mir aus, hält dann doch inne, als ich die Zähne fletsche und sagt: »Du hast das Richtige getan.«