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Monster!!!
„Gute Nacht, Roman“, sagte Romans Vater. Roman hebt seine kleine Hand und erwidert den Gruß. Dann holt er tief Luft: Das allabendliche Martyrium würde wieder einmal beginnen. Er legt seine rechte Hand auf die Türklinke seines Kinderzimmers und lehnt vorsichtig den Kopf an die Tür, die Augen fest geschlossen und den Atem fest anhaltend. Er hört nichts von drinnen. Rasch reißt er die Tür auf, und seine Hand fährt in das Zimmer, die Wand von links unten nach links oben tastend, dorthin, wo sich eigentlich der Lichtschalter befinden sollte. Einmal verfehlt er ihn, und Roman glaubt schon, dass es aus mit ihm ist. Doch dann treffen seine Finger doch noch den Lichtschalter, und fast augenblicklich verdrängt ein gleißendes Licht die Dunkelheit. Roman atmet auf – der erste Schritt war vollbracht. Vorsichtig sieht er sich um. Offenbar waren die Monster noch nicht gekommen. Aber der gefährliche Teil seines allabendlichen Rituals würde ja noch kommen.
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Roman steht ruhig auf seinem Bett. Alle Vorbereitungen waren getroffen, aber sicherheitshalber überprüft er noch einmal alles. Ärgerlich denkt er an seinen großen Bruder Michael, der, wenn er da gewesen wäre, die Ungeheuer schon vertrieben hätte. Aber er würde wahrscheinlich erst lange nach Mitternacht kommen. Wozu waren große Brüder eigentlich da?
Gott sei Dank hatte ihm Michael die drei Regeln des Überlebens beigebracht. Die Ungeheuer waren zwar Geschöpfe des Chaos, doch selbst sie mussten sich an die Regeln halten, die große Brüder weltweit zum Schutze ihrer kleineren Brüder aufstellten - so hatte ihm Michael das einmal erklärt. Deshalb kam Michael immer so spät nach Hause: Er trifft sich mit anderen größeren Brüdern auf Konferenzen, um mit ihnen gemeinsame Strategien gegen die Monster der Nacht zu überlegen. Denn diese Wesen unter dem Bett sind ziemlich raffiniert.
Michaels erste Regel war, dass die Wesen Roman nicht bei Licht angreifen konnten. Licht würde sie verbrennen! Die zweite war, dass sie Roman nicht unter der Decke hervorholen konnten. Michael hatte erklärt, dass diese Decke mit einem besonderen Schutzzauber behaftet ist und sie von Generation zur Generation innerhalb der Familie weitergereicht wird. Die dritte und wichtigste Regel lautete, dass, wenn Roman die Ungeheuer nicht sah, sie auch gar nicht existieren konnten.
Und so steht Roman, genau wie gestern und den Abend davor, eingewickelt in einer Decke auf seinem Bett, die Augen so fest geschlossen, dass es fast schon weh tut, und den Atem fest anhaltend. Wieder einmal versucht er, mit seinen tastenden Fingern den Lichtschalter zu finden. Als er merkt, dass das Licht ausgeht, lässt er sich wie ein Stein auf das Bett fallen. Er verbeißt sich den Schmerz, als sein Knie auf einem harten Knopf auftrifft (wie auch gestern und den Abend zuvor) und schließt die Augen noch fester. Wie ein blinder Maulwurf sich seine Gänge durch die schwerfällige Erde gräbt, so wühlt auch Roman sich noch tiefer in die Decke ein, wo er sich nachher die Stelle an seinem Knie massieren wird.
Heute hat er es wohl wieder mal geschafft.
THE END