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Morgen-Grauen
„Melle! Aufstehen!“ Die Stimme meiner Mutter. Seitdem sie diesen dämlichen Kurs zur Stimmbildung mitgemacht hatte, war es unmöglich sie zu ignorieren. „Verschaffen Sie sich Gehör!“ Klasse. Die Pastorin hatte den Kurs geleitet, eine kleine, rundliche Person. Auch bei mir hatte sie ihre Methoden versucht, war aber kläglich gescheitert.
Ein Blick auf den Wecker sagte mir, dass es 3:00 Uhr war.
Auf dem Weg ins Bad stolperte ich über den Plastikbagger meines kleinen Bruders. Genervt hob ich das Ding auf und warf es in eine Ecke. Vom Badezimmerspiegel aus grinste mich ein missratener Sponge Bob aus Window Colour an. Einmal war ich der Versuchung erlegen und hatte versucht ihn mit den Fingernägeln abzukratzen, aber der Kerl war hartnäckiger als ich dachte.
In der offenen Haustür standen die Koffer, mein Vater musste sie noch einladen, nicht das wir wieder ohne Gepäck losfuhren. Nach Italien: Sommer, Sonne und Meer. Und davor eine endlose Autokolonne die sich über die Straßen wälzte.
Leon saß, noch im Schlafanzug, am Frühstückstisch. Die rotblonden Haare waren total verwuschelt und er blickte mir aus verheulten Augen entgegen. In den Händen hielt er seinen Bagger. Die Schaufel war abgebrochen.
„Du Arschlöchin!“ Wütend sah er mich an, und verschwand stampfend aus dem Raum, als er sah, dass ich grinsen musste. Ein fünf Jahre alter Feminist mit Rotznase.
In dem Moment kam meine Mutter von draußen rein, sie hatte den Hausschlüssel zu den Nachbarn gebracht.
„Guten Morgen, keine Zeit mehr was zu essen, wir wollen los.“
Sie sah schrecklich müde aus, so wie sie da stand, und mir fiel auf, dass sie ganz schön dünn geworden war. Der Urlaub würde ihr gut tun, nach dem ganzen Stress mit der Arbeit. Sie hatte viel zu tun, als Redaktorin eines Magazines.
Mein Vater kam aus dem Wohnzimmer gestiefelt, Leon, immer noch im Schlafanzug, unter den Arm geklemmt.
Wir stiegen ins Auto und fuhren los. Meine Mutter saß am Steuer und schwieg. Mein Vater saß daneben und schwieg auch, das zerknitterte Jackett auf den Knien. Und Leon war wieder eingeschlafen.
Ich sah aus dem Fenster. Noch waren mir die Straßen vertraut. Ich dachte an meine Freunde, und was sie machen würden, in der Zeit, während der ich weg war.
Furchtbar zwanghaft, aber ich hatte immer das Gefühl etwas zu verpassen.
Es waren kaum Autos unterwegs, das frühe Aufstehen hatte sich gelohnt. Ich fing an, alle roten Fahrzeuge zu zählen. Und dann alle blauen. Und meine Augen wurden immer kleiner und kleiner…
Dann geschah alles im Bruchteil von Sekunden, obwohl es in meinem Kopf wie in Zeitlupe ablief und ich mich selbst sehen konnte, als wäre ich nur eine Zuschauerin.
Ein widerlich knirschendes Geräusch ertönte als unser Kombi mit der Seite gegen die Leitplanke drückte. Nur für einen winzigen Augenblick, aber es genügte, um den Wagen zum Schlingern zu bringen.
Völlig ungerührt registrierte ich, dass ich auf einmal die Gegenspur vor mir sehen konnte, das Auto rutschte jetzt senkrecht zur Leitplanke weiter. Und dass mein kleiner Bruder immer noch zu schlafen schien.
Meine Mutter riss das Lenkrad herum, und versuchte jetzt den Wagen in Richtung Haltestreifen zu bugsieren. Wir hatten es auch fast geschafft, nur noch der hintere Teil des Autos befand sich auf der Fahrbahn, als wir gerammt wurden. Von einem schwarzen PKW. Wenn ich später an jenen Moment dachte, konnte ich den Wagen ganz deutlich sehen. Es muss ein Golf gewesen sein. Doch die Analyse der Automarke interessierte mich herzlich wenig. Auch, dass der Fahrer nicht anhielt, beschäftigte mich zunächst nicht weiter. Ich hatte nur einen übermächtigen, alles andere verdrängenden Gedanken.
Leon!
Einige Gepäckstücke waren von dem Aufprall nach vorne gerutscht. Sein kleiner Kopf war von einem der Koffer nach vorne gedrückt worden. Seltsam verdreht. Falsch. Sein Hals. Blut. Ein kleines Rinnsal aus dem linken Ohr.
Mein Hals war zugeschnürt, mit zitternden Fingern schnallte ich mich ab und versuchte vorsichtig den Koffer anzuheben. Es ging nicht. „Leo?“
Meine Stimme war heiser, klang fremd. Meine Eltern waren ausgestiegen und um den Wagen herumgerannt. Sie versuchten die Tür zu öffnen, doch sie war vollkommen verbeult. Ich starrte in ihre Gesichter, weiß wie Wachs, mit weit aufgerissenen Augen.
Mein Vater fingerte nach seinem Handy, rief den Notarzt und die Polizei. Keine Menschenseele auf der Straße. Leons kleine schlaffe Hand lag auf dem Sitz neben ihm. Ich griff nach ihr und hielt sie fest.
Ich hielt sie fest bis der Notarzt kam. Dann räumte ich das Feld. Denn sie würden ihn ja retten. Sie würden ihn da rausholen. Er würde ins Krankenhaus kommen, und hinterher würden wir unseren Urlaub nachholen. In Italien. Aber wir würden bestimmt mit dem Zug hinfahren.
Zwei Polizisten schafften es, die Tür zu öffnen. Sie räumten die Koffer weg, und Leon wurde aus dem Auto geholt. Auf eine Trage gelegt. Und dann deckten sie ihn zu.
Ich wollte noch sagen, dass sie doch den Kopf frei lassen sollten.
Aber dann dachte ich mir, dass er ja immer so gern eine Höhle aus seiner Decke baut. Leon der Löwe in seiner Höhle. Und er hatte ja auch seinen Löwenschlafanzug an.
Meine Eltern standen reglos neben dem kaputten Auto. Ich lächelte sie etwas hilflos an und sagte: „Na, das ist wohl n Totalschaden, den können wir vergessen.“
Meine Mutter fing an zu weinen. Ich verstand nicht warum.
Zwei Ärzte trugen meinen kleinen Bruder weg.